Hunt-General

Tristram Hunt ist britischer Historiker mit Abschluss in Cambridge, derzeit Direktor des Victoria and Albert Museum in London und war in den 2010er Jahren aktiv in der Labour Party tätig. Den Parteivorsitz hat er gegen Jeremy Corbyn verloren. Seine Biographie über Friedrich Engels wurde 2009 veröffentlicht.

Für dieses Werk recherchierte Hunt auch in Russland und er besuchte die Stadt Engels an der Wolga. Kernfrage ist, ob Engels für die diktatorische, blutige Umsetzung der kommunistischen Idee im 20. Jahrhundert mit verantwortlich gemacht werden kann.

Engels wird als Textil-Magnat, Liebhaber einer extravaganten Lebensführung und Frauenverehrer vorgestellt. Auch seine dunklen Seiten werden nicht verschwiegen. So ist er über die Jahrzehnte einer, der Denker oder Parteigenossen mit unterschiedlichen Auffassungen bzw. Konkurrenten um Einfluss persönlich unter der Gürtellinie angegriffen hat. Als er 1846 die Frau von Moses Hess zur Flucht nach Paris verholfen hat, ist er bewusst ein Verhältnis mit ihr eingegangen, um Hess hörnen zu können. Bis heute ist die Frage offen, ob er sie gegen ihren Willen gezwungen hat. Seine Lebenslust zeigt sich auch an den vielen Feiern, die es in seinem Haus gab, der Liebe für Bier und guten Wein sowie seine "Urlaube" während der 1848/49er Revolution, als er durch Burgund wanderte (bei Wein, Weib und Gesang mehr oder weniger wörtlich) und bei einem Arbeitstrip 1888 in die USA, als er nicht wie geplant Industriegebiete aufsuchte, sondern die Niagarafälle und Südostkanada (er war "Tourist"). Eine andere Reise öffnete ihm die Augen, als er 1856 mit seiner irischen Lebesgefährtin nach Irland reiste und er die Auswirkungen der Hungerskatastrophe vor einigen Jahren sehen konnte.

Aufgewachsen ist Friedrich Engels in der Textilhochburg Barmen an der Wupper (heute Teil von Wuppertal) in einer Familie von Textilfabrikanten, sein Vater hat mit einem niederländischen Unternehmer eine gemeinsame Firma mit Produktionsstandort auch in Manchester gegründet. Der Familienethos war streng calvinistisch und bald hat sich Engels mit seinem Vater überworfen. Schon als 19-Jähriger veröffentlicht Engels unter Pseudonym in seinen "Briefen aus Wuppertal" Berichte über die schrecklichen Arbeitsbedingungen der Textilarbeiter und die Umweltverschmutzung in Barmen. Hingezogen war er zu nationalromantischen Ideen inklusive Mittelalterverehrung, als Student in Berlin lernt er den Kreis der lebenslustigen Junghegelianer kennen, Vorlesungen von Schelling besucht er gemeinsam mit Jacob Burckhardt, Michael Bakunin und Soren Kierkegaard. Sozialistische Ideen lernt er von Saint-Simon, Fourier, Blanqui und persönlich vor allem von Moses Hess kennen.

1842 schickt ihn sein Vater in die Dependence nach Manchester, um ihm die Flausen aus dem Kopf zu vertreiben, doch dort war der junge Student dermaßen schockiert über die frühindustriellen Zustände, sodass er ein Werk über die Lage der Arbeiter in England schrieb, in dem er nicht nur seine Beobachtungen, sondern auch Auszüge aus Regierungsberichten über die hygienischen Bedingungen zu Papier brachte. Er war mit Steiks konfrontiert wie auch mit Ideen von Robert Owen wie der Wahlrechtsbewegung der Chartists. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass nur die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln die Arbeiterschaft aus ihrem Elend befreien kann.

Die Begegnung mit dem zwei Jahre älteren Karl Marx war schließlich der Wendepunkt in seinem Leben. Gemeinsam veröffentlichten sie, organisierten den Bund der Kommunisten und formulierten deren berühmt gewordenes Manifest (damals ein Ladenhüter). In den 1840er Jahren war er noch überzeugt, dass die gesellschaftliche Umwälzung nur durch eine gewaltsame Revolution vollzogen werden kann. So war er auch kurz während der Revolution in Barmen, doch die Aufständischen wollten den bekannten Radikalen loshaben, er war ein Sicherheitsrisiko. Darauf folgte die Burgund-Tour (siehe oben).

1849 ging er zurück in die Firma seiner Eltern nach Manchester, wo er zwei Jahrzehnte als Manager tätig war und den nun in London lebenden Karl Marx finanziell unterstützte. Engels wurde Teil der High Society und liebte die Fuchsjagd. Auch hatte sich Manchester verändert, die Elendsviertel waren mehr oder weniger verschwunden, die Boom-Jahre brachten auch für die Arbeiterschaft Verbesserungen im materiellen Leben. Die verlorenen Revolutionen (Engels war auf der Seite der Ungarn und verabscheute die slawischen Völker, die am besten untergehen sollten) brachte ihn zu der Ansicht, dass sie durch einen Dolchstoß in den Rücken durch die Bourgeosie, die schließlich mit den Herrschenden zusammengingen, nicht erfolgreich sein konnten.

Engels hatte gegenüber Kolonialismus immer eine "Hegelianische" Auffassung, dass die Kolonialmächte diejenigen seien, welche das gesellschaftliche Niveau in unbeweglichen alten Gesellschaften der Beherrschten heben und daher ein progressive Aufgabe erfüllen (Frankreich in Algerien, England in Indien). Als er jedoch 1856 die entvölkerten Dörfer in Irland sah, änderte sich seine Einstellung und er begann die brutale Seite des Kolonialsimus zu begreifen.

1869 wurde nach dem Tod seines Vaters der Vertrag in der Firma beendet und das holländische Unternehmen verabschiedete ihn mit einem goldenen Handshake (12.500 Pfund, heute umgerechnet etwa 2,5 Mio Euro). Dieses Geld inverstierte er hauptsächlich in Aktien, von deren Rentenerträge er lebte und Marx, seinen eigenen Kreis der irischen Lebensgefährtin wie auch viele politische Initiativen unterstützte. Auf eine mögliche Doppelmoral angesprochen, erwiderte Engels, dass das Geld sowieso schon von den Arbeitern gestohlen ist, jetzt käme es darauf an, wie es genutzt werde. Asket war er keiner.

Engels zog nach London in die Nähe von Marx, den er täglich besuchte, und sein Haus wurde ein Zentrum der europäischen Sozialisten. So wurde er oft auch von August Bebel, Karl Kautsky oder Wilhelm Liebknecht aufgesucht. Ein Schock dürfte gewesen sein, als 1871 nach der Niederschlagung der Pariser Commune etwa 10.000 Aufständische binnen einer Woche getötet wurden. 1882 äußerte er gegenüber Bebel, dass ein europäischer Krieg eine Katastrophe mit Millionen Toten sei, auch würde die Arbeiterschaft sehr empfänglich für nationalistische, chauvinistische Sentiments werden. Vor allem nach Bismarcks Kriegen sieht er die Gefahr, dass die Arbeiterbewegungen einem Nationalismus nachgeben könnten. Nach den Wahlerfolgen der SPD, deren Entwicklung er eng verfolgte, sah er die Möglichkeit, dass die Arbeiterschaft die Macht über Wahlen erringen kann und dies einen kontinuierlichen Prozess darstellt. Engels beginnt demokratische Strukturen revolutionären vorzuziehen. Und beim Internationalen Arbeiterkongress 1893 in Zürich plädiert Engels für die Freiheit der Debatte. Die Arbeiterbewegung dürfe keine dogmatische Sekte werden.

Engels stirbt 1895 an Kehlkopfkrebs, er hinterlässt ein Vermögen von etwa 4 Mio Euro nach heutigem Wert, seine Asche wird nach seinem Wunsch im Ärmelkanal verstreut.

Die Antwort auf die Frage, ob Engels für die kommunistischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts mit verantwortlich sei, verneint Hunt. Engels sei nie ein Dogmatiker gewesen, sondern seine Überzeugungen haben sich den aktuellen Entwicklungen angepasst, gegen Ende seines Lebens sei er für einen sozialdemokratischen Weg eingetreten und habe sich strikt gegen eine dogmatische Diktatur innerhalb der Parteien und Organisationen ausgesprochen. Lenin und Stalin hätten unter Berufung auf den Anti-Dühring wie auch die Notizen zum dialektischen Materialismus ihre eigenen dogmatischen Süppchen gekocht. Engels habe dezitiert gesagt, seine und Marx' Geschichtsauffassungen seien Richtlinien für das Studium und keine Anleitung Hegelianische Objekte zu kreieren. Die Marx'sche Auffassung sei ein Denkweg und keine Doktrin.