Bernhard-Ein Kind

Der fünfte und letzte Teil von Thomas Bernhards Autobiographie geht zurück in die früheste Kindheit. Der Einstieg ist ein Ausreißversuch des Achtjährigen aus Traunstein in Bayern mit einem Steyrer Waffenrad nach Salzburg zu einer Großtante, deren Adresse er gar nicht weiß. Er kommt weit, bis die Kette reißt und er stürzt. Nach einem Gewitter bringen ihn Dorfjugendliche zurück nach Traunstein, wo er aus Angst vor der Mutter zu seinem Großvater nach Ettendorf läuft. Es war die Angst vor seiner Mutter mit dem Ochsenziemer und den ewigen Beschimpfungen, er sei ein Nichtsnutz wie der davongelaufene Vater.

Bernhard kam 1931 in Holland zur Welt und lebte danach viele Jahre bei seinem schriftstellerischen Großvater in Wien, dessen Frau durch Diensttätigkeiten das Überleben sicherte. Die Wohnorte danach bestimmten die Arbeitsstellen seines Stiefvaters. Ab 1935 war es Seekirchen am Wallersee (Salzburg Land) und schließlich ab 1937 Traunstein in Bayern, da seine Familie in Österreich keine Arbeitsmöglichkeit, keine "Überlebenschance" hatte. Sein Schwiegervater, den Bernhard durchgehend "Vormund" nennt, arbeitet als Friseur in Traunstein. Sein Großvater zog mit seiner Frau in einen Bauernhof am Ortsrand nach Ettendorf.

In Seekirchen freundete er sich mit Bauernkindern an, in Ettendorf mit dem Sohn des Bauern, bei dem die Großeltern lebten und der in den folgenden Jahrzehnten dem Wahnsinn verfiel, wie Bernhard schildert. Ansonsten war er in Traunstein ein armes Ausländerkind.
Als Esterreicher hatte ich es schwer, mich zu behaupten. Ich war dem Spott meiner Mitschüler vollkommen ausgeliefert. Die Bürgersöhne in ihren teuren Kleidern straften mich, ohne daß ich wußte, wofür, mit Verachtung. Die Lehrer halfen mir nicht, im Gegenteil, sie nahmen mich gleich zum Anlaß für ihre Wutausbrüche. Ich war so hilflos, wie ich niemals vorher gewesen war. Zitternd ging ich in die Schule hinein, weinend trat ich wieder heraus.
Ja, er schreibt wirklich "Esterreicher".

Seine Schulleistungen verfielen ab dem zweiten Schuljahr nach einem Lehrerwechsel, nur im Laufen war er der Beste und erhielt mehrere Preise. Von seinem Großvater übernahm er die Verachtung für die Katholische Kirche, den Nationalsozialismus und die Schule.
Die katholische Kirche war ihm eine ganz gemeine Massenbewegung, nicht mehr als ein völkerverdummender und völkerausnützender Verein zur unaufhörlichen Eintreibung des größten aller denkbaren Vermögen, die Kirche verkaufte in seinen Augen skrupellos etwas, das es nicht gibt, nämlich den lieben, gleichzeitig auch noch den bösen Gott, und beutet weltweit selbst die Ärmsten der Armen millionenfach aus nur zu dem Zwecke der unaufhörlichen Vergrößerung ihres Besitzes, den sie in gigantischen Industrien und in unendlichen Bergen von Gold und in ebenso unendlichen Stößen von Aktien in beinahe allen Bankhäusern der Welt fundiert hat. Jeder Mensch, der etwas verkauft, das es nicht gibt, wird angeklagt und verurteilt, sagte mein Großvater, die Kirche verkauft Gott und den Heiligen Geist seit Jahrtausenden in aller Öffentlichkeit völlig ungestraft. Und ihre Ausbeuter, mein Kind, und also Drahtzieher, wohnen außerdem in fürstlichen Palästen. Die Kardinäle und Erzbischöfe sind nichts anderes als skrupellose Geldeintreiber für nichts.
Die Schulen überhaupt und die Volksschulen im besonderen seien grauenhafte, schon den jungen Menschen in seinen Ansätzen zerstörende Institutionen. Die Schule an sich sei der Mörder des Kindes. Und in diesen deutschen Schulen sei überhaupt die Dummheit die Regel und der Ungeist der treibende. Da es nun aber einmal Pflicht sei, die Schule zu besuchen, müsse man seine Kinder hinschicken, auch wenn man wisse, man schicke sie ins Verderben. Die Lehrer sind die Zugrunderichter, sagte mein Großvater.
Lehrer seien nichts anderes als Verzieher, Verstörer, Vernichter. Wir schicken unsere Kinder in die Schule, damit sie so widerwärtig werden wie die Erwachsenen, denen wir tagtäglich auf der Staße begegnen. Dem Abschaum.
Über die Misshandlungen, die er in der Schule erdulden musste:
Ich mußte jetzt sehr oft vor dem Lehrerpult Aufstellung nehmen, damit mir der Lehrer mit dem Stock auf die Hand schlagen konnte. Ich hatte meistens geschwollene Hände. Zuhause sagte ich von meinem Mißgeschick nichts. Ich haßte den Lehrer mit der gleichen Intensität, mit welcher ich die Lehrerin, seine Vorgängerin, geliebt hatte.
Beinahe surreal ist die Beschreibung der Rede des Gauleiters bei einem Kreistag in Traunstein.
Ich sehe noch, wie der Gauleiter Giesler das Podium besteigt und zu schreien beginnt. Ich verstand kein Wort, denn die Lautsprecher, die um den ganzen Platz aufgestellt waren, um Gieslers Rede zu übertragen, übertrugen nur ein gewaltiges Gekrächze. Plötzlich fiel der Gauleiter Giesler in sich zusammen und verschwand wie eine ockerfarbene Puppe hinter dem Rednerpult. In der Menge verbreitete sich sofort, daß den Gauleiter Giesler der Herzschlag getroffen habe.
Bernhard schreibt zwar, dass am Abend noch der Tod von Giesler im Radio verkündet worden sei, was aber nicht stimmen kann. Giesler verstarb im Mai 1945 nach zwei Suizidversuchen.

Alle Buben mussten dem Jungvolk beitreten. In der Rückschau schreibt Bernhard:
Auf diesem Kreistag war ich noch nicht Mitglied des sogenannten Jungvolks, einer Vorstufe der sogenannten Hitlerjugend. Kurz darauf war ich es. Ungefragt mußte ich eines Tages im Hof der Realschule, die gleich neben dem Gefängnis liegt, mit einer Reihe von Gleichaltrigen vor einem sogenannten Fahnleinführer antreten.
Das Jungvolk war mir noch entsetzlicher als die Schule. Ich hatte es bald satt, immer die gleichen stupiden Lieder zu singen, immer dieselben Gassen mit Marschschritt und lautem Geschrei zu durchqueren. Die sogenannte Wehrertüchtigung haßte ich, ich war für das Kriegsspiel ungeeignet.
Das einzige, das mir am Jungvolk imponierte, war eine braune, absolut regensichere Pelerine.
Von Politik verstand ich noch nichts, mir ging nur alles, was mit dem Jungvolk zusammenhing, gegen den Strich.
Da er Bettnässer war, wird er schließlich zur "Erholung" nach Saalfeld in Thüringen geschickt, in ein Heim, das eigentlich ein Erziehungsheim für Schwererziehbare war. Die Eltern dachten, es ginge ins nahe Saalfelden nach Salzburg. Das Leben im Heim war bedrückend, wegen seines Bettnässens war er Außenseiter, nur einer war ihm nahe, ein an Rachitis erkranktes Kind, das einkotete. Berührend wie erniedrigend fand er, wie sich alle bei der Hinfahrt um den armen Österreicher ohne Jausenbrote kümmerten und ihm von ihren Brotstullen abgaben, sodass er am Ende mehr zu essen hatte als jeder andere.

Bei dem ehemaligen Erziehungsheim, das bei einem Besuch Bernhards in den 1970er Jahren auch in der DDR als solches weitergeführt wurde, wird heutzutage an diesen österreichischen Schriftsteller erinnert. Nachzulesen auf der Hompage Literaturland Thüringen.

Am Ende der Traunsteiner Zeit und auch des Krieges wollte sein Großvater ihn in eine Handelsakademie in Passau einschreiben lassen, Bernhard bestand die Aufnahmeprüfung auch mit Auszeichnung, da jedoch sein Großvater die Stadt abstoßend fand, entschied er sich für Salzburg. Womit wir wieder beim ersten Band der Autobiographie wären: Die Ursache.