Ich muss mal etwas provozieren und das Auffällige überbetonen, vielleicht überzeichnen, um klarzumachen, was ich meine, und hoffe es fühlt sich niemand persönlich angesprochen, obwohl es inzwischen schätzungsweise 2/3 der User betrifft, von denen viele neu sind.

Seit über 2 Jahren zeichnet sich hier – aber auch in der Gesellschaft und Politik – ein verbaler Ersatzklassenkampf von rechts ab mit dem Ziel, durch populistische Argumente den Hass gegen alles "Fremde", Nichtdeutsche zu schüren. Wer dagegen argumentiert, dem wird im schlimmsten Fall, mehrmals auch mir, vorgeworfen, ein "Deutschenhasser" zu sein. Das ist insoweit komisch, weil es bedeuten würde, dass ich mich als Biodeutscher dann ja auch hassen müsste, obwohl ich mich liebe. :D  Man wollte wohl eher Antideutscher sagen oder meinen, aber damit hätte mir dann ja Israelfreundlichkeit unterstellen müssen. Und die Begriffe Vaterlands- und Volksfahrräder sind inzwischen selbst für Rechte etwas aus der Mode gekommen, es will sich ja keiner als Ewiggestriger outen, zumal dieser Begriff heute für die Kritiker einer anderen Kultur reserviert ist, etwa für die Regimegegner in Russland und in der Türkei, deren Fürsprecher gerade die Linken dort sind.

Wir leben in einer Zeit, in der typisch nationale Probleme wieder einmal globale Probleme, die auch hier bei uns wesentlich schwerer wiegen als die angeblich nationalen, überlagern, wahrscheinlich, weil wir wissen oder zumindest ahnen, dass eine Lösung globaler Probleme viel mehr von uns verlangt als eine nationale Lösung, da sie einen erheblichen Umbau unserer Lebensweise verlangen würde.

Es soll in der Diskussion gezeigt werden, dass die (angeblich oder tatsächlich, auch das muss noch untersucht werden) nationalen Probleme nicht gelöst werden können, solange sie als national gesehen werden und vor allem nicht verstanden wird, dass es sich hierbei lediglich um Symptome handelt, um Folgen der ungelösten und immer prekärer werdenden globalen Probleme.

Die globalen Probleme sind (in absteigender Reihenfolge) bekanntlich:

  • Die seit 2 Jahrhunderten (Marx!) ungelöste ökonomische Gerechtigkeits- und Verteilungsfrage mit der immer noch weiter sich öffnenden Schere zwischen Arm und Reich, was dazu geführt hat, dass das reichste Prozent mehr als die Hälfte des gesamten Weltvermögens als privates Eigentum besitzt, also die Problematik des Spätkapitalismus
  • Der selbst verursachte Klimawandel mit Folgen, die erst mit einem halben Jahrhundert Verzögerung richtig sichtbar werden dürften und die meisten der nicht ganz Jungen nicht jucken, weil sie es nicht mehr selbst miterleben werden
  • Als Folge von Punkt 1 die noch nicht gelöste Bevölkerungsexplosion in der "Dritten Welt", besonders in Afrika und Südostasien (Indonesien, Philippinen, Vietnam, Kambodscha etc.)
  • Ersatzkriege, von denen einige das Potenzial für einen echten Weltkrieg haben, weil dabei Ideologie und Interessenszonen der Mächtigen direkt berührt sind, Stichwort Iran. Aber auch "Cyber wars" können gefährlich werden.

Dann noch ein Punkt, der für diese Diskussion der Interessanteste sein könnte, weil er die Schnittstelle zwischen globalen und nationalen Problemen markiert:

  • Die Gefährdung der Demokratie von innen durch rechtspopulistische politische Machtübernahme von Trump und Erdogan im Großen bis zur FPÖ im Kleinen. In den meisten Ländern wurde und wird der rechtspopulistische Flügel noch von der "Machtergreifung" fern gehalten (Niederlande, Frankreich, Deutschland, Österreich (?)), aber bereits in Zentral- und Osteuropa (Polen, Ungarn, Rumänien, Slowakei, demnächst wohl auch Tschechien und Österreich) sitzen sie schon an den Schalthebeln der Macht, und in jenen Ländern, wo sie "noch klein gehalten" werden, betreibt die Regierung zunehmend reine rechtspopulistische Politik, auch die Bundesregierung, besonders aber die Landesregierungen in Ostdeutschland.


Diesem Trend hat die Linke – die Linke? Wer ist das? – bisher rein gar nichts entgegen zu setzen. Er wird sich also wohl weiter verstärken. Und die interaktiven Medien (Facebook, Twitter, Politforen, auch dieses) spielen dabei eine entscheidende Rolle, in der Gruppendynamik wirkt und in der sie als Meinungsmacher und Multiplikatoren für die Verbreitung rechter Ideologien sorgen.

Kommen wir zu den nationalen Problemen, und da scheint es nur ganze zwei oder sagen wir anderthalb zu geben:

  • Problem Flüchtling und Migration; dieser Punkt scheint inzwischen, je weniger tatsächliche Flüchtlinge kommen, immer weitere Teile der Bevölkerung und der Politik zu infizieren und inzwischen 80% der gesamten (Gesellschafts-) Politik auszumachen. Hierzu gehört auch Terrorismusgefahr und Terrorismusangst.
  • Infrastrukturelle Probleme (nicht mehr zeitgemäßes Bildungssystem, marode Infrastruktur von kaputten Straßen und Brücken bis hin zum Kupferkabel-Internet, explodierende Kosten im Gesundheitswesen, Stichwort "Überwachungsstaat", Altersarmut, latente Gefahr des Zusammenbruchs der Sozialkassen bei fortschreitender Automatisierung der Wirtschaft; dies wird aber erst in der Zukunft zu einem echten Problem.

Das wahre Problem wird dadurch natürlich verschleiert, nämlich die Unterwanderung der Demokratie durch zunehmend demokratiefeindliche Einstellungen auch bei der "Durchschnittsbevölkerung", die sich, jetzt bewusst radikalisiert formuliert, so zusammenfassen lässt: "Unser einziges wirkliches Problem ist die zunehmende Überfremdung. Und die hängt nicht einmal direkt mit den Migranten zusammen, sondern mit der Kultur, die sie importieren, nämlich die radikalisierte Form von Islam. Islam und Abendland vertragen sich nicht, Islam ist uns kulturfremd und unterhöhlt unsere Kultur. Die andere Kultur ist inkompatibel mit unserer eigenen. Am besten wäre es, diese Leute wieder rauszuschmeißen, was aber aus diversen Gründen nicht geht, zumal viele bereits deutsche Staatsbürger sind. Man sollte aber die Luken dichtmachen und keine weiteren Muslime mehr reinlassen." Es ist also der klassische, allerdings modernisierte Huntington-Ansatz der "Clash of civilizations" ("Kampf der Kulturen") auf eigenem Territorium.

Gehen wir mal ins ganz Kleine und schauen uns unser eigenes Polit-Forum mal an. Die großen Themen der letzten Jahre lassen sich in zwei Großgruppen zusammenfassen: Kriege/Kriegsgefahr (von Syrien über Iran, Ukraine bis hin zu Russland) und das Riesenthema "Migranten". Hier gab es bisher "nur" 4 Hauptthemen:

  • Asylgesetzgebung
  • Migrantengewalt
  • Islamistischer Terrorismus
  • AfD (als Reaktion)

Letzter Punkt gehört dazu, denn ohne Migranten gäbe es wohl keine AfD und auch keine Pegida.

Da aber die Asylgesetzgebung bis zum Anschlag in zahlreichen Stufen verschärft worden ist und inzwischen das rechtsstaatlich Zulässige bereits überschreitet (gewaltsame Abwehr von Flüchtlingen vor der libyschen Küste, Abschiebungen in das Kriegsland Afghanistan, Versuch der Installation einer Obergrenze), kommen ganz langsam die ersten 3 Punkte gegen "Normalmaß" zurück, das heißt es wird nicht mehr so häufig, so erhitzt und so hysterisch in diesen 3 Threads debattiert wie noch vor einem Jahr, dafür ist das Thema AfD ein Dauerbrenner.

Stattdessen machen sich Ersatzdiskussionen breit, die nur einen kleinen Ausschnitt der Migrantenthematik behandeln; genau in diesen wird – man möchte fast sagen um Mohammeds Bart – genauso hysterisch gestritten, als ginge es um Wohl oder Untergang des Abendlands – wie 2010 ff. zu Sarrazin und 2015 ff. zur Flüchtlingsproblematik und zu Merkels Flüchtlingspolitik, nämlich die Threads

  • Burkaverbot
  • Beschneidung
  • Darf man Deutsche eine Köterrasse nennen?
  • Offizielle Feiertage auch für Muslime in Deutschland einführen?

Hier können die Rechtspopulisten fröhliche Urständ' feiern und man kommt sich als Linker vor wie ein Fremder im eigenen Land. Hat das noch irgendwas mit den eigentlichen Weltproblemen zu tun oder, wenn wir das Spektrum schon auf die Migrantenfrage einengen, mit Integration, oder ist es nur reiner, hasserfüllter, hetzender Kulturchauvinismus? Solche Threads machen mir mehr Angst als die etwas größeren und theoretischeren, die bisher das Forum bestimmten, denn das ist unterste Schublade und im Extremfall rechte Hetze. Da kann man so richtig "die Sau rauslassen" und auch jeder Jude, der ebenfalls die männliche Beschneidung seit Jahrtausenden praktiziert, muss mit Heine klagen: "Denk ich an Deutschland in der Nacht, fühl ich mich um den Schlaf gebracht".

Ich hatte versucht, diese Thematik theoretischer und etwas niveauvoller in mehreren Threads zu diskutieren ("Leitkultur oder westöstlicher Divan?" und "Rassismus"), wobei ich Letzteres bewusst offen gehalten hatte und nicht einmal auf Deutschland eingegrenzt, also nicht "Rassismus in Deutschland" thematisiert habe). Die Reaktion ist bekannt: Unpopuläre Themen, weil man sich dazu geistig anstrengen und die Gegenseite ernst nehmen muss, um die eigenen Argumente durchzukriegen. Bei den 4 letztgenannten Themen (Burkaverbot etc.) muss man auf Theorie keinen Wert legen, da genügen einfache Meinungen wie "Burka passt mir einfach nicht in die Optik", "Die Frau wird vom Mann in die Burka gezwungen." Auch wenn es hierfür keine Belege gibt.

Es wird also sichtbar spätestens seit der letzten "Flüchtlingswelle" ein Ersatz-Klassenkampf geführt, der allen Ernstes versucht, selbst noch die ungerechte Verteilung von Arm und Reich der "Flüchtlingsproblematik" zuzuschreiben. Es gibt da tatsächlich User, die allen Ernstes behaupten, es könnte dem Prekariat (deutsche "Hartzler" und Sozialhilfeempfänger, Armutsrentner) besser gehen, wenn die Flüchtlinge weg wären, weil es dann mehr zu verteilen gäbe. Es ist ein Pseudo-Klassenkampf von ganz rechts, der sich immer tiefer in die bürgerliche Mitte hineinfrisst und der offenbar unstillbar, unbesänftigbar und maßlos ist (Attribute, die Marx einst für das Kapital geprägt hatte) und der selbst jetzt, zu einer Zeit, wo Merkel längst AfD-Politik macht und das Grundgesetz Asylrecht unterminiert, noch längst nicht zufrieden ist und weiter fordert und fordert. Und leider werden die User, die gegen diesen Trend anzugehen versuchen, zahlenmäßig immer geringer; man kann sie hier inzwischen an den Fingern der beiden Hände abzählen.

Hat noch irgendwer Interesse, diesem Rechtstrend etwas entgegen zu setzen, damit wir auch in 20 Jahren noch in einer Demokratie wach werden können am Morgan?

Meine Befürchtung ist ja wieder einmal, dass auch dieses Thema erneut schnell "versacken" wird, weil es so weit und umfassend ist und keiner versteht, worüber überhaupt diskutiert werden soll, dabei ist das Thema doch klar und scharf definiert: rechte Ideologie. Ersatz-Klassenkampf von rechts, denn gerade diejenigen, die um ihren Job fürchten oder gar bereits im Prekariat drin stecken, wählen rechts statt links, wählen also ihren Henker. Denn für die AfD z.B. sind diese Leute nur Ballast, den man "mit durchfüttern muss, schließlich sind wir ein humaner Rechtsstaat."

Und da mMn – wahrscheinlich sehr zum Missfallen der Mods – "der Stammtisch" längst die aktivsten Diskussionen hier führt, ist auch das Niveau entsprechend gesunken. Je lauter, hysterischer und dumpfer "debattiert" wird, umso geringer ist die Gefahr, dass die Ursachen für die Unzufriedenheit ins Blickfeld geraten und thematisiert werden: dass es sich in erster Linie um globale Verteilungsungleichgewichte handelt, die die armen Regionen noch ärmer macht (vor allem Afrika) und dass der Westen, nach wie vor Gewinner in diesem von ihm selbst inszenierten Spiel (obwohl China inzwischen ein meisterlicher Lehrling ist und in Afrika kräftig mitmischt) ursächlich verantwortlich ist für die Kriegs- und Armutsmigration. Wahrscheinlich sind diese Themen hier auch deshalb so heiß, weil jeder ahnt, dass dieses Thema "Migration" auch in Zukunft ein Dauerbrenner sein wird, solange es dem "Drittweltkontinent" Afrika so schlecht geht, aber auch den gesamten islamischen Regionen außer den reichen Ölproduzenten Saudi Arabien und mit Abstrichen Iran.

Man wirft dann zwar das Schlagwort "Fluchtursachen bekämpfen" in den Raum, alle nicken und dann gehts wieder über zur Tagesordnung mit Beschneidung und ein, zwei zusätzlichen islamischen Feiertagen, als ginge es dabei um eine Neukonstruktion der Postmoderne.

Typisch ist eben die Thematik, wie sie sich im Moment – Samstag, 21.10., 13:26 im Politspiegel darbeitet:

Beschneidung erlauben oder verbieten?
schtabea am 21.07.2012, Seite: 1 2 3 4 ... 314 315 316 317
6.268
629 Stimmen vor 7 Minuten »
von Philipp

Offizielle Feiertage auch für Muslime in Deutschland einführen?
araab am 20.10.2017, Seite: 1 2 3 4 5 6
108 vor 13 Minuten »
von Gwyddion

Donald Trump: 45. Präsident der USA
neptuna am 21.08.2015, Seite: 1 2 3 4 ... 931 932 933 934
18.367 vor 40 Minuten »
von Philipp

Migranten-Gewalt - Bald Lichterketten für Deutsche?
against_nwo am 06.03.2007, Seite: 1 2 3 4 ... 939 940 941 942
18.767 vor 44 Minuten »
von Eichhörnchen

Anschlag mit LKW auf Berliner Weihnachtsmarkt
thomas74 am 19.12.2016, Seite: 1 2 3 4 ... 279 280 281 282
5.466 um 12:07 »
von aero

Wie geht es weiter mit der AfD?
Reigam am 28.02.2013, Seite: 1 2 3 4 ... 2365 2366 2367 2368
47.287 um 11:53 »
von Landluft

Russland das Buhland... aber warum?
SethP am 23.08.2014, Seite: 1 2 3 4 ... 2310 2311 2312 2313
45.409 um 11:33 »
von Landluft

Asylgesetzgebung: Muss sie angepasst werden?
Kc am 09.08.2015, Seite: 1 2 3 4 ... 1307 1308 1309 1310
25.541 um 10:10 »
von Optimist

Katalonien auf dem Weg in die Unabhängigkeit?
Chiliast am 12.09.2012, Seite: 1 2 3 4 ... 38 39 40 41
808 um 10:00 »
von EZTerra

Gewinnt der islamistische Terrorismus?
Kc am 15.02.2015, Seite: 1 2 3 4 ... 303 304 305 306
6.002 um 09:23 »
von groucho


7 der 10 aktuell meistdiskutierten Themen behandeln alles rund um den Flüchtling – nur Trump, Russland und Katalonien fallen aus dem Raster. Dabei stehen 2 der 4 nebensächlichsten Migranten- bzw. Islam-Themen (Beschneidung und islamische Feiertage in Deutschland) auch noch ganz oben auf der Liste – der wortwörtliche Streit um Mohammeds Bart. Und beim Thema "Beschneidung" würde ich mich als Jude in Deutschland auch nicht besonders wohl fühlen in meiner Haut und mich fragen: Gehts wieder los? Besonders wenn man Sätze liest wie

Und zur Aufklärung: Man lese einmal, was auf der Webseite des Zentralrats der Juden steht und versuche das mit den Standpunkten der medizinischen Fachgesellschaften in Übereinstimmung zu kriegen. Gleiches gilt zB für türkische Beschneider (Samstag, 11:10)

Aber gemeint sind ja Muslime. Anders als die Juden damals sind sie nicht so leicht integrierbar, verschmelzen rein optisch auch nicht mit der Menge. Aber wir machen die orientalische Beschneidung mal wieder zu einem deutschen Hauptthema. Warum wohl? Ich hatte es bereits beantwortet, wenn auch indirekter, aber darüber soll ja auch hier diskutiert werden: über die Argumentationslinien der rechten Ideologie und ihrer Ideologen.

_____________________



Etwas präziser zur Diskussion:

Warum scheint sich rechte Ideologie – fast schon analog zum Islam bezogen auf die ganze Welt, etwa gegenüber Christentum (es werden ja immer mehr Christen Atheisten) – fast wie ein Flächenbrand durchzusetzen? Und in welcher Beziehung steht sie zur "Islamisierung" der Welt?

Warum hat "die Linke" versagt, indem es ihr nicht nur nicht gelungen ist, einen Klassenkampf zu gestalten oder überhaupt erst denkbar und möglich zu machen, und warum hat sie es sogar zugelassen, dass dieses Thema aus dem öffentlichen Diskurs verschwindet – auch wenn diverse Herren wie Schulz gern von der  Gerechtigkeitsfrage sprechen, ohne auch nur einen Millimeter weiter zu hacken – ganz aus dem öffentlichen Diskurs verschwindet und sich stattdessen "Kulturfragen" zu hochpolitischen hochstilisiert werdend in den absoluten Vordergrund drängen, so weit nach vorn, dass sie alle tatsächlichen Problem ver- und überdecken?

Warum folgen die Leute aus dem Prekariat, aber auch aus der unteren Mittelschicht, die um ihre Position in der Gesellschaft besorgt sind und Angst vor der Zukunft haben, eher den falschen Einflüsterungen der Rechtsparteien, die das Elend der Unterschicht direkt auf die Flüchtlingsfrage beziehen, obwohl es dieses Elend auch vorher schon gab? Warum fällt es ihnen leichter antihuman zu denken ("das Boot ist voll, mehr kann Deutschland nicht verkraften") als revolutionär ("Warum geht es mir so dreckig? Warum schwindet meine Kaufkraft immer mehr, obwohl ich immer noch den gleichen Job hab?").

Warum sind gerade die Rechten im Internet und in den sozialen Medien um ein Vielfaches aktiver als die Linken? Haben die Linken vielleicht das ganze Internet verschlafen? Warum bildet sich plötzlich erstmals in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands eine rechte Intelligenzia heraus, während es mehr als ein halbes Jahrhundert lang genau umgekehrt war? Nicht nur der Geist stand links, sondern auch die Intelligenz. Heute muss ich leider betrübt feststellen, dass viele der Rechten hier im Forum besser Deutsch schreiben und eleganter formulieren und ihren Standpunkt überzeugender vortragen können als die paar verbliebenen Linken, bei denen ich immer mehr Nachgiebigkeit und Ausfaserungen bei der Integrität der Argumentation feststelle. Nur zitieren können sie noch besser, aber dabei handelt es sich eben nur um von anderen geschriebenes Vorformuliertes. Geradeso als wären die paar verbliebenen besseren Journalisten die neuen Schriftgelehrten und als käme aus der Wissenschaft (hier besonders Philosophie, Politologie und Soziologie, einst die Speespitze der Linken) rein gar nichts mehr?  

Da mag es dann schon wie eine auf den Kopf gestellte Realität erscheinen, wenn die Rechte sogar noch scheinbar intensiver für Demokratie kämpft als die Linke. Wer flüchtig liest, muss zu diesem Schluss kommen, werden doch stets die Vorzüge des demokratischen Westens (Aufgeklärtheit, demokratische Werte, Gleichbehandlung der Geschlechter) in den Vordergrund gestellt (und damit implizit alle anderen Kulturen als weniger zureichend hingestellt). Liest man aber etwas genauer zwischen den Zeilen, bemerkt man sehr schnell, dass bei den Rechten offenbar eine andere Form von Demokratie gemeint ist, nämlich eine, die auf den Rechtspopulismus nachgerade zugeschnitten ist, zusammengefasst in dem Credo "Wir sind das Volk."

Dazu schrieb Janko Tietz am letzten Freitag einen schönen Spiegel-Kommentar, wenn auch ganz besonders auf das AfD-Sachsen zugeschnitten:

"Die CDU in Sachsen steckt in der gleichen Falle wie die ÖVP in Österreich oder die CVP in der Schweiz. Je mehr diese beiden Parteien rechte Positionen von FPÖ und SVP übernahmen, je weiter sie sich von ihrer bürgerlichen Mitte entfernten, desto stärker machten sie den rechten Rand.

Die Quittung am Wahltag

Jahrelang setzte die CDU in Sachsen berechtigte Kritik der Bürger an der Politik mit Polemiken gleich - und wertete die Pöbeleien damit auf. "Ich sehe die Ostdeutschen als Seismografen", sagte der künftige Ministerpräsident Kretschmer vor zwei Jahren der "Zeit. "Hier formt sich eine öffentliche Meinung, die sich später oft bundesweit durchsetzt." Man könne der Debatte ein Stück voraus sein, wenn man den Leuten im Osten zuhöre. "Was gestern als Unverschämtheit galt, ist heute Gesetz", sagte er mit Blick auf die Verschärfung des Asylrechts. "Es lohnt sich, der Intuition der Bürger zu vertrauen, sie haben ein gutes Gespür."

Das scheint das Kernproblem in Sachsen zu sein. Viele Bürger dort inszenieren ihr Missfallen an der Politik als legitime Wiederholung der Montagsdemonstrationen von 1989. Viele tun so, als sei die Bundesregierung mit der SED-Diktatur gleichzusetzen - und man müsse nur laut und lange genug marschieren, dann würde man den Umsturz schon noch hinkriegen. Das ist das Selbstverständnis vieler - und Sachsens CDU hat sich allzu oft gemein gemacht mit diesen Positionen.

Die Quittung kam am Wahltag. Aufgabe der Regierung aber ist es, den Sachsen klarzumachen, dass Deutschland auch Deutschland bleiben wird, wenn Menschen einwandern, wenn andere Kulturen das Räuchermännchen-Erzgebirge ergänzen, wenn neben Kretschmer am Klingelschild vielleicht auch häufiger mal der Name Al Sayed steht."


http://www.spiegel.de/politik/deutschland/sachsen-die-cdu-traegt-die-schuld-am-rechten-denken-und-erfolg-der-afd-a-1173749.html

"Wir sind das Volk" – die Rechte strebt vor allem eine direkte Demokratie an: Am besten zu allen wichtigen Entscheidungen vorher "das Volk" befragen. Die Idee stammt noch aus dem alten Griechenland, der ersten Demokratie, die wir historisch kennen. Was verschwiegen wird, ist, dass damit so eine direkte Demokratie funktionieren kann, jeder über den gleichen Informationsstand verfügt, und das ist nur in einer kleinen, relativ unterentwickelten, überschaubaren Gesellschaft möglich, wie das einst die Stadtstaaten Athen und Sparta waren. Heute haben wir es mit einer umfassenden Komplexität zu tun, die niemand auch nur annähernd in allen Einzelheiten und Zusammenhängen mehr versteht. Direkte Demokratie wäre Stammtischdemokratie, in der natürlich zuallererst beschlossen würde, alle Nichtdeutschen wieder zurück zu transportieren in ihre Heimatländer und keine neuen Flüchtlinge mehr aufzunehmen – schließlich können sie sich bei Letzterem auf 56% Zustimmung bei allen befragten Bundesbürgern berufen. Wir bekämen eine Mehrheitsdiktatur.

Und die letzte Frage: Warum gelingt es den Rechten, ihre rechte Ideologie sogar in einem ursprünglich eher linken Forum wie diesem so allumfassend zu verbreiten und die eher Linken mehr und mehr zu verunsichern, obwohl diese immer noch die bessere Argumente haben, sie aber kaum noch ernsthaft anwenden, um die rechte Ideologie in Schach zu halten? Kapitulation im Kleinen hier wie im Großen in der aktuellen Innenpolitik in ganz Europa und den USA?

Ein heikler Punkt, in dem leider auch die Linke versagt, ist die unüberlegte Umkehrung der Werte gegenüber der Rechtsideologie, so dass die Linke häufig gewisse Defizite aus der islamischen Kultur verteidigt, obwohl es sich um eigentlich voraufklärerische "Werte" handelt, wie zB die Beschneidung der weiblichen Genitalien und die Ungleichbehandlung der Geschlechter in islamisch bestimmten Kulturen. Man glaubt auf der linken Seite, wenn man auch in diesen Punkten eine moderne, humanistische Position einnimmt, die bereits von der rechten Ideologie besetzt ist, dass man sich mit der rechten gemein machen und offiziell als islamophob dastünde, so dass man von links diese Gefahrenherde möglichst umschiffen muss; da dies aber der gerade geführte – s.o. – "heiße" Dialog ist, überlässt man dann so das ganze "Ausländerthema" der Rechten und schweigt dazu mehr oder weniger. Oder man macht den Fehler, plötzlich – bezogen auf die Punkte, die den Islam betreffen, antiaufklärerisch zu argumentieren, wie dies einige Grüne tun, und damit die ganze Linke unglaubwürdig da inkonsequent machen. Das ist die Kernproblematik der Linken in dieser Situation, dass sie sich quasi selbst zum Schweigen verurteilt, um nicht in eine "falsche Ecke gestellt" zu werden, und der Rechten die Definitionsmacht überlässt. Aus meiner Sicht muss man den Spieß einfach umdrehen: Die Rechte setzt sich stets nur dann für Gleichberechtigung der Geschlechter und die Rechte der Frau ein, wenn es sich gegen den Islam instrumentalisieren lässt, während keiner weiß, wie sie ihre Frauen zu Hause behandeln. Gut, dass wir nicht in private Küchen und Schlafzimmer anderer hineinblicken können.

Das sarkastische Schlusswort überlasse ich mal Sibylle Berg:

Es braucht Zonen der Ruhe, damit Rechte sich entfalten können und Feuerchen vor Heimen legen und Juden angreifen, dafür müssen wir unbedingt und dringend eintreten, wir müssen den Dialog suchen, die andere Wange hinhalten, denen demokratische Grundrechte zusichernd, die die Demokratie verachten, Trutzburgen schaffen für Hetze, die sich blumengleich entfalten darf und muss. Wir müssen Lichterketten für Verlage mit klar intellektueller rechtsextremistischer Ausrichtung bilden, beten für deren Autoren, die bekennende Faschisten sind.

Und endlich ist da wieder eine Klarheit vorhanden, was früher verwässert und ohne Bedeutung war, gilt wieder was. Es gibt rechts und links.


http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/mit-rechten-reden-unendlich-oede-kolumne-a-1173702.html

Und das allerletzte Schlusswort kommt von @eckhart (aus dem AfD-Thread, Samstag 14:47):
Dagegen gibts was,
das die AfD zum Kotzen bringen könnte :D :
"Nina Horaczek, Sebastian Wiese: Handbuch gegen Vorurteile"
oder auch: "Rolf Gloel: Gegen Rechts argumentieren lernen"

Nur um zwei Beispiele von zunehmend immer mehr zu nennen.
Na, dann besteht ja noch eine winzige Hoffnung…


Welche gesellschaftlichen Probleme könnte die Rechte gerecht lösen?