Osteuropa-1998 7

Der aktuell bei der Deutschen Welle tätige Historiker Ingo Mannteufel hat 1998 in der Zeitschrift Osteuropa einen Artikel über das Massaker von Nowotscherkassk (im Süden Russlands bei Rostow am Don) Anfang Juni 1962 geschrieben. Hintergrund war, dass am 1. Juni 1962 in der sowjetischen Presse bekanntgegeben wurde, dass die Verbraucherpreise für Milch und Fleisch um 30 Prozent angehoben werden.

Ausgangspunkt war, dass Chrustschow der Ausplünderung der Landwirtschaft ein Ende setzen wollte, um so die Lebensmittelproduktion erhöhen zu können. In den Jahren zuvor waren die privaten Möglichkeiten über das Hausland eingeschränkt worden, aber die Vergütung der Kolchosen lag unter den Produktionskosten. Durch eine Erhöhung der Abnahmepreise von den Kolchosen sollte die Vergütung über die Kosten gesteigert werden. Finanziert sollte dies über eine Verbraucherpreiserhöhung werden.

In vielen Städten der Sowjetunion wurde Unmut der städtischen Bevölkerung bzw. der Arbeiterschaft registriert, in Nowotscherkassk war jedoch die Geduld der Arbeitenden am Ende. In der Elektrolokomotivenfabrik wurde 1962 in den ersten Monaten eine Normenerhöhung von 30 Prozent umgesetzt, die viele Arbeitende nicht erzielen konnten und so Lohneinbußen hatten. In einer Betriebsversammlung am 1. Juni hatte der Fabriksleiter die Chuzpe, den Arbeitern zu empfehlen, Pirogen mit Innereien zu essen, falls sie sich Fleisch nicht mehr leisten könnten. Dies brachte das Fass zum Überlaufen. Der Direktor wurde von nun an "Marie" genannt (nach dem bekannten Gerücht, dass Marie Antoinette den Armen empfohlen hätte, Kuchen zu essen, wenn sie sich Brot nicht mehr leisten könnten), die Demonstrierenden riefen einen Streik aus und zogen mit Spruchbändern und Lenin-Portäts zum Parteihaus. Auf dem Weg dorthin wurden am Bahnhof Züge mit Sprüchen versehen, darunter einem, dass Chrustschow selbst verwurstet werden sollte. Im Stadtzentrum eröffente das Militär das Feuer auf die Demonstrierenden, mehr als 20 Menschen starben. Die sogenannten Rädelsführer wurden angeklagt, viele von ihnen wegen antisowjetischer Agitation und Banditentum hingerichtet, andere zu langen Lagerstrafen verurteilt.

Erst Ende der 1980er wurden die Ermordeten und Verurteilten unter Gorbatschow rehabilitiert, die Archive wurden nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geöffnet.

Nach diesen Ereignissen wagte keine Staatsführung in der Sowjetunion mehr, die Fleischpreise zu erhöhen, die Bezahlung der Landwirtschaft musste aus anderen Töpfen vom Staat gestützt werden.

Zu lesen ist dieser hochinteressante Artikel auf JSTOR (Registrierung oder Login mit einem Google-Konto ist notwendig), über dieses Massaker kann auch auf Wikipedia nachgelesen werden.