Dschihadisten-Bräute und IS-Kämpferinnen werden sie genannt – junge Frauen aus Deutschland, die sich dem ultrakonservativen Islam anschließen, zu Salafistinnen werden und dann zum Islamischen Staat nach Syrien reisen. Die deutsche Journalistin und Autorin Güner Yasemin Balci schreibt in ihrem neuen Roman „Das Mädchen und der Gotteskrieger“ über so eine junge Frau. Eine fiktive Geschichte mit erschreckend realen Vorlagen, denen Balci bei ihren Recherchen begegnet ist.

Die Welt:

Der islamistische Terror hat nun auch Europa erreicht. Meist sind junge Männer die Attentäter. Sie, Frau Balci, beschäftigen sich jedoch mit der Radikalisierung junger Frauen, die sich im Glauben an die große Liebe dem Islamischen Staat (IS) anschließen. Was ist die Rolle der Frauen beim IS?

Güner Yasemin Balci:

Wenn Männer sich dem IS anschließen, dann verlassen sie dafür ihre Familie und ihr soziales Umfeld. Die jungen Frauen müssen dann deren Wunsch nach einem Zuhause und einer Familie bedienen. Sie übernehmen die Rolle der Mutter und der fürsorglichen Partnerin. Die Frauen sind außerdem ein Gegengewicht zur Kampfwelt der Männer. Die schließen sich nicht nur aus Kriegslust dem IS an, sondern auch, weil sie dort sexuell freizügig leben können. Sie dürfen ganz offiziell viele Frauen haben und diese versklaven.

Nimet, der Protagonistin in ihrem neuen Roman „Das Mädchen und der Gotteskrieger“, ist nicht bewusst, dass sie nur eine von vielen Frauen sein könnte. Sie glaubt, dass Saed, den sie vermeintlich zufällig durch eine SMS kennenlernt, in Syrien einzig und allein auf sie wartet. Wieso fällt sie, wieso fallen so viele andere darauf rein?
Anzeige

Die Anwerber präsentieren den Mädchen ein Frauenbild, das den meisten in einer abgeschwächten Form in ihrer Sozialisation bereits begegnet ist. Sie haben eine andere Position in der Familie eingenommen als die Jungen oder Männer – eine untergeordnete. Bei den Islamisten bekommen sie dann plötzlich eine extreme Aufwertung zu spüren. Sie empfinden sich als Auserwählte, als reine Jungfrau, der man besonderen Respekt entgegenbringt. Ihnen wird vermittelt, dass sie eine besondere Aufgabe haben, weil sie keuscher seien als andere Frauen. Diese völlig realitätsferne, verkitscht-märchenhafte Idealisierung ist der Anreiz für die Mädchen: Da ist die ewige Liebe, der Prinz, der auf sie wartet, der ewig treu ist.

Was macht junge Frauen anfällig, solche Vorstellungen zu übernehmen und sich dem Islamismus anzuschließen?

Viele der Mädchen wurden mit dem Ziel erzogen, irgendwann als Jungfrau in die Ehe zu gehen. Sie wurden nicht dazu erzogen, selbstbestimmt zu leben und selbstreflektiert zu denken. Deswegen sind sie nicht gewappnet. Anfällig sind auch solche Mädchen, die eine völlig kaputte Lebensgeschichte mitbringen und auf der Suche nach einer unrealistisch heilen Welt sind. Die realen Fälle zeigen, dass oft die Mädchen und jungen Frauen vom Islamismus angezogen werden, die nirgendwo angekommen und die relativ orientierungslos sind. Oft fehlt es bei ihnen und ihrer Familie auch an Bildung. Dadurch ist das Bedürfnis nach Anerkennung einerseits extrem groß, andererseits perspektivlos. Beim IS können sie die bekommen, ohne auf den ersten Blick etwas leisten zu müssen. Dass sie sich tatsächlich selbst aufgeben müssen, merken sie erst gar nicht.

Nimet, deren Großeltern aus der Türkei eingewandert sind, wird von ihren getrennt lebenden Eltern nicht muslimisch oder traditionell erzogen, sie hat viele Freiheiten, geht oft feiern. Dass gerade sie sich dem radikalen Islam anschließt, erscheint unter diesen Vorzeichen absolut widersprüchlich.

Das mag auf uns wie ein Gegensatz wirken, aber ihre Gesamtsituation befördert den Schritt in die Arme eines radikalen Islamisten, der ihr das Paradies verspricht. Denn Nimet lebt nur in einer vermeintlichen Freiheit. Ihr Leben steht für das vieler muslimischstämmiger und türkisch-arabischstämmiger Frauen in Deutschland, die man auch in Diskotheken antrifft. Letztendlich wollen sie dann doch die Anerkennung ihrer Community haben, das Gefühl der Gemeinschaft. Das Milieu, in dem Nimet diese vermeintlichen Freiheiten lebt, ist eigentlich eines, das der freien Frau gegenüber feindlich eingestellt ist. In dem Moment, in dem Nimet offiziell einen Freund hätte, würde sie an ihre Grenzen stoßen. Hier herrscht eine permanente Diskriminierung von Mädchen, die selbstbewusst und selbstbestimmt leben.

Diese Radikalisierungsgeschichte muss also nicht nur mit Blick auf das Elternhaus, sondern immer auch mit Blick auf das gesamte Umfeld betrachtet werden?

Ja, das ist eine kollektive Gesellschaft, es ist nicht nur der Vater oder die Mutter oder Bruder, die sich einmischen, wenn das Mädchen sich unzüchtig verhält, sondern auch der Nachbar oder der Gemüsehändler.

Die Entscheidung, nach Syrien in den Krieg zu reisen, ist noch einmal ein ganz anderer Schritt. Wie erklären Sie sich den?

Das ist irre. Das machen auch nur sehr junge Mädchen. Früher, als es diesen Islamismus noch nicht gab, hab ich immer wieder beobachtet, wie Mädchen in diesen Milieus auf miese Kerle reingefallen sind. Wenn jemand aus solchen Verhältnissen wie Nimet kam, war er oft vorbelastet. Es war schon klar, dass dieses Mädchen – egal, ob mit oder ohne Migrationshintergrund – in keine gesunde Beziehung kommt. Sie kannten so etwas nicht. Die erste Liebe wurde bei vielen zum Verhängnis – ganz besonders bei denen, bei denen eine Partnerschaft nicht erlaubt ist. Wenn man immer gesagt bekommt, dass man irgendwann jemanden kennenlernt und diesen einen dann heiratet, dann sind alle Sinne und Träume auf diesen Punkt fixiert. Wenn man sich dann verknallt, dann glaubt man, dass es für ewig sein muss. Dann kann es schon passieren, dass man völlig naiv nach Syrien reist.

Aber es gibt doch viele Berichte über das Schicksal von Frauen, die in Syrien vom IS versklavt werden.

Allen Berichten zum Trotz. Es läuft ja eine Propagandamaschine, die immer versucht, diese Berichte als Lüge zu entlarven. Auf den Propagandaseiten in sozialen Netzwerken gibt es idealisierte Bilder von wunderschönen Landschaften, wo sauberes Quellwasser fließt, wo starke Männer in ihren Kutten Kinder durch das Land tragen, Blumen pflücken und Katzen streicheln. Da werden die Frauen von Männern beschützt und haben ihre Rechte – daran wollen diese Mädchen glauben. Alles andere blenden sie aus. Außerdem betrachten sie den Terror des IS als einen Krieg, der geführt werden muss, weil sie glauben, dass Muslime sonst abgeschlachtet werden. Sie werden erst wach, wenn es dann dort um ihr eigenes Leben geht. Aber diese Frauen haben in der Regel keine Chance zurückzukommen.

In Berichten über Frauen, die sich dem IS anschließen, klingt oft durch, dass sie dazu verführt wurden. Die Islamistin, ein radikalisiertes Opfer, Männer als Überzeugungstäter?

Das ist eine völlig verkürzte Wahrnehmung. Ich glaube zwar, dass Männer anders morden, dass Frauen aber nicht zu unterschätzen sind. In allen patriarchalen Gesellschaften finden sich Frauen, die das System stützen. Bei den IS-Brigaden gibt es Frauen, die bereit sind, andere Frauen abzuknallen. Sie sind genauso Täter wie die Männer. Sie unterscheiden sich nur darin, dass sie nicht dazu berufen sind, an der Frontlinie zu kämpfen. Ohne die Hilfe der Frauen könnte der IS-Terrorkrieg gar nicht stattfinden. Würden die Frauen den Terror boykottieren, könnten sich die Islamisten nicht lange halten. Würden sie nicht die Kinder dieser IS-Kämpfer zur Welt bringen, würde das System zusammenbrechen.

In Ihrem Buch nutzen die Salafisten ausgerechnet die Flüchtlingshilfe, um Personen wie Nimet von radikalen Ansichten zu überzeugen. Wird die Flüchtlingskrise als Katalysator von radikalen Muslimen missbraucht?

Es gab Berichte über Salafisten, die versuchen, Flüchtlinge anzuwerben – auch Kinder. Das Argument gegenüber den Flüchtlingen ist: „Du darfst deine Identität nicht verlieren, nur weil du in Deutschland bist und die Deutschen dir helfen. Du musst deiner Religion oder Kultur treu bleiben, und ich helfe dir dabei, Bruder oder Schwester.“ Es geht um klare Trennlinien zwischen Deutschen und Muslimen. Das sind aber nur Einzelfälle. Viel problematischer ist das rückwärtsgewandte, extrem konservative Religionsverständnis der gängigen Islamverbände in Deutschland.

Nimet weiß kaum etwas über den Islam. Trägt dieses Unwissen letztlich zu ihrer Radikalisierung bei?

Klar! Im evangelischen und katholischen Religionsunterricht in der Schule kann man alles hinterfragen, alles ist erlaubt. Genau das gibt es im muslimischen Religionsunterricht nicht.

Warum schreiben sie eigentlich über die Radikalisierung von Frauen?

Ich habe erst viel über die Männer recherchiert und viele Gespräche mit Aussteigern gehabt. Bei denen konnte ich mir recht schnell erklären, warum sie all das verlockend finden. Aber ich konnte nicht verstehen, warum eine Frau die absolute Unfreiheit wählt. Wieso sie ein System unterstützt, das Frauen eigentlich zerstört. Das fasziniert mich.
https://www.welt.de/print/welt_kompakt/print_politik/article157625292/Der-IS-kann-ohne-Frauen-nicht-bestehen.html