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Dieses Buch des Freiburger Historikers Neutatz über die russische Geschichte des 20. Jahrhunderts aus dem Jahr 2013 bricht im Jahr 2000 ab. Als Historiker fühlt er sich, wie Neutatz am Ende schreibt, nicht mehr befugt zu interpretieren, die verstärkte Orientierung auf ein Präsidialsystem historisch einzureihen; vermutlich wohl weil die Putin-Ära noch nicht abgeschlossen ist.

Eingeteilt wird das dicke Werk in drei Teile: Zarismus von 1890 bis 1917 inklusive März bis Oktober - die kommunistische Herrschaft - Post-Kommunismus der Jelzin-Ära.

Gestützt ist der Text hauptsächlich auf Sekundärliteratur, es werden praktisch keine neuen Archivstudien eingebunden, und somit wendet es sich weniger an das Fachpublikum, sondern ist eine - interpretatorisch manchmal unausgewogenes (von der Verteidigung Breschnews bis zur Kritik an Gorbatschow, keine Marktwirtschaft eingeführt zu haben) - an das interessierte Laienpublikum gerichtete Gesamtschau, die auch eigentümliche Gewichtungen birgt: den Weltausstellungsbeiträgen der Sowjetunion bzw. Russlands ist ein viel größerer Raum gegeben als zum Beispiel der Katastrophe von Tschernobyl.

Dennoch geht es als Einführung in die Geschichte Russlands in seinen Grundzügen für mich durch, auch wenn die in der Einleitung versprochene Gewichtung der Ränder nur sehr kursorisch vorkommt. Es bleibt ein Werk, das sich hauptsächlich auf die politische Geschichte und deren Protagonisten stürzt, dazu kommt noch etwas Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Ränder finden sich höchstens bei Exkursionen nach Tschetschenien oder bei Verfassungsanalysen zu autonomen Republiken.

Die politische Geschichte der Wirtschaftsentwicklung der Sowjetunion bietet dann doch Informationen, die es wert sind festgehalten zu werden, da sie in dieser Form nur selten zu lesen sind:

- Die Industrialisierung ab 1927 war kein Stalin-Diktat, sondern ein Beschluss des Parteitags
- Die Zwangskollektivierung ab 1929 war kein Stalin-Diktat, sondern ein Beschluss des Politbüros
- Dass Kriegsgefangene sowjetische Soldaten als Verräter gesehen werden, war ein Stalin-Dekret 1941
- 1947 wurde ein Eheverbot von Sowjetbürgern mit Ausländern verfügt
- 1957 wurde die Macht der Zensurbehörde über Stalins Anordnungen hinaus erweitert
- 1961 wurde ein "Parasitengesetz" gegen Arbeitsscheue verabschiedet
- Chrustschow verschärfte die Russifizierung auf dem Gesamtgebiet der Sowjetunion
- 1962 wurde ein Massaker bei einem Streik in Novotscherkassk verübt
- Chrustschows Wohnbauprogramm schuf Wohnraum für 100 Mio. Menschen
- Breschnews Grundsatz "Vertrauen in die Kader" führte zur Verkrustung der Entscheidungselite
- Breschnews Grundsatz des "entwickelten Sozialismus" führte zur Stagnation der Wirtschaftsentwicklung

Gorbatschow wird nur sehr kursorisch abgehandelt und sein Fehler, einen voll entwickelten Markt zu ermöglichen, ist die Kernanalyse von Neutatz. Da warte ich auf Spezialisten, die diese Komplexität überzeugender einordnen können. Die Beschreibung der Gorbatschow-Jahre ist ok, aber geht nicht über Bekanntes hinaus.

Die Jelzin-Ära bietet neben Verarmung, Verschärfung der Kluft zwischen Reich und Arm sowie der Verstärkung des präsidialen Elements (zuerst Putsch gegen Gorbatschow und die KPdSU, danach Abschuss des Obersten Sowjets 1993 und Einführung einer legislativen Komponente im Präsidialamt) hauptsächlich einen Überblick über die wichtigsten Privatisierungsmaßnahmen:

1. Vouchersytem 1992 bis Juli 1994 (die Voucher-Aktien wurden aufgekauft => Bereicherung Weniger)

2. Die Bürgschaft von Staatskrediten bei Privatbanken 1995-1998 durch Energie- und Rüstungsbetriebe führte zur Oligarchisierung, da Kredite oft nicht zurückgezahlt werden konnten und die Bankeninhaber sich diese krallen konnten.

3. Der "kleine Mann" wurde durch automatischen Übergang von Mietwohnungen, Hoflandparzellen und Datschen in den Besitz der Mieter/Pächter abgespeist, wodurch zumindest Wohnsorgen gemildert wurden bzw. bei Top-Lage eine wirtschaftliche Absicherung möglich war.

Dennoch fehlen tiefergehende Analysen, wie sich die Oligarchenseilschaften bzw. die "Kreml-Familie" bilden konnten.

Fazit: Umfangreich, über lange Strecken interessant, aber der Tiefgang fehlt. Aber das liegt vermutlich auch am Konzept. 600 Seiten Text und 80 Seiten Anmerkungsapparat sind vermutlich zu wenig für 100 Jahre russische Geschichte.