Stephan Hermlin - Abendlicht
31.05.2025 um 23:21
Dieser schmale Band mit Erinnerungsskizzen aus dem Leben von Stephan Hermlin ist 1979 gleichzeitig in der DDR und in der Bundesrepublik erschienen. In 22 assoziativen Bildern werden traumartig Bruchstücke aus seinem Leben präsentiert - vom Aufwachsen in einer gutbürgerlichen Berliner jüdischen Familie während der Weimarer Republik, von der Radikalisierung der Politik gegen Ende dieser Epoche, von seinem Beitritt als 16-Jähriger zum Kommunistischen Jugendverband, vom NS-Irrsinn, von verschiedenen Orten des Exils (Frankreich, Schweiz). Immer wieder müht er sich ab an der Kluft zwischen einem marxistischen Ideal und der Realität, ohne jedoch allzu konkret zu werden, obwohl doch bekannt ist, dass Hermlin sich durchgehend an die Seite der Literatur gestellt hat, wenn sie von der Partei in die Enge getrieben worden ist.
Weit interpretierbar ist sicherlich die interessante Episode, dass am Ende der Weimarer Republik in einer Schlagzeile gestanden habe, dass am 19. August England im Meer versinken würde.
Der Hinweis darauf, daß alle anderen Zeitungen, unberührt von der Nachricht, fortfahren würden, die neuesten Meldungen aus England zu bringen, ja selbst das Vorzeigen englischer Blätter mit ihren Hofnachrichten und den letzten Ergebnissen des Turniers in Wimbledon ebenso gut wie eine Einladung zu einer gemeinsamen Reise nach England, um sich durch Augenschein vom Weiterbestehen der Insel zu überzeugen – all das würde mit dem wortlosen Lächeln der Überlegenheit abgetan werden. Denn für jene, die beschlossen hatten, von nun an dem Meister zu folgen und auf diese Weise in der Wahrheit zu sein, würde jeder Gegenbeweis Teufelswerk und Täuschung bedeuten, eine anderslautende Zeitungsmeldung so gut wie das Anlegen der Fähre in Folkestone oder Dover.Eine Interpretation legt er nach, aber sie ist wohl kaum auf die Nachkriegsignoranz einzuengen, wie der Text vorgibt. Sie ist allgemeingültiger.
Ich gewöhnte mich daran, unter Wahnsinnigen zu leben. Mein Leben hindurch habe ich beobachten können, wie der Wahnsinn sich verbreitete, wie er auf andere Länder übergriff. Nur so war zu erklären, warum noch Jahrzehnte nach dem Kriege Tausende behaupten konnten, sie hätten von den faschistischen Untaten nichts gewußt. Wem nachdrücklich eingeredet wird, daß das, was er sieht, gar nicht existiere, weil, hielte er es für die Wahrheit, er an Leib und Leben Schaden nehmen müsse, der hat die Wahl zwischen Tod und Wahnsinn.Diese Überlegungen sind (leider) gut gealtert.