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Reinhard Wittmann - Geschichte des deutschen Buchhandels
07.06.2025 um 17:10
Ich habe dieses Werk des Münchner Literatur- und Buchwissenschafters Reinhard Wittmann in der zweiten Auflage aus 1999 vorliegen, aktuell ist die dritte aus 2011. Es gibt einen Überblick nicht nur über den Buchhandel mit Handschriften im Mittelalter bis zum Ende des zweiten Jahrtausends, sondern auch Einblick in Verlage, die Vertragsverhältnisse der Schreibenden und die Leserschaft. Wenn immer möglich, sind die Aussagen mit statistischen Zahlen unterlegt.
Nachvollzogen wird der Transfer der Buchzentren vom ursprünglich südwestdeutschen Raum (Nürnberg, Augsburg, Straßburg, Köln, Basel) im Lauf des 18. Jahrhunderts ins liberalere Sachsen mit dem Zentrum Leipzig. Erst mit der DDR verlagerte sich das Zentrum in den Westen nach Frankfurt/Main, wo es sich auch heute noch befindet.
Lange Zeit war aufgrund der Verkehrsverhältnisse es mehr oder weniger nur bei den Buchmessen möglich, Bücher zu verteilen, und diese nicht gebunden, sondern in ungebundenen Bögen. Verkauft wurde es von Buchführern an den langsam beginnenden stationären Handel, der jedoch nicht wie heute binnen kürzester Zeit Bücher bestellen konnte. Verkauft wurde hauptsächlich auf Märkten. Die Darstellung des Buchführers Hainrich Kepner aus Nürnberg (1543) ist nun auch als gemeinfreies Bild auf Wikimedia:

Über die unsichere Existenz von Buchführern schrieb noch Johann Gottfried Herder Ende des 18. Jahrhunderts:
„Der Buchführer muß zur Messe reisen, ein großes Kapital zum Ankauf der Bücher anlegen, die theure Fracht und Assekuranz bezahlen: von den mitgebrachten Büchern sezt er etwa den vierten Theil ab, aber gemeiniglich auf Credit; die Bezahlung erfolgt erst nach geraumer Zeit, wohl gar mit einigem Verlust. Manches Buch liegt mehrere Jahre unverkauft."Auch war lange Zeit aufgrund der hohen Preise und der geringen Alphabetisierung der Bevölkerung nur einem sehr kleinen Teil der Bevölkerung es möglich, Bücher zu erwerben. Dennoch war vor allem zur Zeit der Reformation und der Bauernkriege in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Verbreitung schriftlicher Propaganda enorm, da die Herstellung billig war und sich wohl ausreichend Vorleser fanden.
Beinahe durchgehend ist der Streit zwischen Verlagen und Autor:innen um das Honorar. Verlage wollen am liebsten nichts zahlen. Hauptberufliche Schriftstellerei war und ist eine prekäre Angelegenheit. Nur sehr wenige können bis heute vom Buch- und Textverkauf gut leben. Marktgerechte Honorare wurden ab ca. 1800 üblich, zuvor sind Selbstverlagsinitiativen wie z. B. von Klopstock gescheitert. Aber noch Theodor Fontane klagte:
„Die Stellung eines Schriftstellers ist miserabel. Welchem Lande nach dieser Elendsseite hin der Vortritt gebührt, mag schwer festzustellen sein, doch wird sich vielleicht sagen lassen, dals Preußen-Deutschland immer mit an erster Reihe figuriert hat und erfolgreich bemüht ist, sich auf dieser alten Höhe zu halten. Die, die mit Literatur und Tagespolitik handeln, werden reich, die sie machen, hungern entweder oder schlagen sich durch. Aus diesem Geld-Elend resultiert dann das Schlimmere: der Tintensklave wird geboren. Die für die Freiheit arbeiten, stehen in Unfreiheit und sind oft trauriger dran als mittelalterliche Hörige."Für 1911 zieht Wittman eine Informationsbroschüre des Schutzverbands Deutscher Schriftsteller heran. Die Autoreneinkommen seien wie folgt gewesen:
Nach Freds Bereichnungen waren mit Dramen, insbesondere Lustspielen, leicht jährliche Einkommen von 10000 bis 15000 Mark erzielbar, die bei Publikumserfolgen bis auf 100000 Mark ansteigen konnten (dies entsprach den Tantiemen von Gerhart Hauptmann). Bei jährlicher Verfertigung von zwei erfolgreichen Romanen sei mit 25000 bis 50000 Mark Jahreseinkommen zuzüglich Buchhonoraren zu rechnen. An der unteren Grenze der schriftstellerischen Einkommensskala reihte Fred jene Autoren ein, die vom journalistischen Vertrieb kleinerer Arbeiten lebten: Sie hätten sich mit weniger als 10000 Mark im Jahr zu bescheiden. Immerhin lag das Durchschnittseinkommen eines Verwaltungsangestellten damals bei 2500 Mark jährlich.Wolfgang Koeppen 1972: „Werde ich krank, unfähig, bleibe ohne Einfall, stürze ich ab."
Zurück ins 18. Jahrhundert. Aufgrund der hohen Buchpreise und der schwierigen Transportverhältnisse blühte das Nachdruckwesen ("Raubkopien"), das in Wien sogar von höchster Stelle gefördert wurde, so von Erzherzogin Maria Theresia (der angesprochene Trattner ist ein Top-Verleger in Wien, Sonnenfels ein Schriftsteller):
„Unterdessen aber, lieber Trattner, sagen Wir ihm, daß es unser Staatsprinzip sei, Bucher hervorbringen zu lassen, es ist fast gar nichts da, es muß viel gedruckt werden. Er muß Nachdrucke unternehmen, bis Originalwerke zustande kommen. Drucke Er nach. Sonnenfels soll ihm sagen, was."Erste Urheberrechtsinitiativen begannen beim Wiener Kongress 1815, aber zunächst nur für Verlage, die mit dem Kauf eines Manuskripts ewige Verwertungsrechte beanspruchten. Die Interessen der Autor:innen fanden erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zaghaft Eingang in Gesetze, 1870 in ein gesamtdeutsches Gesetz. 1825 gründete sich als Interessensvereinigung der Börsenverein der Deutschen Buchhändler. 1888 wurde vom Börsenverein die Buchpreisbindung beschlossen.
Der Vertrieb durchlief folgende Entwicklungsstufen:
- Tauschhandel: Die Verleger tauschten auf Buchmessen gegeneinander Druckbögen und versuchten sie dann in ihrem Einflussbereich zu verkaufen.
- Nettohandel: Bücher werden vom Zwischenhändler und vom Sortiment gekauft. Was nicht verkauft werden kann, ist Verlust.
- Kommissionshandel: Abgerechnet wird nur, was verkauft wird. Unverkauftes wird einmal im Jahr den Verlagen auf einer Buchmesse zurückgegeben.
Raum widmet Wittmann auch staatlichen Eingriffen in das Buchwesen. So konstatiert er, dass nach der Zensur bis zur Märzrevolution 1848 sich ein juristisches System durchsetzte, das nicht das Buch, sondern Personen angriff: Verbreitung und/oder Verfassen von Schriften, die gegen ein Gesetz verstießen. Besonders perfide sei dies im Nationalsozialismus gewesen, wo es keine Vorzensur gab, aber wenn eine Veröffentlichung dem NS-System sauer aufstieß, konnte dies das Leben der Beteiligten kosten. Wer noch blieb und schrieb (also in der Reichsschrifttumskammer Mitglied war), lebte in permanenter Angst und dauernder Selbstzensur.
Das Verlagssystem wurde während des Nationalsozialismus in seiner Eigentümerstruktur radikal verändert: Jüdische Verlage wurden arisiert, verschwanden oder schafften es, durch nichtjüdische Treuhänder zu überleben. In der DDR mussten Verlage in den Westen gehen, um nicht verstaatlicht oder scheinverstaatlicht (Parteieigentum) zu werden.
In der Bundesrepublik, in der Verlage praktisch ungehindert tätig sein konnten, steigerte sich die Zahl der jährlichen Neuerscheinungen von 14.000 (1951) auf 67.000 (1980). Auch wurde der Preis von Büchern erschwinglicher:
Insgesamt sind die Durchschnittsladenpreise für Bücher weit weniger gestiegen als die allgemeinen Lebenshaltungskosten, nämlich von 6,84 DM im Jahr 1951 auf 40,46 DM im Jahr 1997. Ein Roman, der damals zehn Mark kostete, müßte (nach Stundenlöhnen berechnet) heute für 185 Mark verkauft werden.Beobachtbar ist eine Eigentümerkonzentration sowohl bei Verlagen als auch beim Buchhandel. Die Verlage werden von zwei Eigentümergruppen dominiert: Bertelsmann und Holtzbrinck. Von den bedeutenden Verlagen waren 1999 Suhrkamp, Hanser, Aufbau und Luchterhand unabhängig. Letzterer wurde 2001 von Random House (Bertelsmann) übernommen.
Diese Auflage endet wohl zu einer Sattelzeit: Am Beginn des elektronischen Zeitalters, das sowohl den Vertrieb (Internet; Amazon wird genannt) wie auch die Welt der Trägermedien (elektronisches Buch) ändern wird. Wohin die Reise geht, wagt Wittmann nicht zu prognostizieren, denkt jedoch, dass aufgrund der Unsicherheit bezüglich Langlebigkeit von Speichersystemen das Papierbuch nicht untergehen werde.