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Graham Greene - Der dritte Mann
11.10.2025 um 17:01
Diese Novelle entstand zeitgleich mit dem Film, den er mit dem Regisseur Carol Reed und Orson Welles in der Hauptrolle als Harry Lime 1949 in Wien drehte. Sie diente Greene als Exposé und an manchen Stellen merkt man das Notizenhafte am Schreibstil.
Greene entwickelt langsam eine Schattenwelt im besetzten Nachkriegswien anhand des Trivialschriftstellers, Frauenhelden und Trinkers Rollo Martins, dessen ihn nach Wien einladender Schulfreund Harry Lime bei Ankunft bereits tot ist. Offiziell wurde er bei einem Autounfall vor seinem Wohnhaus getötet. Langsam enthüllt sich der wahre Hintergrund, den der zunächst ungläubige britische Polizeioffizier Calloway nicht glauben will. Lime ist in einem Schmugglerring aktiv, der hochprofitabel gestrecktes und damit nicht brauchbares Penicillin auf den Schwarzmarkt bringt, das zu horrenden Summen von Krankenhäusern sowie wohlhabenden Ärzten und Apotheken gekauft wird, ohne zu wissen, dass sie durch dieses nichtwirksame Antibiotikum das Leben der Patienten aufs Spiel setzen. Basis des Schmugglerrings ist im zweiten Wiener Gemeindebezirk, der von den Sowjets besetzt ist und dessen Militärbehörden sich leicht bestechen lassen, sodass keine Auslieferungsgefahr an westliche Besatzer gegeben ist.
Als Martins, der eine Beziehung zu Limes schauspielender Freundin aufbaut, erkennt, dass die ihn im Dunkel der Nacht verfolgende Person Lime ist, der seinen Tod nur fingiert hat, verrät er dieses Wissen der britischen Polizei. Da Lime das Kanalsystem als Weg nutzt, um zwischen den Besatzungszonen verkehren zu können (eine Litfaßsäule bietet mit ihrer Tür den Zugang), lockt Martins Lime in die Falle. Er arrangiert in einem Café ein Treffen, Lime kommt, und als er die Falle erkennt, flüchtet er in den Kanal. Bei der Verfolgung wird Lime angeschossen und Martins erschießt ihn - er nennt es Gnadenschuss, damit Lime nicht leiden muss.
Der Titel stammt daher, dass bei der Polizei zwei Personen angegeben worden sind, die den angeblich toten Lime von der Unfallstelle ins Haus getragen haben. Doch ein Hausbewohner erzählt Martins, dass er einen dritten Mann gesehen habe, dies aber bei der Polizei nicht angegeben habe. Für den Hausbewohner ist dies das Todesurteil. Er wird ermordet. Grund: Martins erzählt dies einem US-amerikanischen Offizier, der aber selbst in einem Schmugglerring mit Autoreifen aktiv ist. So gelangt diese Information zu den Penicillinschmugglern.
Comic Relief: Martins ist von Beruf unter dem Pseudonym Dexter Verfasser von trivialen Wild-West-Romanen. Der britische Kulturattaché verwechselt Martins mit einem seriösen Schriftsteller namens Dexter und lädt Martins zu einem literarischen Diskussionsabend ein, der selbstverständlich ganz anders als erwartet verläuft.
Neben dem Plot des Thrillers bietet Green Raum, das Nachkriegswien im Jahr 1949 zu charakterisieren. Hier ein Beispiel aus der Sicht von Calloway:
Ich kannte Wien in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen nicht und bin noch zu jung, um mich an das alte Wien mit seiner Musik von Strauß und seinem falschen, leichtlebigen Charme zu erinnern. Für mich ist Wien nichts weiter als eine Stadt würdeloser Ruinen, die sich in diesem Februar in riesige Schneeberge und Eisgletscher verwandelten. Die Donau war ein breiter, schmutziggrauer Strom weit hinter dem zweiten Bezirk in der russischen Zone, wo sich der zerstörte und unkrautüberwucherte Prater in trostloser Öde hinbreitete. Einzig und allein das Riesenrad drehte sich langsam über den Fundamenten einstiger Ringelspiele, die wie verlassene Mühlsteine dalagen, über dem rostenden Eisen zerschossener Panzer, die niemand weggeräumt hatte, und über den im Frost erstarrten Stauden, die sich da und dort aus der dünnen Schneedecke reckten. Ich besitze nicht genug Phantasie, mir den Prater in seinem einstigen Glanz zu vergegenwärtigen, genau so, wie ich mir unter dem ›Hotel Sacher‹ nur ein Durchgangshotel für britische Offiziere und unter der Kärntnerstraße nicht die elegante Geschäftsstraße von ehedem vorstellen kann, sondern nur zwei Häuserzeilen, die größtenteils bis zur Augenhöhe reichen oder vielleicht bis zum ersten Stockwerk wiederaufgebaut sind. Ein russischer Soldat mit einer Pelzmütze auf dem Kopf und dem Gewehr über der Schulter geht vorüber, ein paar leichte Mädchen drängen sich um das amerikanische Informationsbüro, und in Wintermäntel gehüllt, schlürfen in den Fensternischen des Café ›Old Vienna‹ ein paar Herren ihren Ersatzkaffee.Dass es Reisebeschränkungen gegeben hat, ist nachvollziehbar, neu für mich jedoch ist, dass britische Staatsbürger 1949 nur fünf britische Pfund auf eine Auslandsreise mitnehmen durften, die wiederum in Wien nutzlos waren, da dort mit Besatzungsgeld bezahlt worden ist. Im Wortlaut:
Bei Nacht tut man gut, in der Inneren Stadt zu bleiben oder in einer von drei Besatzungszonen, wenngleich auch dort gelegentlich Menschen geraubt werden – so sinnlos schien uns dieser Menschenraub bisweilen: ein ukrainisches Mädchen ohne Paß, ein alter Mann, der niemand mehr nützen konnte; manchmal freilich auch der Techniker oder der Verräter. So sah in groben Zügen das Wien aus, in dem am 7. Februar des vergangenen Jahres Rollo Martins eintraf.
EIN BRITISCHER STAATSBÜRGER KANN IMMER NOCH reisen, sofern es ihm nichts ausmacht, nur fünf englische Pfund mitzunehmen, die er im Ausland nicht verbrauchen darf. Aber ohne die Einladung Mr. Limes vom Internationalen Flüchtlingsamt wäre es Rollo Martins ohnehin nicht gestattet gewesen, Österreich zu betreten, das immer noch als besetztes Gebiet gilt. Lime hatte Martins vorgeschlagen, einen Zeitungsartikel über die internationale Flüchtlingsbetreuung zu schreiben, und obwohl dieser Auftrag aus dem Rahmen von Martins' sonstiger schriftstellerischer Tätigkeit herausfiel, hatte er doch zugesagt.Hier nun die Passage, in der Greene über den Penicillinhandel schreibt:
Die Schwarzhändler mit Lebensmitteln lieferten wenigstens Lebensmittel, und dasselbe galt von all den andern Schiebern, die verknappte Waren zu überhöhten Preisen beschafften. Etwas ganz anderes war es mit dem Penicillinhandel. Penicillin wurde damals in Österreich nur den Militärspitälern zugeteilt; kein ziviler Arzt, nicht einmal ein ziviles Krankenhaus, konnte auf gesetzlichem Weg in den Besitz dieses Heilmittels gelangen. Am Anfang waren die Schiebungen damit noch verhältnismäßig harmlos. Penicillin wurde von den Sanitätern in den Lazaretten entwendet und um Riesensummen an österreichische Ärzte verkauft – ein Phiole brachte bis zu siebzig Pfund ein. Man könnte sagen, daß auch dies noch eine Form der Verteilung war – einer sehr ungerechten Verteilung, weil sie nur dem reichen Patienten zugute kam; doch konnte auch die ursprüngliche Verteilungsart kaum als wesentlich fairer angesehen werden.Als Film ein Klassiker, aber auch als Novelle eine Perle.
Dieser Schleichhandel ging eine Weile fröhlich weiter. Gelegentlich wurde ein Sanitäter ertappt und bestraft, aber die Gefahr erhöhte bloß den Preis des Penicillins. Dann aber wurde die Sache organisiert: die Drahtzieher sahen, daß hier Riesensummen zu verdienen waren, und wenn auch dem eigentlichen Dieb sein Raubzug weniger einbrachte, so gewann er dafür eine gewisse Rückendeckung. Wenn ihm etwas zustieß, dann gab es Leute, die sich seiner annahmen. Auch kennt die menschliche Natur merkwürdig gewundene Rechtfertigungen, von denen das Herz nichts weiß. Das Gefühl, für einen großen Auftraggeber zu arbeiten, erleichterte vielen kleinen Gaunern das Gewissen; in ihren eigenen Augen waren sie bald so ehrenhaft wie einer, der sich sein Brot auf anständige Weise verdiente; sie gehörten einer Gruppe an, und wenn jemand Schuld auf sich lud, dann waren es die Großen. Eine Schieberbande ist nach ganz ähnlichen Grundsätzen organisiert wie eine totalitäre Partei.
Dieses Stadium der Entwicklung habe ich oft als Stufe zwei bezeichnet. Stufe drei trat ein, sobald die Organisatoren zu der Überzeugung gelangten, daß der Profit ihrer Geschäfte nicht groß genug war. Sie rechneten damit, daß es eines Tages möglich sein werde, Penicillin auf ganz legalem Wege zu erhalten, und wollten deshalb, solange die Gelegenheit günstig war, mehr Geld verdienen und es schneller verdienen. Sie gingen also dazu über, das Penicillin mit gefärbtem Wasser zu verdünnen und im Falle von kristallisiertem Penicillin Sand beizumengen. Ich habe in meiner Schreibtischlade ein kleines Museum beisammen und zeigte Martins einige Proben daraus. Unsere Unterhaltung war für ihn alles eher als genußreich, aber die Pointe des Ganzen hatte er noch immer nicht erfaßt. Er sagte: »Dadurch wird das Zeug wohl wertlos.«
»Wenn das alles wäre, würde uns die Sache nicht solchen Kummer bereiten«, antwortete ich. »Aber überlegen Sie doch einmal! Man kann gegen die Heilwirkung des Penicillins immunisiert werden. Im günstigsten Falle hat dann die Verwendung dieses verdünnten Zeugs zur Folge, daß eine Penicillinkur bei einem solchen Patienten in Hinkunft wirkungslos bleiben wird. Und da hört sich der Spaß auf, wenn man zum Beispiel an einer Geschlechtskrankheit leidet. Auch ist die Anwendung von Sand auf eine Wunde, die Penicillin braucht – gewiß nicht sehr gesund. Auf diese Weise haben Menschen Arme und Beine – oder das Leben eingebüßt. Was mich aber am meisten erschüttert hat, war ein Besuch im hiesigen Kinderspital. Dort hat man Penicillin, das man auf diese Weise erworben hatte, bei Meningitis angewendet. Eine Reihe von Kindern hatte Glück: sie starben. Aber viele andere wurden irrsinnig. Sie können sie jetzt in der Abteilung für Geisteskranke sehen.«
Der Trailer des Films:

DER DRITTE MANN | Trailer / Deutsch | Carol Reed, Orson Welles | ARTHAUS
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