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Gabriele Wohmann - Eine souveräne Frau
08.09.2025 um 17:35
2012 hat der Aufbau-Verlag diesen Erzählungsband der Darmstädter Schriftstellerin Gabriele Wohmann herausgegeben, der ihre gesamte Schreibspanne umfasst. Wohmann ist eine sprachliche Meisterin des knappen, distanzierten Erzählens über kleine Welten, Beziehungen und Nichtbeziehungen, kleine Bösartigkeiten, verlorene Liebe, tristen Alltag, Einsamkeit. Auch sind ihre Geschichten Miniaturen ohne viel Vorgeschichte, Hintergrund und vor allem ohne jeglichen Ausblick. Die meisten brechen einfach ab und bilden manchmal ein schwer zu entschlüsselndes Rätsel. Ein Manko ist vielleicht, dass viele der Geschichten eine sehr enge gesellschaftliche Welt abbilden: Sehr viele ihrer Charaktere stammen aus einer gutsituierten akademischen Mittelschicht.
Hier ein Überblick über die 20 Erzählungen.
Ein unwiderstehlicher Mann
Die Hauptfiguren dieser in den 1970er Jahren spielenden Erzählung sind alle um die 40 Jahre alt und durchleben ihre letzten Hormonstürme.
Marcelle, eine Französin mit zum Teil deutschen Wurzeln, lebt als Sprachlehrerin an einer Universität im Mitt-Westen der USA. Sie ist eine „alte Jungfer“ und fühlt sich an ihrem Ort einsam. Befreundet ist sie mit dem in Kalifornien lebenden Ehepaar Brenda und Allen Dennet. Bei einem Besuch verliebt sie sich heftigst in Allan, doch dieser Hormonsturm bleibt einseitig. Als Brenda nach Jahren erfolgloser Versuche schwanger wird, freut sie sich mit ihr.
Die Situation ändert sich, als Brenda ihr schreibt, dass Allan sie wegen einer Jüngeren verlassen will. Zu Weihnachten ist nicht nur Marcelle bei den Dennets zu Gast, sondern auch die junge Geliebte Sally Whitebrook. Allan ist hin und her gerissen zwischen Vernunft und Leidenschaft. Auf die Frage, was er tun solle, meint Marcelle lakonisch, er solle sich erschießen.
Gesagt, getan. Beide Frauen gebären Töchter und leben glücklich … bis an ihr Lebensende?
Habenseite: Sehr realistische Schilderung der Gefühlsstürme und die elaborierte Sprache.
Sollseite: Die Überhöhung von Allan als idealer Mann (erotisch und intellektuell) und das doch etwas menschenverachtende Fazit.
Käme doch Schnee
Eine Witwe und ein Mann auf einer spätherbstlichen Parkbank. Nebel, Nässe, Kälte, Krähen. Düsterste Stimmung. Die Frau meint nur, der Mann müsse sie heiraten. Alleine wegen ihres Sohns Michel, da „die Leute“ auf ihr rumhackten wie Krähen, da sie alleinerziehend ist. Das war’s für diese Miniatur. Ein bedrückendes Gesellschafts- und Lebensbild auf drei Seiten.
Der Strom
Dies ist eine sehr kryptische Erzählung um eine Frau namens Lisse mit „felsigem Gesicht“, die allabendlich im Kreideland auf einem Sessel stumm neben der Heizung sitzt. Ein Gasthaus? Eines abends erzählt sie von Beffe aus dem Bergland, der Bier gebraucht und Wein gekeltert hat. Er ist in den Strom gegangen und wurde im für ihn unwirtlichen Kreideland an Land geschwemmt.
… eigentlich ist sie, die knochige sonderbare Lisse, so gut wie der Strom, wie Nase und Duft und verborgene Schätze daran schuld, dass Beffe sich umbrachte. Versuchung und Mord - sie krampften die Finger um die Tassenhenkel, schwitzten und schwatzten: Beffes Schicksal wollten sie nicht erleiden.Große Liebe
Eine junge Frau, die zum Leidwesen ihrer Familie die Stellung als Musiklehrerin aufgibt und in einer Bibliothek zu arbeiten beginnt, erinnert sich zurück, als sie vor einem Jahr mit einem Alfred Hecht zu einer Literaturtagung gefahren ist. Hecht will sich scheiden lassen, aber irgendwie wird das nichts aus ihrer Beziehung, eine mitternächtliche Annäherung funktioniert nicht. Auf der Tagung lernt sie den schüchternen provinziellen Lyriker Egbert Stiehl kennen, der öffentliche Auftritte scheut und mit einer Llisabeth verlobt ist. Die beiden schreiben sich (er ihr in Versen) und sie besucht ihn auch im Dorf. Alles platonisch. Doch als Lisabeht, eine lebensfrohe junge Frau, Egbert verlässt, heiraten die beiden. Große Liebe? Eher großer Kompromiss. Wohl ein ironischer Titel.
Die Bütows
Dies ist die bösartige Abrechnung mit einer typischen, jedoch brutalen deutschen Apothekerfamilie. Der Pharmazeut Karl Bütow heiratet mit Else in eine reiche Apothekerfamilie ein. Beide sind sportlich, essen gesund, nehmen am kulturellen Leben der Stadt teil, besitzen ein Premieren-Abo und halten einen Hund, eine deutsche Dogge. Karl Bütow ist der Ansicht, dass die Frau dem Mann untertan zu sein habe, und Kranke verachtet er.
Beide Bütows entrüsten sich über diese Tränentiere und Wracks und Schlappschwänze, die nicht einmal am Rost die Schuhsohlen abstreifen können, törichte Fragen stellen, Schirme vergessen und sich immer wieder an der Apothekentür irren: Innen steht ziehen, da drücken sie, außen steht drücken, da ziehen sie.Ihre Erziehung ist brutalst. Die Vierjährige sei schon etwa zweihundertmal geschlagen worden.
Karl und Else schlagen aber immer nur mit der Hand. Karl schlägt meistens auf den Hinterkopf, Else schlägt mütterlicher, schlägt ins Gesicht, da trifft sie, als Linkshänderin, die linke Ohrgegend ihrer durchweg tapferen Kinder. Die Bütows nennen ihre Erziehung Vorbereitung fürs Leben.Flitterwochen, dritter Tag
Die Frau sitzt mit ihrem frisch angetrauten Reinhard am späten Nachmittag auf einer Strandtterrasse und starrt auf die einzentimeter große Warze auf seiner Schulter. Er wird kündigen. Sie trinken Bier, sie denkt an die Wohnung, die sie einrichten werden, und an den Tee vom Teegroßhändler. Und immer wieder an die Warze. Schließlich stehen sie auf und gehen. Irgendwie trost- und hoffnungslos, diese Beziehung.
Eine souveräne Frau
Eine Gruppe von Personen sitzt in einem Wiener Café, sprechen über das Altern und dass ihnen Wien nicht gefällt, sie Luzern vorziehen. Es wird sich darüber beklagt, dass die Kinder Fächer wie Pädagogik, Soziologie, Theaterwissenschaften studieren. Mehr ist da nicht. Ziemliche Lebensleere, die präsentiert wird.
Hilfe!
Auch dies eine eher deprimierende Geschichte über zwei Menschen in einer seelischen Verfassung, die als Midlife-Crisis bekannt ist. Ida Schapiro (44, ehrenamtlich in einem Literatur-Archiv tätig, eine in einem Internat lebende 16-jährige Tochter, lebt getrennt von ihrem Mann) und Stephan Speicher (56, ehemaliger Bankangestellter und jetzt Heilpraktiker, dem Alkohol zugeneigt, mit einer 78-jährigen Tante im Haus lebend) treffen sich wöchentlich zu einem Abendessen und einem Umtrunk. Beide fühlen sich voneinander angezogen, doch Ida wundert sich, dass er sich noch nie nach Hause eingeladen hat. Nach dem Anbieten des Du-Wortes ist es so weit, er gibt ihr seine Adresse, es ist ein Haus, aus dem sie einmal einen Hilfeschrei gehört hat. Und als sie anläutet ist in ihrem Kopf wieder das „Hilfe! Hilfe!“, obwohl Stephan nur ihren Namen gerufen hat. Idas Leben ist zerrüttet, doch scheint eine Lebensänderung mit Stephan panische Angst hervorzurufen.
Die Inselkrankheit
Eingebettet in diese kurze Geschichte über ein Ehepaar auf Herbsturlaub auf einer Nordseeinsel ist eine surreale Tierkrankheit, die es dort zu geben scheint. Das Ehepaar Konrad (Logistiker eines Elektrounternehmens in Göppingen) und Maria Strauß fordern vom Direktor des Kurhotels einen Preisnachlass, da das Wetter Ende Oktober regnerisch ist und es eine Tierseuche gebe, die vielleicht auf Menschen überspringen könnte. Der Hoteldirektor lehnt ab, da die Nachsaison bereits ermäßigt angeboten wird. Was es mit der Tierkrankheit an sich hat, bleibt im Dunkeln: Ein Vogel hämmert mit dem Schnabel gegen das Fenster des Hotelzimmers, ein blindes Kaninchen läuft selbstmörderisch in Richtung Meer.
Dass die Ehe zerrüttet ist, zeigt sich an der stillen wie geäußerten Dominaz von Konrad. Als seine Frau beim Streit mit dem Direktor auch das Wort ergreift, sind Konrads Gedanken:
Oh, wie mutig, wie ärgerlich, dass Maria sich mit dieser Bekundung vorgewagt hatte! Konrad spürte den Verfall von Wörtern, sobald sie aus ihrem Kehlköpfchen kamen. Ein Mangel an Sprechtechnik zerrüttete Marias Botschaften.Im Hotelzimmer herrscht Befehlston:
Mach das Licht aus, Maria, ordnete Konrad an.Dass diese Beziehung weiterlaufen wird, ist gegen Ende formuliert:
Er wusste das ja von Maria: wie er liebte sie strapaziöse Wanderungen auch nur wegen der ihnen innewohnenden Chance, sich später, in übertriebener Müdigkeit, ganz sanftmütig an sie zu erinnern.Verliebt, oder?
Ganz klar ist nicht, wer da auf einem Schrebergartenweg spazierengeht. Auf jeden Fall ist der Mann wohl 53 Jahre alt und fragt die Frau (seine Großmutter aus dem Senioren-Wohnstift?), was er am nächsten Tag beim Kinogang mit seiner neuen Liebe Sigrid anziehen solle. Sie reagiert pampig.
Also hör mal, damit das klar ist: ich bin nicht eure Mutter. Und auch nicht die Puffmutter, sagte sie leise zu sich selber, als sie ihm dabei zuschaute, wie er abzockelte, beleidigt, aber immer noch eine Spur aufgeregt kurz vor der Begrüßung dieser neuen Sigrid-Trophäe in ihrer aller Senioren-Wohnstift - wo sie ihn zwar vermutlich überleben müsste, und dennoch so eifersüchtig auf ihn war wie vor 53 Jahren und wie er auf sie von jeher.Um gleich darauf abzuschwächen:
Ach, alte Spielverderberin, schimpfte sie mit sich selber. Wenn er zurückkäme, immer noch die Sigrid im Sinn, da würde sie die Arme für ihn ausbreiten und ihm zurufen: Komm zur Oma, komm komm, zum Großmütterchen!Ein tragisches Leben auf zwei Seiten destilliert.
Wer kommt in mein Häuschen?
Ein Schnappschuss in die Beziehung zwischen alleinerziehender Mutter und ihrem Sohn Felix. Dieser ist krank (oder simuliert mit hochgeheiztem Fiebermesser). Die Mutter will ihn aber außer Haus haben, da sie allein sein will, was sie am Telefon auch einem Mann sagt. So muss Felix am Nachmittag zu einem Training, aber dies schwänzt er (wohl zurecht als offiziell Kranker) und geht am Ulmer Donauufer spazieren, wo er auf seine Mutter trifft. Sie breitet ihre Arme aus und ruft ihm zu: „Wer kommt in mein Häuschen?“
Der Irrgast
Eine schwer zu entschlüsselnde Geschichte. Katharina, wohl eine Schülerin und keine Schwalbe („ich könnte auffliegen“) ist mit ihrem Trainer bei einer Abendgesellschaft und „hat sich gut gehalten“. Danach geht es wieder ins Internat. Ist das Thema die Inhaltsleere?
Die Liebe zu den kalten Ländern
Ein Text über Isoliertheit in der Kindheit. Thomas, 13, ist zu Freunden seiner Eltern abgeschoben, da diese auf Selbstfindungstrip in Marokko unterwegs sind. Er isoliert sich und zeichnet in seinem Gastzimmer Landkarten von nördlichen Ländern wie Irland oder Island. Kontakt zur Gastfamilie will er nicht. Höchstens zur etwa gleichaltrigen Bettina. Aber da passiert auch nichts.
Ein russischer Sommer
Diese Kürzestgeschichte könnte nach der Tschernobyl-Katastrophe referenzieren (sie ist 1991 veröffentlicht worden). Die Hinweise: Ein Alex (Mann der Erzählerin?) ist Schriftsteller und hat von Science Fiction auf Satire umgesattelt. (SF als positive Utopie nicht mehr möglich? Die Gegenwart - eine Dystopie?) Dann der Satz, dass das Leben in Kiew wie üblich weitergehe, und auch ein Politikerstatement im Fernsehen über „Restrisiko“ weist darauf hin:
Das Restrisiko ist im Verständnis des Politikers unsere Angst. Wir befinden uns, seiner Ansicht nach, in der furchtbarsten aller Gefahren, nämlich der, panisch, hysterisch, lebensuntüchtig, wahlverdrossen zu werden.Eine Großfamilie lebt in einem Haus mit Garten in der Nähe von oder in Köln. Damit der Garten „lebensechter“ aussieht, sind acht große Puppen in ihm platziert, darunter eine in einer Hängematte. Doch wird der Garten nicht betreten, da die Schwester der Erzählerin den Verstand verloren habe und einen - nach Vorbild wohl Tolstois - unbewirtschafteten Garten in einem russischen Sommer erleben wolle. Alex gibt regelmäßig Unkrautgift in die Suppe der Schwester.
Der grüne Kuss
Und wieder eine Geschichte mit Haus, Garten und einem Paar. Sie (Justine) ist Schriftstellerin und hält nicht viel von Literaturwissenschaft, trotzdem hat sie eine Poetik-Dozentur angenommen. Er (Lebrecht) ist Literaturwissenschafter, kommt in seiner Karriere nicht weiter, da die Stellen von Alten blockiert sind. So lebt er von ihren Einkünften. Seit vier Jahren sind sie ein Paar. Unverheiratet. Nachbarn sind das verheiratete Paar Melchior (renommierter Literaturwissenschafter) und Carla. Beide Männer verdienen „grüne Küsse“, wenn sie im Garten arbeiten. Lebrecht bekommt ihn dann doch nicht:
… geküsst hätte sie ihn ja auch, aber doch nicht, solang er an diesem Cracker herumkaute!Deutsche Antworten
Eine Geschichte nach der Grenzöffnung der DDR und ein bitterböser Seitenhieb auf bundesrepublikanische Überheblichkeit. Karl Landmann, Fernsehjournalist in Nordhessen, betätigt sich politisch in Erfurt, wohin er schon zu DDR-Zeiten gereist ist und wegen der verschärften Grenzkontrollen sich für wichtig sah. Seine Frau hat Verwandte in Eisenach und betätigt sich karitativ. Zu DDR-Zeiten genoss sie „Armseligkeit, Ödnis, das Schmutzige und Verkommene“. Karl irritiert, dass die Leute in Erfurt sich rasch nach der Wende selbständig machten und rasch lernten. „Die schönen Tage von Aranjuez“ (Handke-Anspielung) seien nun vorüber, klagt er. Karl Landmann ist deutscher Patriot, auf Dauer seien „Deutsche nicht von Deutschen zu trennen“, und streng gläubig. Ihre Tochter trifft sich regelmäßig in einem Club mit jungen Leuten, die über einen dritten Weg diskutieren.
Kontrapunkt ist Freyas Nichte Ilona. Eisenacherin. Mit ihr gibt es „Meinungsverschiedenheiten“. Sie passt nicht ins Bild, das sie sich von Menschen in der DDR machen: Sie sieht „viel zu gut aus“. Aber sie hat Repliken wie diese auf Lager:
Ödet Gott nicht mit diesem deutsch-deutschen Getöse an, es ist ihm nämlich total egal, sagte Ilona.Patrick, der Sohn der Landmann, setzt den Schlusspunkt:
Mir sind das zu viele Deutsche auf einmal. 80 Millionen! Er meinte seine Eltern, als er dachte: Wenn schon zwei Deutsche zu viel sein können. Ziemlich unheimlich, das Ganze.Die Passage davor erschließt sich mir übrigens nicht. Was soll die Metapher des viel zu schnell fahrenden Zugs, in dem die Landmann sitzen, der alle Haltesignale überfährt? Ist es die rasende Geschwindigkeit der Wiedervereinigung, die Kohl fährt?
Kurz ist besser
Eine Mutter, ein Kind, ihr Freund, ein Babysitter, eine schwer zu erschließende Kürzestgeschichte. Die Mutter erzählt ihrem Kind immer kurze Märchen mit dem Bonmot „Kürze ist die Schwester von Talent“. Am Ende will sie länger erzählen, aber das Kind meint, kurz sei es besser. Dazwischen gibt es einen Babysitter, der nicht früher weggeschickt werden will, obwohl er den vereinbarten Lohn erhalte. Und ein Dialog mit dem Freund nach dem Geschlechtsverkehr:
Kürze ist die Schwester des Talents, verkündete sie ihrem Freund, sie zog sich den Pullover, kaum ausgezogen, wieder über den Kopf, stand vom Bettrand auf.Die Schönste im ganzen Land
Was soll denn das?, fragte der Freund. Ich hab nicht die Schwester des Talents eingeladen.
Eine bitterböse Abrechnung mit der Modelwelt. Hannegret Kittelmann aus Ratingen in Nordrhein-Westfalen und ist offenbar als Miss Germany nun Topmodel mit dem Namen Limona Miller. Sie wird von ihrem Manager als „Miss Duftwolke“ für eine Werbeveranstaltung eines Parfumherstellers gebrieft. Ihre Biographie wird umgemodelt, sie lebe in den USA, liebe aber ihre Heimat und sei ein häuslicher Typ. Entdeckt sei sie in einer Diskothek worden, obwohl sie als Jugendliche nur selten in solche gegangen sei. Sie müsse Deutsch mit amerkanischem Akzent sprechen und dürfe ja nicht ihr Nordrhein-Westfälisch durchbrechen lassen. Ihre Eltern sehen ein Fernsehinterview mit ihr, erkennen sie nicht wieder, auch habe sie ihre Heimat nie geliebt, sei dauernd in Diskos gerannt und habe Jungs in ihr Zimmer geschmuggelt. Auch habe sie mit ihrer Mutter nie über Probleme gesprochen. „… diese Tochter musste aber doch irgendwo in ihr drin sein, in der Schönen dort …“
Nennen wir es doch Parkhotel
Zwei Freundinnen um die 60 (Hildegard Reichel und Irmtraud Kelcher) haben außerhalb einer Stadt in einer Naturlandschaft ein Hotel mit 30 Betten errichtet, das sie Parkhotel am Stintersand nennen, auch wenn es keinen Park im eigentlichen Sinne gibt. Gäste, so eine Dame mittleren Alters, finden sie lästig, wenn sie etwas fordern, das sie nicht haben (Espresso, Hotelbriefpapier, Gratispostkarten oder einen echten Park) oder sich beschweren (Kleinheit der Zimmer, Kälte der bei Nichtbelegung unbeheizten Zimmer, extreme Enge im Badezimmer). Dennoch ist die Dame in der Naturlandschaft zu Tränen gerührt wie auch beim Bild im Stile Naiver Kunst im Zimmer, das sie schließlich kauft. Ins Gästebuch schreibt sie: „Schöne Gegend, schön öde“. Die Freundinnen werden „öde“ streichen.
Vor Tische las mans anders
Im Zentrum ein Ehepaar in ihrem Haus, Emma und Anzio. Die Geschichte vom Vortag wird von Emmas jüngerer Schwester erzählt. Emma ist schwer krank, gehbehindert, geht am Stock und fällt ständig. Anzio lädt einen Freund zum Abendessen, Pavel. Pavel lebt von zwei Erbschaften, ist Filmemacher, Lyriker und Autor in geisteswissenschaftlichen Zeitschriften. Was geschehen ist, sei eine Katastrophe. Während des Abendessens geht Emma ins im ersten Stock gelegene Bad und stürzt. Die Katastrophe sei, dass Pavel nicht mitgeholfen hat, Emma aufzurichten, sondern im Spiegel seine Frisur kontrolliert hat. Neben dieser Eitelkeit habe er zu verachtende Phrasen von sich gegeben: „Wir wüssten ohne das Unglück nichts vom Glück, das sich uns erst bei seinem Verlust zu erkennen gibt, so dass wir ihm nachtrauern“ oder „Jedes Unglück will Zugabe“ oder nach Beckett „Das Unglück hat immer auch etwas Komisches“ oder „Alles, was ernst ist, ist schön“. Anstatt Emma Empathie entgegenzubringen, bedauert er Anzio („Es ist schlimm, das mit ihr“) und Emmas Schwester („Bestimmt nicht einfach auch für Sie“). Pavel wird verabschiedet. Die Bedeutung des Titels ist klar: Es konnte nicht vorhergesehen werden, wie arrogant und egozentrisch sich Pavel verhalten würde.
Im Karijini-Park
Thema ist ein Liebespaar (Amanda und der Ich-Erzähler). Beide sind Biolog:innen im westaustralischen Perth, verbringen ihre Liebesnächte in ihrer Wohnung. Für ihn ist Perth zweite Wahl gewesen (oder ist er zweite Wahl?) und er mag weder die Hitze noch Anstrengungen. Amanda möchte mit ihm zwei Weihnachtstage im sommerlich extrem heißen Karijini-Nationalpark verbringen, was sie auch tun. Er jammert die ganze Zeit und statt dass - wie sie hofft - dieser Trip sie enger aneinander bindet, entsteht eine Kluft: Seine Liebe stirbt in der „Wildnis“. Ob sie in den klimatisierten Wohnungen zurückkommt, bleibt offen.
Schweizer Messer
Diese hier zum ersten Mal veröffentlichte Geschichte ist thematisch völlig anders gelagert, sie spielt im Villenviertel einer nicht genannten Stadt und könnte der Beginn einer Kriminalgeschichte sein. Die Drogensüchtigen Mickey Tenner und Robbie planen, eine 59-jährige Frau namens Aurelia zu erpressen, die als ausgebildete Pharmazeutin illegal Medikamente verkauft. Robbie schafft es, als Gärtner angestellt zu werden, und gibt vor, dass ihm schlecht wird. Ziel: Er erhält eine illegale Behandlung und kann sie erpressen. Doch Aurelia hat ihn durchschaut, da sie die beiden bereits beobachtet hat, als sie Haus und Türschild fotografiert haben. Sie vergiftet Robbie. Doch am Ende steht Mickey Tenner in der Haustür und schlitzt ihr mit einem Schweizer Messer die Halsschlagader durch.
Literarischer Bezug: Aurelia denkt an einen Tom Ripley, einer Figur von Patricia Highsmith.
Vanessas Salon
In dieser Miniatur steigen wir in die kleine Welt eines Friseursalons ein. Holly Myers geht fast jeden Nachmittag in diesen Salon, um Ansprache zu haben. Ihr Mann arbeitet in einem Sägewerk und kommt erst um sieben Uhr am Abend nach ein paar Bier nach Hause. Die Gespräche sind alltäglicher Art, aber dennoch ist die Assistentin Christa sehr gesprächig, als Vanessa beim Arzt ist. Beide haben ostmitteleuropäische Wurzeln (Vanessa ungarische, Christa rumänische). Offen spricht Christa über die bevorstehenden Operationen Vanessas (Fettabsaugung) und ihres siebenjährigen Sohns (Vorhautverengung und Wanderhoden).
Ich habe doch ganz andere Sorgen
Dies ist eine dreiteilige Geschichte. Der sparsame Mann meckert, dass sie (Tabea?) schon wieder das Thermostat zu früh hochgedreht hätte und so die Heizkosten in die Höhe treibe. In der Arbeit wird sie von ihrer Du-Chefin wegen ihrer Laxheit (sie bringt zu spät Kaffee zu den Kunden, ist also eine Hilfskraft) gerügt und eine Kündigung nahegelegt (Pseudo-Freundlichkeit mit dem „Du“ zwischen Chefitäten und Angestellten). Im dritten Teil sitzt sie mit einem Vinzenz in einem Café, sie habe unter den Säufern am Roten Turm seinen Bruder Mick gesehen. Es hätte aber auch nur eine Ähnlichkeit sein können. Schluss: Sie habe doch ganz andere Sorgen. „Wenn auch eigentlich nur diese: Mickey.“ Ziemlich kryptischer Text am Ende.
Puddingkreppel
Wieder eine Geschichte über die Leere einer langjährigen Ehe. Lange diskutieren sie über die Qualität von Puddingkreppel (mit Pudding gefüllte Krapfen), der Mann schickt seine Frau zum Orthopäden, da sie tapsig und schaukelnd gehe. Ihre resignierten Gedanken vor dem Einschlafen:
Obwohl damals, als sie frisch verheiratet waren, hatten sie nicht über die Qualität von Puddingkreppeln diskutiert.Jetzt sei das Highlight ein angenähter Knopf am Schlafanzug.
Little Land
Eine Universitätslehrerin besitzt ein Landhaus weitab von der Gesellschaft, wo sie nur mit ihrem Hund lebt. Die Einsamkeit und Abgeschiedenheit wird betont, indem es sehr schwierig ist, einen Bekannten zu organisieren, der das Haus neu streicht. Und dessen Frau ist froh darüber, dass er wegen einer angekündigten, jedoch nicht gekommenen Regenfront nicht zum Landhaus gefahren ist.