Der Krieg war vorbei und die gefangenen Soldaten bekamen ihren Entlassungsschein.

Josef stand etwas verloren da. Wie komme ich von Sibierien in meine Heimat? Leben Mutter, Vater und Geschwister noch? Josef konnte sich über die gewonnene Freiheit noch nicht richtig freuen, es kam alles zu schnell. Aber dann beschloß er, mit einigen Kameraden sich auf den Weg nach Deutschland zu machen. Weit und beschwerlich war die Reise und oft nahm sie kein Zug mit. Alles war überfüllt und die Menschen hatten nur ein einziges Ziel: Nach Hause!

Nach Hause ins kleine Dorf, wo jeder jeden kannte, wo es nach Heu und frischer Milch roch und wo er beim letzten Tanz im Schützenhaus ein Mädchen kennengelernt hatte. Oft, in langen kalten Winternächten, hatte er ihr schmales Gesicht, umrahmt von dicken Zöpfen, vor sich gesehen und sich schmerzhaft nach Hause gesehnt.

Nun war er da und es war alles anders. Das Dorf kam ihm fremd und leer vor. Langsam ging er auf dem grasbewachsenen Weg zu seinem Elternhaus, in der Hand seinen kleinen Holzkoffer und über der Schulter den Militärmantel. Als er seine Mutter am alten Kohleherd stehen sah, brach alles aus ihm heraus. Zum ersten mal weinte er wie ein Kind, hemmungslos und laut und die Mutter nahm in in die Arme. Später saß er dann mit seinem Vater bei einem Bier vor dem gemütlichen Kachelofen. Sie redeten nicht viel, das war noch nie üblich in der Familie, aber er wußte, hier war er geborgen, hier war sein Zuhause.

Am nächsten Tag, die Sonne war kaum aufgegangen, begann er das Haus und den großen Garten zu erforschen. Nichts hatte sich verändert, sogar in Vaters Werkstatt lagen die Feilen und Raspeln noch an ihrem alten Platz. Auch den Hühnern und Kaninchen stattete er einen Besuch ab. Langsam begriff Josef, daß nun für ihn das Leben erst anfing.

Nach dem Essen am alten Küchentisch holte er seinen guten Anzug aus dem Schrank und machte sich auf den Weg zum Frisör. Das Dorf war klein und auch der alte Friedrich schnitt immer noch die Haare. Friedrich, der über alle Dorfbewohner Bescheid wußte, witzelte mit Josef rum, er sollte sich doch mal die Anna anschauen. Anna hat sich tüchtig rausgemacht und die Jungs sind ganz verrückt nach ihr. Aber sie schaut keinen an. Wartet wohl auf ihren Märchenprinzen. So brabbelte Friedrich vor sich hin, aber Josefs Herz fing schneller an zu schlagen.

Mit dem guten Anzug und dem neuen Haarschnitt und einer neuen Freiheit, die Josef noch nicht richtig begreifen konnte, machte er sich auf den Weg ins Nachbardorf. Die lange holprige Straße säumten zu beiden Seiten Pflaumenbäume. Bald sah er die ersten Häuser. Sein Ziel war das sogenannte Herrenhaus am Bahnhof. Dort sollte Anna Kindermädchen sein.

Eine Weile stand er vor dem vergitterten Tor und schaute den spielenden Kindern zu. Aber eigentlich hatte er nur Augen für Anna. Anna war die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Ihre dunklen Zöpfe wiegten bei jedem Schritt hin und her und ihr weißes Kleid unterstrich ihre schmale elfenhafte Gestalt.

Als Anna Josef entdeckte, kam sie schnell zu ihm ans Gitter. Wie von selbst fanden sich ihre Hände und sie lehnten ihre Köpfe aneinander.

28. Mai 1949. Die Sonne strahlte vom Himmel. Anna saß im weißen Brautkleid bei Josefs Eltern im Garten und scherzte mit den Gästen. Immer wieder warf sie einen Blick zu Josef, der sich mit ihrer Mutter und ihrem Onkel unterhielt. Sie machte sich Sorgen, daß ihr Onkel in letzter Minute seine Meinung noch ändern würde. Aber nein, das durfte nicht sein. Anna war im dritten Monat schwanger und sie brauchten ein Heim für ihre kleine Familie.

Der Bruder ihrer Mutter, also ihr Onkel Franz, wollte sie in sein Haus in der Stadt aufnehmen. Der Onkel wohnte ganz allein dort. Seine Frau und Tochter waren kurz hintereinander gestorben und die Zimmer standen leer. Schon nächste Woche könnten sie einziehen. Möbel waren auch schon vorhanden, sogar ein Kinderwagen, den Annas Mutter von einer Nachbarin gekauft hatte. Alles war perfekt und die Zeit bis zur Geburt verging wie im Flug.

Am 3. Dezember 1949 wurde ihnen ein süßes Mädchen geboren und mit einem Schlag veränderte sich ihr Leben. Nachts fing das Baby an zu schreien und Anna wankte schlaftrunken zur Wiege um die kleine Barbara zu beruhigen. Leise sang sie ihr ein Schlaflied und wiegte es in den Armen bis es wieder einschlief. Auf Zehenspitzen schlich sie zurück zu Josef, der schon wieder eingeschlafen war.

Jedoch kam der Schlaf nicht zu Anna. Sie sann nach, wie sich ihr Leben verändert hatte. Gestern noch glücklich und unbeschwert und heute Mutter, Hausfrau und Ehefrau. Die Last lag schwer auf ihren Schultern. Es gab viel Streit mit Josef, der sich vom stürmischen Liebhaber in einen egoistischen Ehemann verwandelte. Sobald Josef von der Arbeit heimkam, mußte das warme Essen pünktlich auf dem Tisch stehen. Wenn die kleine Barbara schrie, mußte sie schnell mit ihr weg, weil er das Geschrei nicht ertragen konnte. Annas Hände waren vom vielen Wäsche waschen rot und rissig, ihre Schultern hingen traurig herunter und ihr schönes langes Haar bekam einen stumpfen Glanz.

Anna war einfach nur verzweifelt. Sie spürte, wie schon wieder neues Leben in ihr wuchs. Wie sollte sie das Josef beibringen. Annas Befürchtungen waren nicht zu Unrecht. Als Josef es erfuhr, beschimpfte er Anna als dumme Kuh, die nicht aufpassen konnte. Nach zwei Tagen fuhren sie zu Annas Mutter, welche eine "Engelmacherin" im Dorf suchen sollte. Aber es gab wohl keine, oder die Mutter wollte Anna nicht in die Hände einer Pfuscherin geben. So nahm das Schicksal seinen Lauf.

Pünktlich 8 Uhr am 15. Februar 1951 wurde ihnen ein zweites Mädchen geboren. Es war klein und dünn, als hätte Anna ihre Sorgen auf das Kind übertragen. Zu allem Unglück hatte sie nicht mal genug Muttermilch. Aber eine alte Nachbarin, die eine Ziege hatte, gab ihnen Milch für ihr Kind.

Josef, der inzwischen gegen alles war, ob Kirche oder Politik, wollte nicht, daß ihr zweites Kind getauft wurde. Somit gaben sie ihrem kleinen Mädchen den Namen Luisa ohne den Segen der Kirche.
Nun hatte Anna noch mehr zu tun. Sie ackerte von früh bis spät in die Nacht und mußte nun auch noch ihren kranken Onkel versorgen. Josef war die meißte Zeit auf Arbeit und machte im Haushalt keinen Finger krumm. Er übernahm mehr und mehr die Machtrolle und es geschah bald nichts mehr ohne seine Anweisungen.

Die zwei Mädels wuchsen heran und sahen, wie schwer es ihre Mutter hatte. Wenn große Wäsche war, band Mutter die weiße Gummischürze um und zog die Holzpantinen an. Im großen Kessel im Waschhaus wurde schon Freitags das Wasser heiß gemacht und die Wäsche wurde eingeweicht und gekocht. Samstags kam die schwerste Arbeit. Die Mutter nahm jedes Stück Wäsche einzeln mit einem langen Holzstab aus dem heißen Laugenwasser und bearbeitete es mit einer Wurzelbürste auf dem Rubbelbrett. Danach wurden sämtliche Wäschestücke in der großen Zinkwanne drei mal gespült. Dann mußte der Vater helfen. Die Wäsche wanderte durch eine Wringmaschine, welche das Wasser durch die Rollen herauspresste. Vater Josef mußte sich sehr anstrengen, aber dies war auch schon seine einzige Arbeit.
Nun nahm Mutter Anna die Wäscheleine und spannte sie im Garten auf. Dann erst konnte die Wäsche im Winde trocknen. Im Winter machten sich Klein-Barbara und Klein-Luisa immer einen Spaß mit der Wäsche, denn die Handtücher und Laken waren steinhart gefroren.
So verging ein Tag nach dem anderen. Aus Monaten wurden Jahre und die Mädchen wurden zu Frauen.

Anna und Josef waren wieder allein in ihrem Häuschen. Die Mädels hatten geheiratet und Onkel Franz war längst gestorben.
Das Leben der Beiden verlief ziehmlich gleichmäßig und nach strengen Regeln und Ritualen. Ab und zu kamen Barbara und Luisa mit ihren Kindern zu Besuch und alle wollten nur bei Oma Anna sein. Opa Josef war auch ganz lieb zu seinen Enkelchen und damit erstaunte er Anna immer wieder. Wäre er doch nur so ein lieber Vater bei unseren Kindern gewesen, dachte sie oft bei sich, aber was gewesen, kann man nicht mehr ändern.
Anna ging jetzt immer gebeugt und mit schmerzverzerrtem Gesicht. Die schwere Arbeit der vergangenen Jahre war nicht spurlos an ihr vorüber gegangen. Diagnose: Bandscheibenvorfall. Aber kein Arzt wollte sie operieren, da es zu gefährlich sei. Vielleicht wollten sie die alte Frau auch nicht mehr quälen.
Anna, die immer fit war und bei der Arbeit gesungen hatte, veränderte sich. Waren es die starken Medikamente gegen ihre Schmerzen?
Eines Tages, nach einem Arztbesuch, war es dann Gewißheit. Anna hatte Alzheimer. Ein schlimmer Schreck für alle, obwohl man es längst geahnt hatte. Anna war jetzt 80 Jahre und da sollte man mit sowas rechnen. Aber es war schwer für die gesamte Familie, da Anna nun auch langsam dahinsiechte. Sie erhob sich kaum noch aus ihrem Sessel, der Kopf hing ihr schief auf den Schultern und der Speichel tropfte unablässig aus ihrem geöffnetem Mund. Josef war verzweifelt und auch am Ende seiner Kräfte. So hatte er sich seinen Lebensabend nicht vorgestellt. Selbst weit über die 80, hatte er keine Kraft seine kranke Frau zu pflegen.

Anna, komm, steh auf, ich habe Kaffee gekocht. Josef sah hinüber zu seiner Frau, die friedlich schlief. Aber sie lächelte doch, oder irrte er sich. Nun ging er näher ans Bett und wußte sofort Bescheid. Seine Anna war tot. Seine Anna hatte ihn still und leise verlassen.
Anna, Anna schrie Josef, Anna!