Finkielkraut-Ende

Der französische Philosoph und Mitglied der Academie Francais Alain Finkielkraut setzt sich in seinem soeben auf Deutsch erschienenen Buch auf oft lakonische und sarkastische Weise mit der Frage auseinander, ob neue Denkströmungen das Ende der Literatur bedeuteten. Im Zentrum seiner Reflexionen steht die Bewegung der Wachsamen (Woke).

"Literatur befasst sich mit dem individuellen Fall." Der Einzelmensch stehe im Zentrum. Die Bewegung der Wachsamen, welche den Diskurs nun nicht mehr nur in den USA, nicht mehr nur in der Akademia bestimme, mit ihrem Ziel, Herrschaftsverhältnisse abzubauen, erkläre den Menschen nicht mehr als Individuum, sondern als Repräsentant. Sei es der Mann als potenzieller Vergewaltiger, sei es das Weißsein als grundsätzliche Priviligiertheit, sei es das Nicht-Weißsein als grundsätzliches Opfer-Sein. Der Einzelmensch werde als Typus gesehen, nicht als Individuum. Er kann seinem Typus nicht entfliehen. Nicht seinem Mann-Sein, nicht seiner Hautfarbe. Er werde auf Basis biologischen Seins beurteilt und verurteilt.

Literatur auf dieser Basis sei wegen ihrer Typisierung, wegen ihrer engmaschigen Vorgaben, welcher Typus als böse und welcher als gut dargestellt werden müsse, in der Tradition des sozialistischen Realismus (Typus Proletariat vs. Nicht-Proletariat) und daher nicht in der Tradition der Literatur über das Individuum, welches der Kern literarischen Schaffens sei. Literatur sei damit am Ende. Dem stellt er aber Milan Kundera gegenüber, den er sehr schätzt, der auch im Umfeld sozialistisch-realistischer Ideologie eine Literatur der und über Individuen hat schaffen können.

Auch in der Abänderung historischer Literatur sieht er Parallelen zu totalitärem Zugriff auf Gewesenes. Ob nun die Wortwahl geändert wird oder ein Werk nicht mehr gelesen werden soll/darf oder ob Personen zur damnatio memoriae auf Bildern verdammt werden (Wegretouchieren von Personen auf Bildern war eine übliche stalinistische Praxis), beides ist der Ausdruck eines totalitären Zugriffs eines absolut gesetzten Gegenwartsdenkens auf Vergangenes.

Auch setzt er sich mit dem Trend auseinander, dass Privates in den sozialen Medien veröffentlicht werde, auch um Menschen zu vernichten. Es werde Gericht gehalten und der rechtsstaatliche Grundsatz des Unterscheidungsvermögens. der Abstufungen und Differenzierungen (angemessene Urteile) ausgesetzt. Er beobachtet, es werde kein Unterschied mehr gemacht zwischen verbaler sexistischer Entgleisung und Vergewaltigung. Beides sei gleich gewichtet. Ihn erinnere dieses Vorgehen an die Volksjustiz der maoistischen Kulturrevolution, an gewaltsame Rudeljustiz. Diese setze die rechtsstaatliche Strafjustiz außer Kraft.

Das Buch ist wegen der langatmigen lakonischen und sarkastischen Passagen manchmal zäh zu lesen, die Grundgedanken sind aber durchaus reflektierenswert.