Wir müssen reden :

Warum tut ein Mann das?

Wir müssen reden: Warum tut ein Mann das?

Täglich werden Frauen vergewaltigt. Der Sexualtherapeut Ulrich Clement erklärt männliche Gewaltfantasien, wann sie Wirklichkeit werden und was man dagegen tun kann. Von Wenke Husmann
AUS DER SERIE: BEZIEHUNGEN
7. JUNI 2017, 16:25 UHR


ZEITmagazin ONLINE: Laut deutscher Kriminalstatistik haben im Jahr 2016 knapp 8.000 Frauen eine Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung angezeigt. Das sind mehr als 20 Fälle pro Tag. Zwei Prozent der Frauen, das belegt eine EU-weite Studie, wurden nach eigener Aussage während der vergangenen zwölf Monate Opfer sexueller Gewalt. Auch wenn diese Zahlen unscharf sind: Es sind viel zu viele Frauen. Die Frage ist: Warum tun Männer das?

Ulrich Clement: Hinter der Bosheit steckt Schwäche. Es ist der Versuch, ein unsicheres männliches Selbstbild durch aggressive Handlungen zu kompensieren. Diese Männer fühlen sich durch eine konkrete Frau oder durch angehäufte Erfahrungen gekränkt oder in ihrem Stolz und ihrer Männlichkeit infrage gestellt. Ein selbstbewusster Mann vergewaltigt nicht – der braucht das nicht. Der sexuelle Akt ist in einer Vergewaltigung nicht nur Triebbefriedigung, sondern er ist Unterwerfung, Erniedrigung, weil der Mann, indem er erniedrigt, sich selbst über die Frau stellt.

ZEITmagazin ONLINE: Welches verzerrte Bild von Männlichkeit steckt dahinter?

ULRICH CLEMENT
Prof. Dr. Ulrich Clement ist systemischer Paartherapeut und Sexualforscher. Sein Buch Think Love. Das indiskrete Fragebuch erschien 2015 bei Rogner & Bernhard, danach hat er Dynamik des Begehrens im Carl-Auer Verlag veröffentlicht. In Heidelberg betreibt Ulrich Clement eine Privatpraxis für Coaching, Paar- und Sexualtherapie.

Clement: Ein unflexibles, sehr empfindliches. Die Kränkbarkeit von Männern sollte man nicht unterschätzen.

ZEITmagazin ONLINE: Sie sind leichter zu kränken als Frauen?

Clement: Ihre Kränkbarkeit ist nicht generell größer als bei Frauen, aber in Bezug auf ihre Geschlechtlichkeit sind Männer anfälliger für Kränkung als Frauen. Der Satz "Du bist kein richtiger Mann" ist, im Durchschnitt gesprochen, für Männer schlimmer als für Frauen der Satz "Du bist keine richtige Frau".

ZEITmagazin ONLINE: Warum ist das so?

Clement: Die Psychologie liefert dazu eine recht plausible Erklärung: Männlichkeit entsteht sekundär. Männer werden, psychologisch betrachtet, erst dadurch zu Männern, dass sie sich von Frauen abgrenzen. Weibliche Gefühle und Verhaltensweisen müssen sie dann für sich ablehnen, weil sie als bedrohlich für die männliche Identität erlebt werden. So sind sie in der Pubertät gegenüber Müttern eher ruppig, sie haben eine Verachtung für weibliche Eigenschaften, sie verhalten sich homophob. Kurz: Männlichkeit basiert auf der Ablehnung von Weiblichkeit. Damit gehen Männer natürlich unterschiedlich um – es vergewaltigen ja die wenigsten.


ZEITmagazin ONLINE: Wenn man davon ausgeht, der Aggression gehe eine Kränkung voraus, soll dann das Verhalten der Frau eine Rolle spielen?

Clement: Nein, denn das Gefühl der Kränkung liegt immer im Auge des Betrachters. Vielleicht wollte die Frau beispielsweise einfach ihre Ruhe und hat das gesagt. Nicht um zu kränken, sondern um sich abzugrenzen. Der Mann kann das dennoch als Erniedrigung erleben.

ZEITmagazin ONLINE: Geht es immer um sexuelle Zurückweisung?

Clement: Nein. Es kann auch eine ganz andere Vorgeschichte zugrunde liegen, beispielsweise eine Kränkung im Beruf. Vom Chef gedemütigt zu werden, in einer Verlierersituation zu stecken oder zu fürchten, in eine Verlierersituation zu geraten, kann gleichfalls zu Rachegefühlen führen.


ZEITmagazin ONLINE: Sind denn immer Unterlegenheitsgefühle im Spiel?
Clement: Nein. Auch ranghohe Männer können diesbezüglich ganz schön borniert sein. Sie leben in dem Bewusstsein, besonders überlegen und wertvoll zu sein. Das macht sie blind für ihr Gegenüber, und sie holen sich das, von dem sie meinen, es stünde ihnen zu. Das muss nicht gleich eine Vergewaltigung sein, das fängt schon bei übergriffigem Anfassen an. Diese Männer nutzen ihre vermeintliche soziale Überlegenheit aus und sexualisieren sie.

ZEITmagazin ONLINE: In rund der Hälfte der Fälle von sexueller Gewalt wird diese vom Partner ausgeübt, manchmal leben die Opfer sogar schon länger in solchen Beziehungen. Wie kann diese gewaltvolle Form der Sexualität Bestand haben?

Clement: Diese erotisierte Niedertracht ist in Paarbeziehungen alltäglicher, als man denkt. Es gibt zum Beispiel auch ein Nötigen und Drängen nach dem Motto: "Du musst dich mir sexuell erkenntlich zeigen, weil ich das Geld bringe und ich für die Familie sorge." Das ist zwar keine Vergewaltigung, aber natürlich eine Form der strukturellen Gewalt, legitimiert durch eine fantasierte hierarchische Überlegenheit.

ZEITmagazin ONLINE: Das erinnert daran, dass Vergewaltigung in der Ehe lange kein Straftatbestand war.

Clement: Ja, erst seit 1997. Bis dahin wurden Nötigung und Vergewaltigung rechtlich getrennt betrachtet und bestraft, und aus juristischer Sicht gab es innerhalb der Ehe lediglich Nötigung.

ZEITmagazin ONLINE: Eine besonders böse Form von sexueller Gewalt gegen Frauen sind systematische Vergewaltigungen in Kriegssituationen wie beispielsweise in Ruanda, Bosnien oder bis heute im Kongo. Auch hier die Frage: Wie erklärt sich das?

Clement: Der Einzelne ist in diesem Fall vor allem Teil einer stark hierarchisch organisierten männlichen Gruppe, in der gruppendynamische Prozesse ablaufen, die ihn dann tatsächlich zum Mitmachen bringen oder zwingen – selbst wenn er das als Individuum nicht wollte. Der Zweck dieser Form der Kriegsführung ist es, die Überlegenheit über den Gegner zu demonstrieren, indem man die Frauen demütigt – und deren Männer. Die werden hier in ihrer Ohnmacht vorgeführt: "Du kannst deine eigene Frau nicht beschützen."

ZEITmagazin ONLINE: Das erklärt, warum diese Form der Vergewaltigung häufig vor den Augen der unterlegenen Männer geschieht.

Clement: Ja, der gesamte familiäre Zusammenhalt soll zerstört werden.

ZEITmagazin ONLINE: Andererseits werden diese Vergewaltigungen auch explizit als "Belohnung" und "zur Stärkung der Moral der Truppe" angeordnet.

Clement: Das ist wie bei Plünderungen: Man hat ein Gebiet eingenommen und anschließend gehört einem alles. Wie in einer Art Rausch wird die eigene Grandiosität und Macht exerziert, was für manche auch sexuell erregend ist. Dieser Potenzrausch kann sich dann jeder Kontrolle entziehen. Dabei spielt natürlich auch eine Rolle, dass diese Männer ihrerseits stark unter Druck stehen. Es gingen Kämpfe voraus, man stieß auf Widerstand, Verluste mussten hingenommen werden. Die Männer waren in belastenden Situationen und lange von zu Hause weg. Da kann so eine Tat als Belohnung aufgefasst werden.

ZEITmagazin ONLINE: Es ist dennoch schwer nachzuvollziehen, wie ein Mann so weit gehen kann, zumal Sie eben selbst gesagt haben: "obwohl er das als Individuum nicht wollte".

Clement: Das ist ein sozialpsychologisches Phänomen und nicht nur individuell zu erklären. Die Mechanismen sind die gleichen, wie bei den berühmten Milgram-Experimenten: Die belegten bereits in den 1960er Jahren, dass ein Einzelner durchaus Anweisungen Folge leistet, die seinem Gewissen widersprechen, solange er dem Anweisenden eine hohe Autorität einräumt. In dem Experiment erteilten die Probanden einer nicht sichtbaren Person für falsche Antworten schmerzhafte Stromstöße, weil es ein Versuchsleiter von ihnen verlangte. Das Entscheidende ist dabei, dass der Handelnde die Autorität dessen, der die Befehle erteilt, anerkennt. Ist das so, dann sind Einzelne offenbar in der Lage, ihre eigene moralische Instanz, die sie durchaus besitzen, auszuschalten. Das Verrückte ist also nicht, dass die Vergewaltiger keine innere moralisch Instanz hätten, sondern dass diese situativ von einer als Autorität anerkannten Person außer Kraft gesetzt werden kann.

ZEITmagazin ONLINE: Erklärt das auch Gruppenvergewaltigungen? Dabei begehen mehrere Männer gemeinsam ein schweres Verbrechen, zu dem der Einzelne womöglich gar nicht bereit gewesen wäre.

Clement: Ja. Das Gemeinschaftsgefühl der Männergruppe ist dann stärker als das individuelle Gewissen.

ZEITmagazin ONLINE: Worin unterscheiden sich spielerische Formen von Dominanz und Unterwerfung – beispielsweise die SM-Praktiken eines Paares – von Gewalt?

Clement: Sie unterscheiden sich grundlegend! Der entscheidende Punkt ist, dass es bei Sadomasochismus um konsensuellen, also einvernehmlichen Sex geht. SM funktioniert nur – und dieses gilt es sehr zu betonen –, wenn allen Beteiligten klar ist, dass es um ein Spiel geht, dass es eine Als-ob-Situation ist, und dass es klare Regeln gibt wie beispielsweise Stopp-Wörter und Ausstiegsmöglichkeiten, die es bei einer realen Vergewaltigung so nicht gäbe. Erfahrungsgemäß können BDSM-Spiele deswegen nur Menschen praktizieren, die keine traumatischen Erfahrungen haben. Traumatisierte können gegebenenfalls diese Unterscheidung, was Spiel und was echt ist, nicht mehr zuverlässig treffen. Abgesehen davon zeichnen sich sadomasochistische Unterwerfungsspiele nicht durch Gewalt aus. Von Gewalt kann man nur sprechen, wenn sie gegen den anderen gerichtet ist, der also nicht einverstanden ist. Kurz: Sadomasochismus mag ähnlich aussehen, ist aber etwas völlig anderes.

ZEITmagazin ONLINE: Wie geläufig sind unter Männern Fantasien, in denen sie eine Frau zum Sex zwingen?
Clement: Hier muss man wieder unterscheiden. Dominanzfantasien gibt es häufig. Nach einer amerikanischen Studie von 2015 haben 60 Prozent der Männer solche Fantasien. Gewalt indes als Element, das den entscheidenden Kick gibt, das geben in derselben Studie nur noch 22 Prozent der Männer an. Aber auch 11 Prozent der Frauen. Interessant ist, dass beide Formen häufig korrelieren mit Fantasien von Unterwerfung beziehungsweise mit Fantasien, zum Sex gezwungen zu werden. Diese beiden Fantasiekomplexe, "Dominanz/Gewalt" und "Unterwerfung/zum Sex gezwungen werden", schließen sich also typischerweise nicht aus, und man kann davon ausgehen, dass sie lediglich Ausdruck sexueller Offenheit sind. Im Umkehrschluss drückt das Vorhandensein solcher Fantasien nicht notwendigerweise ein inakzeptables sexuelles Interesse aus. Um überhaupt einen Anhaltspunkt für eine psychische Störung zu liefern, ist weniger der Inhalt der Fantasien relevant als vielmehr deren Intensität und vor allem ihre Unabdingbarkeit. Das heißt, es kommt darauf an, wie notwendig ein Mann die Gewaltfantasie braucht, um sich sexuell zu erregen.

ZEITmagazin ONLINE: Das klingt dennoch verstörend, vor allem wenn man der These anhängt, dass Fantasien der Anfang einer Tat sein können.

Clement: Ja, diese Diskussion wird ja auch bei der Wirkung von Gewaltdarstellungen – beispielsweise in Filmen – geführt. Es ist allerdings nicht zwingend, dass jemand seinen Fantasien auch Taten folgen lässt.

ZEITmagazin ONLINE: Wovon hängt das ab?

Clement: Ob ein Mann unterscheiden kann zwischen dem, was ihn in der Fantasie erregt, und dem, was er in der Realität mit einer Partnerin tun kann. Empathie für das Gegenüber gehört dazu. Ein psychisch gesunder Mensch setzt einen Puffer zwischen Gedanken und Handlung. So einen Puffer braucht jeder in vielen Situationen. Bei manchen Persönlichkeiten kann er allerdings beeinträchtigt sein, mit den entsprechenden Folgen für gewalttätiges Verhalten.

ZEITmagazin ONLINE: Wie sollte ein Mann also damit umgehen, wenn er merkt, dass ihn die Vorstellung erregt, eine Frau zum Sex zu zwingen?

Clement: Man muss unterscheiden, um welche Form von Fantasien es hier geht. Es gibt ja einerseits fantasierte Vorstellungen, die man sich bewusst herbeiholen kann, und andererseits Fantasien, die einen überfallen und ängstigen können. Für Männer, die vor dem Bösen erschrecken, das sie in sich spüren, bieten sich durchaus Hilfsprogramme an wie die Ambulanz für Männer mit Gewaltfantasien in Hannover. Problematisch sind diejenigen, die dieses Erschrecken nicht spüren. Affektisolierung nennt man das in der Psychotherapie. Wir kommen an diesem Punkt wieder auf die soziale Intelligenz zurück: Man muss die Motive und die Stimmung des Gegenübers erkennen und sie in sein Handeln einbeziehen können. Das ist für Sexualität schlicht unabdingbar. Wenn einer über dieses Minimum an sozialer Intelligenz nicht verfügt, kann es bedrohlich werden.

ZEITmagazin ONLINE: Wenn einen Mann seine Fantasien ängstigen, hat er dann gute Chancen, dass ihm mit Angeboten wie etwa der Ambulanz in Hannover geholfen werden kann?

Clement: Ja. Solche präventiven Programme sind jung, aber es gibt gute Statistiken, beispielsweise aus Untersuchungen des forensischen Psychiaters Frank Urbaniok, die belegen, dass sich das Therapieren von Sexualstraftätern lohnt. Das ist eine wichtige Botschaft. Prävention ist sinnvoll. Bei einem solch emotional aufgeladenen Thema besteht leider die Gefahr, dass man alle vereinheitlicht. Aber auch Vergewaltiger oder potenzielle Täter sind unterschiedlich.

ZEITmagazin ONLINE: Inwiefern?

Clement: Es kommt auf den Charakter des Betreffenden an, also ob er grundsätzlich gewaltaffin ist oder noch über psychische Reserven und Kompetenzen verfügt, die das ausgleichen können. Im günstigen Fall sind diese sozialen Kompetenzen entwickelbar. Und deshalb ist auch die für Therapeuten mühsame Arbeit sowohl in der Prävention als auch mit verurteilten Sexualstraftätern sinnvoll, auch wenn sie natürlich sexuelle Gewalt nicht aus der Welt schafft.