QuixoteOriginal anzeigen (0,2 MB)

Zwei Teile, 1600 Seiten. Übersetzung: Ludwig Tieck (1801).

Ich habe das ganze Werk zum zweiten Mal in meinem Leben gelesen und bin erstaunt über die Komplexität des Werkes, da mir vom ersten Lesen die üblichen Geschichten in Erinnerung geblieben sind: Windmühlen, Walkmühlen, Schafherden, das Rasierbecken als Ritterhelm, die Veräppelungen Quixotes im zweiten Teil, der dicke und verfressene Sancho Pansa als treuer Stallmeister, der auf seine Statthalterschaft hofft, und natürlich Dulcinea, die als Liebesideal stilisierte pummelige Bäuerin.

Doch es steckt mehr in diesem Werk als nur ein verrückter Adeliger, der die ganze Welt als Täuschung eines Zauberers sieht, die nur er selbst in ihrer Wirklichkeit erkennen kann. Don Quixote als Verschwörungstheoretiker, der einer Narretei hinterherläuft, seinem Traum von den Rittergeschichten aus den Romanen, die mehrfach Thema im Buch sind und die verbrannt werden wie auch Quixotes Bibliothek zugemauert wird, was er wiederum als Angriff eines Zauberers interpretiert.

Es sind aber nicht nur Narreteien und Schelmenepisoden, die das Buch tragen, sondern auch die zum Teil langen hochvernünftigen Reden und Dialoge. So zum Beispiel im ersten Buch das Mädchen Marcella, die nach dem Selbstmord eines unglücklich in sie verliebten jungen Mannes eine Brandrede auf die Freiheit der Frau, auf die freie Entscheidung der Frau nicht nur in Liebesdingen hält. Moderner geht es fast nicht.
Der Getäuschte klage, der verzweifle, den ich mit falscher Hoffnung hinterging, der rede laut, den ich herbeigelockt, der höhne mich, dem ich erwiderte; aber keiner nenne mich grausam oder Mörderin, dem ich nichts verspreche, ihn täusche, herbeirufe oder ihm Liebe erwidere. Bisher hatte es der Himmel über mich noch nicht verhängt, daß ich gezwungen lieben muß; der Glaube aber, daß ich aus Wahl lieben werde, ist Torheit. Diese allgemeine Enttäuschung sei für jeglichen von denen, die sich zu ihrem Vorteil um mich bewerben, jeder begreife in Zukunft, daß, wenn einer für mich stirbt, er nicht an Eifersucht und Unglück stirbt, denn wer keinen liebt, darf keinem Eifersucht geben; wie es auch unrecht wäre, diese Enttäuschungen für Verschmähungen anzusehen. Wer mich wild und Basilisk nennt, fliehe vor mir wie vor einem verderblichen und schädlichen Wesen; wer mich undankbar nennt, diene mir nicht, wer mich unerkenntlich heißt, bleibe mir unbekannt, grausam, der folge mir nicht: denn diese Wilde, der Basilisk, die Undankbare, Grausame, diese Unerkenntliche wird keinen suchen, ihm dienen, seine Bekanntschaft wünschen und auf keine Weise keinem folgen. Wenn Unvernunft und törichte Wünsche den Chrysostomus töteten, warum wird meine Ehre und Tugend angeklagt? Wenn ich meine Reinheit in Gesellschaft der Bäume bewahre, warum soll ich wünschen, daß sie der verletzt, der doch wünscht, daß ich sie unter den Menschen bewahre? Wie Ihr wißt, besitze ich eigenes Vermögen und begehre kein fremdes; ich bin frei, und es gefällt mir nicht, untertan zu werden; ich liebe und hasse keinen; ich täusche nicht den einen, bewerbe mich nicht um den andern, scherze nicht mit diesem, lache nicht mit jenem. Meine unbescholtene Gesellschaft sind die Hirtenmädchen dieser Gegend, meine Beschäftigung ist die Sorgfalt für meine Herde, meine Wünsche werden von diesen Bergen beschränkt; übersteigen sie diese, so geschieht es nur, die Schönheit des Himmels mir vorzustellen, den Aufenthalt, zu dem unsere Seele wie zu ihrer ersten Heimat zurückkehrt.
Einige hundert Seiten später monologisiert Quixote über die freie Entscheidung von Frauen in Liebesdingen als ferne Antwort, und sie ist eine laue Replik. Quixote wird zum Sprachrohr einer patriarchalischen Gesellschaft:
Wenn alle diejenigen, die sich lieben, sich auch heiraten müßten«, sagte Don Quixote, »so verlören die Eltern dadurch das Recht, diejenigen auszuwählen, mit denen sie ihre Kinder verbinden wollten, und zu welcher Zeit dies geschehen soll. Käme es aber auf den Willen der Töchter an, sich selber den Gatten auszuwählen, so würde die eine den Knecht ihres Vaters wählen, eine andere den, welchen sie auf der Straße vorbeigehen gesehen und der ihr zierlich und brav geschienen, wenn er auch ein nichtsnütziger Vagabonde sein sollte; denn Liebe und Leidenschaft verblenden leichtlich die Augen des Verstandes, die doch so notwendig sind, um sich zù vermählen.
Auch auf Ungebildete schießt Quixote sich ein und man könnte dies fast 1:1 als Trollbeitrag einschätzen, denn Unbildung lässt auf ein verlottertes Elternhaus oder eigene Bösartigkeit schließen:
Wenn ein Mensch nicht lesen kann oder linkisch ist, dieses immer eins von den beiden anzeigt, entweder daß er von äußerst gemeinen und niedrigen Eltern abstammt oder daß er so verkehrt und bösartig ist, daß weder Unterricht noch gute Sitten an ihm haften.
Im Laufe des Romans wird Sancho Pansa immer mehr zu einem Menschen, den man sich vorstellen kann, in den man sich einleben kann. Zu Beginn dackelt er Don Quixote trotz der Erkenntnis von dessen Wahnsinn nach, weil er im realen Leben auch sein Herr ist und sich von ihm eine versprochene Statthalterschaft über eine Insel erhofft. Je länger er aber mit ihm zieht, sich verprügeln lassen muss und ihm sogar eine Geißelung mit zehntausenden von Peitschenschlägen auferlegt wird, damit Dulcinea aus ihrer Verzauberung in eine Bauerndirne erlöst werden kann, entkommen ihm kritische, sehr kritische Worte gegen die brotlose Abhängigkeit von seinem Herrn.
Ich täte wahrhaftig besser – aber ich bin ein Vieh und werde in meinem ganzen Leben nichts tun, was taugt –, ich täte wahrhaftig besser, muß ich wieder sagen, wenn ich wieder nach Hause ginge, zu Frau und Kindern zurück, um sie zu erhalten und zu erziehen mit dem Wenigen, was mir Gott gegeben hat, und daß ich Euch nicht so nachzöge auf unwegsamen Wegen und auf Stegen und Fußpfaden, die noch kein Fuß betreten hat, wobei ich schlecht zu trinken und noch schlechter zu essen kriege.
Aber am Ende des Romans wird er entschädigt, als ihm Don Quixote, der an einem Fieber stirbt, sein Vermögen vermacht.

Dennoch ist Sancho auch eine sehr zweispältige Figur, in der sich - wie in Don Quixote selbst - die Vielschichtigkeit menschlicher Charaktere spiegelt. Im zweiten Teil treibt ein Herzog und sein Hof vielerlei Späße mit den beiden, so erhält Sancho eine Statthalterschaft über eine vorgespielte Insel. Auf der einen Seite ist er einem Arzt ausgeliefert, der ihm seine Lebensweise vorschreibt, andererseits ist Sancho ein kluger und wohlmeinender Herrscher und Richter, wenn da nicht sein geplantes radikales Vorgehen wäre, das brutalste Diktaturen vorwegnimmt:
... denn es ist meine Absicht, diese Insel von aller Unreinigkeit, von allen Vagabunden, müßigem und lüderlichem Volke zu säubern; denn Ihr müßt wissen, daß das müßige und faule Gesindel im Staate das nämliche ist, was die Drohnen in den Bienenstöcken sind, die den Honig verzehren, welchen die arbeitsamen Bienen machen. Ich denke die Bauern zu begünstigen, den Edelleuten ihre Vorrechte zu bewahren, die Tugendhaften zu belohnen und vor allen Dingen die Religion und das Ansehen der Geistlichen in Ehren zu erhalten.
Am Ende sind beide wieder zurück in ihrem Heimatdorf, Don Quixote stirbt (mit ihm das Rittertum) und Sancho dürfte ein reicher Bauer sein, der mit Frau und Tochter lebt. Darüber wird jedoch nicht mehr geschrieben.

Es gäbe noch Vieles zu notieren, aber dabei möchte ich es belassen. Die wunderbare Übersetzung Tiecks ist hier online zu lesen (ich habe das bequemere eBook vorgezogen, vor Jahrzehnten war es eine Papierausgabe):
http://www.zeno.org/Literatur/M/Cervantes+Saavedra,+Miguel+de/Roman/Don+Quijote