Handbuch-DaF DaZ-1

Etwa alle zehn Jahre erscheint ein umfangreiches Handbuch zur Wissenschaft über das Deutschunterrichten für Nicht-Erstsprachler*innen, wobei das Deutschlernen in nicht deutschsprachigem Umfeld Fremdsprachenlernen und in deutschprachigen Ländern Zweitsprachenlernen genannt wird. Ich habe den ersten Band des vorletzten Handbuchs aus 2011, immerhin 1100 Seiten und 118 Artikel, durchgeblättert, wobei mein Interesse weniger dem Deutschunterrichten galt, sondern vielmehr dem sprachwissenschaftlichen Ansatz. Offen gestanden: Deutsch würde ich nicht als Fremdsprache lernen mögen. Dies wird durch dieses Handbuch bestätigt.

Erste Ansätze von Deutschbüchern für "Ausländer*innen" gab es bereits vor 1200 Jahren. Überliefert sind uns die Kasseler Glossen (Latein > Deutsch) sowie die Altdeutschen Gespräche mit vorgefertigten Gasthausdialogen (sowas wie ein Touristensprachbuch). Die Habsburger hatten intern im Mittelalter Wortlisten, in Venedig gab es im 14. Jahrhundert ein "Deutsches Haus" (Wirtschaftsdependence), in dem nur Deutsch gesprochen wurde und für Italiener*innen eine Wortliste vorlag. Das erste Methodenbuch für den Unterricht von Deutsch als Fremdsprache entstand wieder im Habsburger Reich nach der Einführung der Schulpflicht 1774 durch den Augustinerabt Johann Felbiger, der postulierte, dass den Kindern auch die Regeln ihrer Muttersprache (also Ungarisch, Rumänisch, Tschechisch usw.) beigebracht werden sollten.

In den Jahrhunderten bis heute verlor das Deutsche immer mehr an internationaler Bedeutung. Die Sprache des europäischen Adels und der Diplomatie wurde Französisch, im 20. Jahrhundert wurde die dominierende Wirtschafts- und Wissenschaftssprache das Englische. Deutsch wird kaum mehr als Zweit-, sondern als Dritt- oder Viertsprache gelernt.

In den linguistischen, also sprachwissenschaftlichen Kapiteln werden die Aussprache und die Rechtschreibung (inklusive Prinzipien der Reform von 1996) vorgestellt, bevor zum größten Problem für Deutschlernende vorgedrungen wird: die Flexion (die Beugungsendungen). Alleine die Menge an unterschiedlichen Formen, die gebilden werden müssen und die im Buch vorgestellt werden, erschlägt Lernende, da auch das Lernen von Kategorien so komplex ist, dass es nicht so richtig weiterhilft. Es gibt zwar Regeln für Mutter > Mütter sowie Mutter > Muttern, aber es ist einfacher, die Wortpaare zu lernen. Und für Verben gibt es alleine bei Verwendung im Aktivsatz 72 mögliche Formen pro Verb. Auch gibt es etwa 170 starke Verben (sowas wie gehen - ging - gegangen), die nach 39 unterschiedlichen Mustern gebildet werden. Also auch hier: Es ist leichter, die 170 Verben zu lernen als sich die komplexen Regeln zu merken.

Auch die Syntax, der Satzbau, unterscheidet sich von den meisten anderen Sprachen der Welt. Grundsätzlich ist das Deutsche eine linksdirektionale Objekt-Verb-Sprache (zu sehen an Nebensätzen oder sogenannten Verbklammern wie Ich muss ... einkaufen). Hauptsätze verschleiern dies, dort steht das flektierte Verb an zweiter Satzgliedstelle. Und wenn das Subjekt nicht an erster Stelle steht, muss es an die dritte gepflanzt werden (Dann gehe ich nach Hause. Falsch ist: *Dann gehe nach Hause ich oder *Dann ich gehe nach Hause). Letztere Form ist für viele Sprachen die normale (Then I go home), nur das Niederländische hat dieselbe Wortstellung (Dan ga ik naar huis).

Wegen der Linksdirketionalität muss im Deutschen oft lange gewartet werden, bis am Ende des Satzes die Aussage eindeutig übermittelt wird. Im Buch gibt es ein nettes Beispiel:

Die Angestellten trauten dem neuen Direktor von Anfang an.
Die Angestellten trauten dem neuen Direktor von Anfang an nichts Gutes zu.


Und nachdem Substantivformen, Verbformen, Adjektivendungen etc. gepaukt sind, muss beachtet werden, dass satzübergreifend grammatische Formen bedeutungstragend sind: Der Diktator, dessen Regime wir ablehnen - Der Diktator, dem wir dienen - Der Diktator, den wir stürzen. Und nicht zu vergessen: Es gibt drei grammatische Geschlechter. Die Diktatorin, deren Regime ... Und so weiter.

Dagegen ist die Wortbildung fast einfach, auch wenn es vor allem mit Präfixen seine Tücken gibt. umfahren ist nicht umfahren (je nach Betonung). Die verschiedenen Regeln zur Wortbildung sind im Buch verzeichnet, und das Deutsche ist vor allem bei Zusammensetzungen sehr produktiv (megaproduktiv würde man seit einiger Zeit sagen).

Wie viele Wörter gibt es im Deutschen? Für den Allgemeinwortschatz werden etwa 500.000 geschätzt, gut 200.000 hat das große Duden-Wörterbuch aufgenommen. Inklusive Fachsprachen schätzt man auf 10 Millionen. Die Alltagssprache umfasse etwa 35.000 Wörter. Für Studierfähigkeit werden 10.000 Wörter angenommen. Um im Alltag kommunikationsfähig zu sein, wird ein Wortschatz von 5.000 Wörtern als unterste Grenze angenommen.

Kritisiert wird (am Englischunterricht), dass Abiturient*innen etwa 2.000 Wörter kennten. Das sei schlichtweg zu wenig, um im Englischen kommunikationsfähig zu sein. Von Studierfähigkeit sei gar nicht zu reden. Ein Vergleich mit dem Erstsprachenerwerb wird gebracht. Bei durchschnittlicher Sprachentwicklung kennten Sechsjährige etwa 3.000 Wörter. Sprich: Abiturient*innen können Englisch auf Vorschul-Niveau.

10-Jährige hätten einen Wortschatz von etwa 18.000 Wörtern (ca. 7.500 Wortfamilien), 20-Jährige besäßen in ihrer Erstsprache einen Wortschatz von etwa 20.000 Wortfamilien (eine Wortfamilie sind alle Formen eines Wortstammes: arbeiten - die Arbeit - Arbeiter*in usw.). Das wären etwa 50.000 Wörter. Pro Jahr würden in der Erstsprache etwa 1.000 Wortfamiien gelernt.

Gefordert wird beim Fremdsprachenunterricht eine viel stärkere Hinwendung zum Erlernen des Wortschatzes. Um gesprochene Texte umfassend verstehen zu können (auch mediale Texte aus Film, Fernsehen, Radio), werde ein Wortschatz von 5.000 bis 7.000 Wortfamilien (also ca. 12.000 bis 17.000 Wörter) benötigt, um alle relevanten Texte des Alltags lesen zu können, würde eine Kenntnis von 8.000 bis 9.000 Wortfamilien benötigt (also von ca. 20.000 Wörtern).

Des Weiteren wird dann auf die Varietäten des Deutschen eingegangen (Sprachwandel vom Mittelalter bis heute mit seinen Regeln, regionale sowie dialektale Varianten, Jugendsprache im Alltag) und auf die Frage, ob diese auch unterrichtet werden sollten. Die Antworten sind pragmatisch: Es hängt vom Zielpublikum ab. Wer benötigt die deutsche Sprache wofür?

Darauf aufbauend wird ein Überblick über historische wie aktuelle Lehrmethoden gegeben, den ich hier nicht reflektieren will. Auffallend ist, dass sich Unterrichtsmethoden für das Fremdsprachenlernen sehr häufig ändern und sie auch umstritten sind. Lernende sind keine Maschinen und auch die Motivation, warum eine Sprache gelernt werden will/soll/muss, ist unterschiedlich. Insofern geht die Diskussion immer mehr in die Richtung, wie Lernende optimal unterstützt werden können, um ihre Ziele zu erreichen (Reisendendeutsch, Alltagsdeutsch, Studierfähigkeit als Beispielziele). Dafür gibt es für die unterschiedlichen Fertigkeiten (Hören, Sprechen, Lesen, Schreiben) durchaus Anregungen, wie ein Lernprozess, der sich beim Deutschen sehr komplex gestaltet, daher auch höchst fehleranfällig ist und demotivierend sein kann, unterstützt werden kann.