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Gedenken

35 Beiträge ▪ Schlüsselwörter: Geschichte, Vergangenheit, Gedenken ▪ Abonnieren: Feed E-Mail

Gedenken

09.04.2005 um 14:33
Link: www.zeit.de (extern)

Seit einem halben Jahr ist wieder Gedenken angesagt. Der Grund: Vor sechzig Jahren wurden "wir" vom Naziregime befreit.
Wurden wir?
Seit einem halben Jahr kommen auch wieder vermehrt die Bauch- und Bierredner zu Gehör, die am liebsten alles vergäßen und Grausamkeit mit Unrecht aufrechnen möchten.

Mich nervt beides. Sowohl die permanente Zwangs-Berieselung mit Gedenksendungen, -minuten, -mälern und -filmen, als auch die permanent vorhandene Abwehr gegen die Erinnerung.
Ganz schrecklich finde ich zum Beispiel den Film "Der Untergang", weil die Regie anscheinend ganz bewusst die Perspektive auf die Innenwelt des Hitlerbunkers verkürzt, um die groben Folgen der "Politik" des Naziregimes auszublenden und somit die historische Wirklichkeit auf ein Kammerspiel oder gar eine Salonkomödie zu verkürzen. (Ich formuliere das bewusst etwas provokant.)
Ganz bestürzend ist für mich auch, wie viele so begeistert von diesem Film sind. Ich habe ihn mir - trotz meiner Bewunderung für den Ifflandringträger Bruno Ganz in der Hitlerrolle - erspart, weil ich von diesem Blickwinkel wusste und schon deshalb sagen konnte, dass er enttäuschend, wenn nicht schlimmer sein wird. Wim Wenders hat übrigens in einer Kritik, die im Herbst in der zeit zu lesen war, dieselbe Auffassung vertreten. Er hatte sich diesen Film mehrmals angesehen, bevor er darüber schrieb, ist also vielleicht ein besserer Gewährsmann als ich.
Schrecklich finde ich schließlich im Grunde auch diese Stelen des Modearchitekten Liebermann in Berlin. Schon das schrille Getöse, das Lea Rosh (ich weiß, ich spitze jetzt zu sehr auf sie zu) dafür angezettelt hat, ging mir auf die Nerven. Von dem Geld, das dieses teure Betonteil gekostet hat, hätte man in meinen Augen wirklich mehr für die Aufklärung tun können, wenn man damit zum Beispiel Schulen mit mehr Lehrern und PCs versorgt hätte. Aber ich weiß: Das ist vermutlich ein Banausenargument.

Götz Aly hat in einem kürzlich erschienenen Buch die These aufgestellt, es bestehe eine Art Komplizenschaft zwischen der damaligen deutschen Bevölkerung und dem Naziregime. Dieser These stimme ich in vollem Umfang zu, obwohl ich auch sein Buch noch nicht kenne. Ich finde, Alys Argumente, die er in dem beiliegenden Aufsatz (siehe Link) zusammenstellt, genügen, um diese These plausibel erscheinen zu lassen.
Ich behaupte:
Es gibt auch eine Art Komplizenschaft zwischen BerufsgedenkerInnen und BerufvergesserInnen.
Das ganze Theater, dem wir augenblicklich beiwohnen, löst bei mir Verlegenheit aus.
Ich möchte Euch daher zu einer Debatte einladen.

cassiel


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Gedenken

09.04.2005 um 16:26
Tja, ich will nur kurz zum Thema "Der Untergang" was sagen.
Ich kann dieses Argument von wegen "die Folgen" der Nazipolitik werden
ausgeblendet, Hitler wird als Mensch dargestellt, etc. nicht mehr hören.

Der Film beschränkt sich auf eine historische Rekonstruktion der letzten Tage
im Führerbunker. Da war z.B. die Judenfrage kein Thema mehr! Sollte man im
Film noch extra mal ein Schwenk nach Birkenau gemacht haben, nur damit
auch nochmal ja das Thema Juden behandelt wird!?!
Das ist doch blödsinn. Es wird immer argumentiert, dass ein guter FIlm
über das 3. Reich IMMER auch den Genozit etc. behandeln müsse, und Hitler
per definition als Monster dargestelt werden müsse, ansonsten
kann es kein guter FIlm sein. In meinen Augen Schwachsinn, denn genau das
reglementiert und beschneidet auch einen Film (natürlich was Hitler ein Monster, aber er war halt auch ein bischen mehr!). Wäre im Film nochmal
großartig über die Rassenpolitik, den Völkermord, etc. fabuliert worden,
dann wäre das in gewisser weise anachronistisch und definitiv fehl am
Platze gewesen.

Der Film konzentiert sich auch das, was er sein will, nämlich eine Darstellung
der persönlichen Schiksale im Führerbunker. Alles andere wird ausgeblendet, und das zurecht!

Everybody makes mistakes. I remember my last mistake. 1978, but, hey, that's a long
time ago and I didn't need the money - only the action...
Fucking up is historically the first and best way to learn. For example, Nixon fucked up
by being born. He recently understood the error of his ways and died. See?



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Gedenken

09.04.2005 um 17:11
Und ich werde eben den Verdacht nicht los: ...um uns eine solche Möglichkeit wieder einmal schmackhaft zu machen.

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Gedenken

09.04.2005 um 17:13
Und ganz nebenbei: Es nährt ja auch seinen Mann, einen solchen Film zu machen. Ist trendy, heißt, verkauft sich besser.

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Gedenken

12.04.2005 um 22:02
Cassiel,

mich machen Filme, wie der von dir zitierte "Führer"-Film, nicht verlegen. Ich kann ihn mir ansehen und trotzdem weiterhin der Meinung sein, Hitler war ein Schwein. Das macht mich nicht "betroffen", noch finde ich diese Filme überflüssig. Was wissen wir denn von damals?....Alles aus der Retorte, ausser es hat jemand in seinem Familien- oder Bekanntenkreis Menschen, die alles hautnah erlebt haben und darüber zu berichten wissen.

Sicher könnte man Gelder für Denkmäler auch anderweitig anlegen, zB., in Bildung, was aber eben durch Errichtung dieser Denkmäler geschieht. Selbst die Pflege der "Denkmäler" Bergen-Belsen und anderer KZs geht nicht ohne Geld vonstatten.

Über Lea Rosh lässt sich streiten, jedenfalls über die Weise, in welcher sie ihre Hände fingerzeigend in die Höhe reckt. Dazu müsste man sich betroffen fühlen.

Bedenklich finde ich, wie schnell sich von bestimmter Warte aus gesehen andere Grausamkeiten finden lassen, die das 3. Reich und seine Schreckensherrschaft allzuleicht relativieren. Aufrechnen muss nur jemand, der das damals "alles nicht so schlimm" fand.

Bruno Ganz hat gerade eine Rolle abgelehnt, weil diese ihn schon wieder als Tyrannen auf die Bühne gebracht hätte, obwohl er an ihrer Bühnenreife mitgearbeitet hat. Das ist nachvollziehbar.

Gruß

Die Reihenfolge ist:
Regnerisch kühl, Schaufensterbummel, Hundekot.



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Gedenken

13.04.2005 um 16:40
gsb23,

es ging mir eigentlich weniger um eine Debatte nur über diesen Film.
Schon garnicht ging es mir um eine persönliche Betroffenheitsbotschaft.

Tut mir leid, dass man meine Eröffnung auch so lesen kann, aber da war ich wohl nicht klar.
Der Film und die Stelen waren mir nur zwei Beispiele von zuvielen.
Ich finde, mit der dichten Folge öffentlicher und medialer Gedächtnis-Events zu bestimmten Jahrestagen geschieht zuviel des Gutgemeinten. Es soll zuviel und zu oft Betroffenheit beim Publikum "hergestellt" werden. Andere Aspekte, wie (im Fall der Stelen) städtebauliche oder (im Fall des Films) historische werden diesem Gedenken allzu eilfertig untergeordnet.
Verdächtig eilfertig.
Dabei wird der Ermüdungs- und Abstumpfungsfaktor beim Publikum bewusst in Anschlag gebracht. Denn ich behaupte, das ist auch der Zweck der Übung.

Im Vordergrund stand der - zugegeben etwas lange - Beitrag von Götz Aly in der letzten zeit, für den der Link oben drüber steht. Er behauptet, dass Hitler den Leuten neuen Wein in alten Schläuchen verkauft hat. Dafür haben sie die NS-Diktatur nicht nur toleriert sondern mit getragen
Ich sehe nämlich zwischen den übereifrigen Gedenkern in den Medien (auch Kunst ist ein Medium wie der Spiegel, Bild und RTL) einerseits und rechten Geschichtsrevisionisten andererseits eine üble Koalition am Werk, zu dem Zweck, durch Überfütterung mit Gedächtnis-Events Abstumpfung und Ermüdung herzustellen. Denn das zahlt sich ja aus. Der Unwille großer Konzerne wie Siemens, IG Farben, Flick (auch wieder nur eine kleine Auswahl der zu Nennenden!), "ihre" Zwangsarbeiter zu entschädigen, findet durch dieses "Ich-kanns-jetzt-nicht-mehr-hören" eine Art breites Verständnis; wenn nicht sogar Legitimität.
Davon ist hier in vielen Debatten auch die Rede. Es kräht ja kein Hahn danach, wenn die ihre Entschädigung zynisch via Aussterbenlassen der Opfer regeln.
Dabei schien mir der Film als Beispiel geeignet, weil darin die gröberen Folgen des Naziterrors bewusst ausgeblendet worden sind, um Hitler einmal "ganz menschlich" zu zeigen. Wenn das gelingt, so ist mE das Kalkül, dann ist das Verhalten der Genannten auch akzeptabel. Genauso macht man die Hitlerei auch wieder salonfähig.
Viele Zeichen in der Gegenwart deuten aber mE auf genau dieses Ziel hin. Wir haben bereits eine ähnliche Art von faschistischer Diktatur, nur auf globaler Ebene. Und die etwas grobschlächtigen SA- und SS-Truppen sind durch elegantere Methoden wie etwa die Trilaterale Kommission, Tranquilizer-Medien und Spaßfaschismus abgelöst worden; das ist meine These.
Man muss die Leute durch geschicktes Marketing nur noch dahin bringen, die New Order auch politisch mit zu tragen; dann kann man sich dreist alles rausnehmen. Der Film und die Stelen als Teil dieses "Marketings", das man unter Göbbels Propaganda nannte.
Ich würde es in beiden Fällen Verblödung nennen, die man einsetzt, um die Republik abzuschaffen.
So klarer?
Spinne ich vor mich hin, wenn mich das beunruhigt?
Das wollte ich wissen.

Lieben Gruß cassiel

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Gedenken

13.04.2005 um 20:52
"Ich würde es in beiden Fällen Verblödung nennen, die man einsetzt, um die Republik abzuschaffen. "

Cassiel,

deine Beispiele waren schon ok insoweit, was du damit auszudrücken gedachtest. Problem wird immer bleiben, dass "die Masse" sich zusammenrottet, in welchen Bereichen auch immer. Im Bereich Verblödung geht das nunmal schneller. Das von dir angedachte Draufkloppen auf die Masse mit bestimmten Informationen lässt sie selbstverständlich abstumpfen und ein "Ich kann's nicht mehr hören" ist somit ein kalkuliertes Ergebnis. Ich bin aus bestimmten Gründen für ein Nachschiessen/Nachlegen bis zum geht nicht mehr. Für meine Begriffe gibt es noch viel zu wenig Denkmäler, Filme, Vorträge, etc...pp., denn im Vergessenwollen ist der Mensch nunmal einsame Spitze....

Gruß

Die Reihenfolge ist:
Regnerisch kühl, Schaufensterbummel, Hundekot.



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13.04.2005 um 21:56
Wie hat es Schröder so schön am 60. Jährigen Jubiläum der Invasion in Frankreich formuliert: „Die Feinde von damals sind heute Freunde, die heutige deutsche Generation kann nichts mehr für diesen Schrecken, man darf nie vergessen, aber man sollte versuchen die Geschichte auch irgendwann einmal ruhen lassen! Ich hoffe dies geht nun.“


Kein anderes Volk der Erde geht kritischer mit seiner eigenen Geschichte um als wir. Selbst in diesem Punkt, wollen wir die größten sein...

Welcher Staat hat den jemals in der Geschichte mehr zur Wiedergutmachung mit seinen Opfern geleistet, als der Deutsche @ cassiel? Bitte, wenn dir das bisher noch zu wenig war dann SPENDE!


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Gedenken

13.04.2005 um 22:03
Indiana,

wenn wir die Grössten sein wollen, könne die Kleineren dagegen natürlich nicht anstinken. Vielleicht meinte der Kanzler ja damit, dass man nun endlich akzeptiert, dass wir die grössten Schuldner sein wollen. Und? Sind wir nicht auf dem besten Wege dahin?

Gruß

Die Reihenfolge ist:
Regnerisch kühl, Schaufensterbummel, Hundekot.



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Gedenken

13.04.2005 um 22:17
Er meinte es natürlich genau so, wie ich es geschrieben habe..


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Gedenken

14.04.2005 um 00:00
Anhang: Andersch_Alfred_Anamnese-déjà-vu-Erinnerung.doc (28,5 KB)
Indiana, spenden? Wofür? Für Fa. Siemens&Konsorten? Die hatte den unbilligen Nutzen, mag sie also ihre Schulden zahlen.

Liebe Freundin gsb23, Dein wie immer kluger Satz über das Vergessenwollen, in welcher Disziplin der Mensch nun einmal Spitze sei, ist so richtig, wie er weise ist. Es liegt auch eine Weisheit im Vergessen wie eine im Erinnern liegt. Deshalb muss ich Dir widersprechen, obwohl ich Deine Gründe für das Nachharken und Nachlegen, bei allem Übungseffekt, noch nicht kenne.
Das Schöne: Damit gibst Du mir eine Gelegenheit, Dir mit einem der schönsten Essays zu antworten, den ich kenne. Darf ich?
Er ist von Alfred Andersch, an Klugheit Dir fast ebenbürtig.

Liebe Grüße,
cassiel

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Gedenken

14.04.2005 um 00:56
Hier der Essay noch einmal für die, die begreiflicherweise die ms-Produkte ablehnen.
Bitte um Pardon bei den übrigen.


Alfred Andersch


Anamnese, déjà-vu, Erinnerung

Erinnern. Sich-erinnern. Erinnerung. Ich meine nicht das Gedächtnis. Nicht, was man im Gedächtnis aufbewahrt: die Geschichte. Nichts von dem, wofür man den Knoten ins Taschentuch schlingt.
Erinnern bedingt Vergessen.
Gedächtnis entsteht aus dem Partizip einer Aktion: denken. Erinnerung ist die Substanz einer alten Person, die einmal hieß: innaro - der Innere. Ihn, jenen Inneren, der im Erin-nern des Vergessenen inne wird, scheint es lange gegeben zu haben. Erst in der Luther-Bibel wird erinnern im Sinn des lateinischen monere gebraucht. 2.Makkabäer 15,9: »Er flößte ihnen Mut ein aus Gesetz und Propheten, erinnerte sie an die Kämpfe, die sie schon bestanden hatten, und steigerte so ihre Tapferkeit.«
Erinnern, sich-erinnern, Erinnerung heißt aber nicht, an etwas mahnen, das dem geschichtlichen Gedächtnis entfallen ist. Es heißt nicht: ein besseres Gedächtnis haben.
Von denen, die denken, haben nur wenige über das Erinnern nachgedacht. Es ist, als fühle sich das Denken, diese Aktion des Bewußtseins, vom unaufhaltsamen Aufsteigen der Erinnerung aus dem Sein gestört. Die Erinnerung braucht das Bewußtsein nicht. Aus dem Bewußtsein gelangt sie unmittelbar in eine Schicht, die sie nicht in Gedanken, sondern in Bilder verwandelt.
Daher, so scheint es, leben die Philosophen vom Gedächtnis, die Künstler von der Erinnerung.
Im Menon hat Plato versucht, die Erinnerung unter einem einzigen großen Gedanken zu fassen. Erkenntnis, so sagte er, ist Wieder-Erinnerung aus Wanderungen der Seele. » Da nun die Seele unsterblich und öfters geboren worden ist und die Dinge hienieden und im Hades und überhaupt alle geschaut hat, so gibt es auch nichts, wovon sie nicht eine Kenntnis erlangt hätte, so daß es gar kein Wunder ist, wenn sie auch hinsichtlich der Tugend und anderer Gegenstände an das sich zu
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erinnern imstande ist, was sie früher davon gewußt hat. Denn da die ganze Natur in verwandtschaftlichem Zusammenhang steht und die Seele von allem Kenntnis bekommen hat, so steht nichts im Wege, daß einer, der sich nur erst an eines erinnert hat, was die Leute dann Lernen heißen, alles übrige selbst auf-finde, wenn er sich dabei nur mannhaft hält und des Unter-suchens nicht müde wird; denn das Untersuchen und Lernen ist durchaus nichts als Wieder-Erinnerung.« Dem folgt der Beweis: ein Sklave zieht alle Schlüsse aus dem Zusammenhang von Viereck und Diagonale. »Und dieses Wieder-Gewinnen einer Erkenntnis in sich selbst, ist das nicht ein Sich-wieder-erinnern?« läßt Plato den Sokrates ausrufen.
Die Tugend und die Geometrie als Errungenschaften von Anamnese. Aber die Erinnerung hat nichts mit der Tugend zu tun, und nur selten tritt sie in geometrischen Formen auf.

Die Erinnerung ist die Erinnerung ist die Erinnerung.

Der heilige Augustinus ist in den denkwürdigen Kapiteln des zehnten Buches der Bekenntnisse der Sache so nahe wie möglich gekommen. Nicht nur unterscheidet er Gedächtnis und Erinnerung, spricht ganz selbstverständlich davon, daß die Dinge in die »geheimen, unergründlich tiefen Winkel« eintreten, »doch nicht die Dinge selber treten ein, nur der erkannten Dinge Bilder«, sondern er setzt auch die Einheit von Erinnern und Vergessen als selbständigen Akt. »Wenn das Vergessen also nur im Bild und nicht in Wirklichkeit in der Erinnerung gehalten wird, so muß es doch zuvor gewesen sein, daß die Erinnerung sein Bild gewinnen konnte. Und wenn es nun zugegen war, wie könnt es dann sein Bild in mein Gedächtnis drücken, da alles doch durch seine Gegen-wart getilgt wird, selbst das, was längst bekannt und festgehal-ten war? Und doch bin ich gewiß, daß ich, so unbegreiflich und so unerklärlich es auch sein mag, mich des Vergessens selbst erinnere, durch das doch alles andere, dessen ich mich je erinnerte, aus der Erinnerung gestoßen wird.«
Und dann schreibt er: »Ich sah schon Linien von Künstlerhand, die feiner waren als ein Spinngewebe, doch sie sind nicht die Linien des rechnerischen Denkens, und die wieder sind auch nicht die Bilder solcher Linien, die mir das Auge
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meines Fleischs gemeldet hat. Der nur kennt sie, der sie, ohne auch an Körperliches nur zu denken, drin in der Seele denkend sieht. Mit allen Sinnen meines Leibes hab ich schon Zahlen kennengelernt an Dingen, die sich zählen lassen; die Zahlen aber, mit denen wir zu zählen wissen, sind ganz andrer Art und sind auch nicht die Bilder der gezählten Dinge; und so haben sie erst recht ihr ganzes Sein.«
Das Souvenir als Spuk. Immer scheinen die Szenerien des dejä-vu auf das Erscheinen eines Gespenstes zu warten. Von dieser Straße, die wir noch nie erblickt, doch schon einmal betreten haben, gehen bange Ahnungen aus. Ausgebleichte Farben, Staub und Entsetzen. Zwielicht.
Die Psychologie spricht von Pseudo-Erinnerungen, von fausse reconaissance, verursacht durch Störungen in der bioelektrischen Aktivität der Gehirnzellen. Ernst Bloch hält das déjà-vu für die Fortsetzung eines in der Kindheit oder aus Ermü -düng abgebrochenen Willensaktes, für intentionales Erleben.
Wie aber, wenn es eine Erinnerung an sich gäbe ? Wenn ich an einem Ort, den ich niemals gesehen habe, in einem Erlebnis, das mir niemals widerfahren ist, das schon-gesehen, schon-erlebt erfahre, so beginne ich zu vermuten, es könne ein von den Gegenständen der Erinnerung unabhängiges Erinne-rungsvermögen existieren. Eines, das imstande ist, uns Dinge zu zeigen, als wären sie erinnerte, obwohl sie es nicht sind.
Zum Beispiel zu unserem Schutz. Das déjà-vu-Erlebnis ist immer der Eintritt in das Schattenreich, ein Todesbild, und es mag sein, daß wir die Furcht, die es uns einflößt, nur ertragen, weil Erinnerung uns im gleichen Augenblick zwingt, über einem Rätsel brüten zu müssen, das wir nicht lösen können.
Aus der Beklemmung in die Laboratorien. Die heutige Psychologie will eine exakte Wissenschaft sein, weshalb sie an ihren Anfang des Aristoteles Schrift Gedächtnis und Erinne-rung gesetzt hat. In ihr wird zum erstenmal zwischen unwill-kürlicher Erinnerung und absichtlichem Erinnern unterschieden. Da die Psychologie exakt ist, kann sie das Phänomen des Gedächtnisses aufklären; die Lokalisationsforschung glaubt
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sogar zu wissen, wo es sitzt: im Feld Nr. 19 der Kleistschen Gehirntafel. Hinsichtlich der Erinnerung sind die Psychologen vorsichtiger, bescheiden sie sich mit experimentellen und statistischen Untersuchungen von Assoziationen, die sie natürlich vom Begriff der Erinnerung wegführen zu Theorien über Lernprozesse, zum Gedächtnis also. Immerhin gelangen einige von ihnen am Ende wieder zum Engramm, dem > Eingeschriebenen< auf einer leeren Wachstafel, mit welchem Aristoteles die Erinnerung verglich. Für das Engramm, die langfristige Gedächtnisspur, gibt es keine Erklärung. Man vermutet, es handle sich dabei gar nicht um einen Zustand der Materie, sondern um einen Prozeß des fortgesetzten Verlustes und der Neubildung kurzfristig bestehender molekularer Gedächtnisträger. Auf diese Weise, so nehmen einige Forscher an, haben die Vögel das Singen.
In der Traumdeutung erreicht Freud die Schicht des Vergessenen. Er spricht von der »sonderbaren Vorliebe des Traumgedächtnisses für das Gleichgültige«.
Wir nähern uns dem Augenblick Proust.
Gedächtnis erinnert Zeit, Erinnerung vernichtet sie.
»Gedächtnis und Gewohnheit sind die Attribute des Krebses Zeit. - Ein Mensch mit einem guten Gedächtnis erinnert sich an nichts, weil er nicht vergißt.« Beckett anläßlich Prousts. »Genau gesagt«, so fahrt er fort, »können wir uns nur an das erinnern, was durch unsere äußerste Unaufmerksamkeit registriert und in jenem letzten und unerreichbaren Verlies unseres Seins aufgestapelt wurde, zu dem die Gewohnheit keinen Schlüssel besitzt.«
Prousts mémoire involontaire negiert, so meint er, den Tod, indem es die Zeit negiert. Er kritisiert den Titel des Werks. Die Zeit sei darin nicht wiedergefunden, sondern ausgelöscht.
Aber was ist die unfreiwillige Erinnerung? Ist sie der Widerschein von Augustins göttlichem Über-Ich, des Aristoteles Engramm, Freuds Traum Verdichtung?
Wir wissen es nicht. Was wir wissen, ist, daß sie existiert. Erinnerungen, meistens gleichgültige, bilden unbekannte Strukturen des Ich, werden vergessen, kommen zurück, verschwinden wieder.
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In einer einzigen Weise gewinnen sie Dauer: im Kunst-werk.
Im Kunstwerk werden unwillkürliche Erinnerungen zu Formen.
Ich spreche nicht von einer vagen Idee, sondern von einem konkreten Vorgang. Der Wille tritt bei der Herstellung von Kunst erst auf, nachdem das Unwillkürliche erschienen ist. Begabung und Kunstverstand dienen nur dem, was darauf ge-wartet hat, die Zeit auszulöschen, auch wenn es ihren Stil hat.
Manche Linien auf einem Blatt sind aller Willkür entzogen.


Entstehung: fünfziger Jahre des 20. Jhs.
Seitenzahlen des Originals am Fuß der Seite, zitierfähige Kopie

(entnommen aus:
Alfred Andersch, Die Blindheit des Kunstwerks.
Literarische Essays und Aufsätze.
Zürich, Diogenes, 1972, S. 82 ff.)










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Gedenken

14.04.2005 um 22:57
"Wie aber, wenn es eine Erinnerung an sich gäbe ? Wenn ich an einem Ort, den ich niemals gesehen habe, in einem Erlebnis, das mir niemals widerfahren ist, das schon-gesehen, schon-erlebt erfahre, so beginne ich zu vermuten, es könne ein von den Gegenständen der Erinnerung unabhängiges Erinne-rungsvermögen existieren. Eines, das imstande ist, uns Dinge zu zeigen, als wären sie erinnerte, obwohl sie es nicht sind."

Cassiel,

im Erinnern spaltet sich der Geist. Praktisch erinnert sich der Mensch an das, was er selbst erlebt hat. Die Ebene des Erinnerns beim Anblick eines Kunstwerks geht ins Nachempfinden, angerührt werden, seelische Verknüpfungen, Gefühl. Ein emotional begabter Mensch lässt sich anrühren, lässt sich ins Bildnis hineinziehen, geht mit. Im Gedenken an die Toten empfinde ich nicht Schuld sondern Trauer. Auf einem Friedhof wird nicht politisiert, es wird in Stille nachgedacht. Wer bereit ist, die Tränen wegzuwischen, hat vorher eine Vielzahl von Emotionen zugelassen, die mit Sicherheit nicht durch Zahlen auszudrücken sind. Was es nie wieder gibt, hat keinen Preis, bleibt unbezahlbar.

"In einer einzigen Weise gewinnen sie Dauer: im Kunst-werk.
Im Kunstwerk werden unwillkürliche Erinnerungen zu Formen.
Ich spreche nicht von einer vagen Idee, sondern von einem konkreten Vorgang. Der Wille tritt bei der Herstellung von Kunst erst auf, nachdem das Unwillkürliche erschienen ist. Begabung und Kunstverstand dienen nur dem, was darauf ge-wartet hat, die Zeit auszulöschen, auch wenn es ihren Stil hat.
Manche Linien auf einem Blatt sind aller Willkür entzogen. "

Die fürchterliche öffentliche Debatte um die Stelen in Berlin empfinde ich als ausgemachte Abscheulichkeit. Peinlich ohne Gleichen. Misslungen von Konzeption bis zur Ausführung. Unwürdig! Die Reaktionen darauf ebenso.

Anderschs Beschreibung des sich (nicht) Erinnern wollens ist umfassend. Wer sich nicht erinnern (lassen) will, handelt aus Selbstzweck, scheut Brüche in seinem Gehirn und benötigt Schutz. Es gibt viele Menschen, die grundsätzlich gern vergessen und wenn sie mit Tatsachen konfrontiert werden, antworten sie lapidar fragend, "Aha, das gab es tatsächlich...? Bist du sicher? Woher weisst du das? Warst du dabei?" Sie wollen mit der Vergangenheit abschliessen. Aber, wichtig ist, dass du weisst, was gewesen ist, selbst wenn du nicht dabei warst. Und darum meine ich, dass es nicht genug Erinnerungsstücke geben kann. Selbst, wenn sie nur die halbe Wahrheit erkennen lassen oder sogar wichtige Details ausklammern.

Gruß

Die Reihenfolge ist:
Regnerisch kühl, Schaufensterbummel, Hundekot.



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Gedenken

14.04.2005 um 23:25
"»Gedächtnis und Gewohnheit sind die Attribute des Krebses Zeit. - Ein Mensch mit einem guten Gedächtnis erinnert sich an nichts, weil er nicht vergißt.« Beckett anläßlich Prousts. »Genau gesagt«, so fahrt er fort, »können wir uns nur an das erinnern, was durch unsere äußerste Unaufmerksamkeit registriert und in jenem letzten und unerreichbaren Verlies unseres Seins aufgestapelt wurde, zu dem die Gewohnheit keinen Schlüssel besitzt.«
Prousts mémoire involontaire negiert, so meint er, den Tod, indem es die Zeit negiert. Er kritisiert den Titel des Werks. Die Zeit sei darin nicht wiedergefunden, sondern ausgelöscht. "

Cassiel,

zu dieser Passage ist zu bemerken, dass Zeit im Rückblick keine Rolle spielt. Sie existiert durch Ereignisse, an die man sich erinnern will. Wenn du anfänglich fragst, "Spinne ich vor mich hin, wenn mich das beunruhigt? ", so kann ich dir sagen, dass allein deine Frage darauf deutet, dass du Gleichgesinnte suchst. So ist es auch mit dem Umstand, sich erinnern zu wollen. Man will klar bleiben, besonders in einer Zeit, in der das Erlebte schon so weit weg zu sein scheint, nicht mehr das Tagesgeschehen beeinflusst. Denk mal an Klassentreffen nach Jahrzehnten oder an Treffen der Vertriebenen Flüchtlinge aus Ostpreussen. Wenn dort politisiert wird, so ist das eine Sache. Andererseits sehen sich dort Menschen wieder, die eine Gemeinsamkeit haben, ihre alte Heimat und die Umstände, unter denen sie sie verlassen mussten. Also holt man sich die Erinnerung zurück um festzustellen, dass es wahr war. Bei all dem, was in den letzten Jahren an Geschichtsklitterung betrieben wurde, halte ich weiterhin daran fest, dass es des Erinnerns nie genug sein kann.

Gruß

Die Reihenfolge ist:
Regnerisch kühl, Schaufensterbummel, Hundekot.



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Gedenken

14.04.2005 um 23:33
"Erst in der Luther-Bibel wird erinnern im Sinn des lateinischen monere gebraucht. 2.Makkabäer 15,9: »Er flößte ihnen Mut ein aus Gesetz und Propheten, erinnerte sie an die Kämpfe, die sie schon bestanden hatten, und steigerte so ihre Tapferkeit.«
Erinnern, sich-erinnern, Erinnerung heißt aber nicht, an etwas mahnen, das dem geschichtlichen Gedächtnis entfallen ist. Es heißt nicht: ein besseres Gedächtnis haben."

Cassiel,

hier stimme ich überein: "Erinnern heisst nicht, an etwas mahnen, dass dem geschichtlichen Gedächtnis entfallen ist. Es heißt nicht: ein besseres Gedächtnis haben."

Vollkommen klar!!

Vielen Dank für deinen Hinweis auf Andersch. Soweit ich mich informieren konnte, hatte er eine seinen Ausführungen entsprechende Lebensgeschichte. Und ist schon Geschichte. So, wie du ihn hier präsentiert hast, zeigt sich Erinnern von seiner besten Seite!

Gruß

Die Reihenfolge ist:
Regnerisch kühl, Schaufensterbummel, Hundekot.



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Gedenken

14.04.2005 um 23:40
"Es liegt auch eine Weisheit im Vergessen wie eine im Erinnern liegt. Deshalb muss ich Dir widersprechen, obwohl ich Deine Gründe für das Nachharken und Nachlegen, bei allem Übungseffekt, noch nicht kenne.
Das Schöne: Damit gibst Du mir eine Gelegenheit, Dir mit einem der schönsten Essays zu antworten, den ich kenne. Darf ich?
Er ist von Alfred Andersch, an Klugheit Dir fast ebenbürtig.

Liebe Grüße,
cassiel

qui tacet consentire videtur"

Cassiel,

vielen Dank! Bedenke, Klugheit ist unberechenbar. Somit schweige ich also nicht klug, stimme aber freundlich zu. ;)

Gruß:)



Die Reihenfolge ist:
Regnerisch kühl, Schaufensterbummel, Hundekot.



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Gedenken

14.04.2005 um 23:50
Im Gedenken an die Erinnerung

Eine Momentaufnahme:

Ich erinnere mich oder ich werde erinnert durch etwas, das mir quersteht, seinen Geruch hinterlassen hat oder in verjährten Briefen mit tückischen Stichworten darauf wartete, erinnert zu werden. Diese und weitere Fallstricke bringen uns ins Stolpern. Aus dem Abseits taucht etwas auf, das nicht sogleich zu benennen ist. Sprachlose Gegenstände stoßen uns an; Dinge, die uns seit Jahren, so meinten wir, teilnahmslos umgaben, plaudern Geheimnisse aus: peinlich, peinlich! Dazu Träume, in denen wir uns als Fremde begegnen, unfaßbar, endloser Deutung bedürftig.

Auch während Reisen an Orte, die hinter uns liegen, die zerstört wurden, verloren sind und nun fremd klingen und anders heißen, holt uns plötzlich Erinnerung ein. So geschah es mir im Frühjahr 1958, als ich zum ersten Mal nach Kriegsende die langsam aus abgeräumten Trümmern nachwachsende Stadt Gdansk besuchte und beiläufig hoffte, auf verbliebene Spuren von Danzig zu stoßen. Gewiß, Schulgebäude waren stehen geblieben und ließen in ihren Korridoren wohlkonservierten Schulmief aufleben. Schulwege hingegen schienen kürzer zu sein, als mir erinnerlich war. Dann aber, als ich das einstige Fischerdorf Brösen aufsuchte und den schlappen Anschlag der Ostsee als unverändert erkannte, stand ich plötzlich vor der verschlossenen Badeanstalt und dem gleichfalls vernagelten Kiosk seitlich vorm Eingang. Und sogleich sah ich die billigste Freude meiner Kindheit aufschäumen: Brausepulver mit Himbeer-, Zitrone- und Waldmeistergeschmack, das in jenem Kiosk für Pfennige in Tütchen zu kaufen war. Doch kaum prickelte das erinnerte Erfrischungsgetränk, begann es sogleich Geschichten zu hecken, wahrhafte Lügengeschichten, die nur auf das richtige Kennwort gewartet hatten. Das harmlose und simpel wasserlösliche Brausepulver löste in meinem Kopf eine Kettenreaktion aus: aufschäumende frühe Liebe, dieses wiederholte und dann nie wieder erlebte Prickeln.

Erinnerung ist - so verschwommen und lückenhaft sie erscheint - mehr als das auf Genauigkeit zu schulende Gedächtnis. Erinnerung darf schummeln, schönfärben, vortäuschen, das Gedächtnis hingegen tritt gerne als unbestechlicher Buchhalter auf. Doch wissen wir, daß mit dem Alter das Gedächtnis abnimmt, während in der Erinnerung all das, was lange verschüttet war - die Kindheit -, nun nahe gerückt erscheint, oft zu Glücksmomenten verdichtet. Mich, der ich immer noch gern in die Pilze gehe, überfällt gelegentlich die Erinnerung an jenen Augenblick, in dem ich als Kind in den Wäldern der Kaschubei plötzlich vor einem vereinzelten Steinpilz stehe. Er ist größer und herrlicher von Gestalt, als ich ihn später jemals gefunden habe. Also werde ich weiterhin suchen. Die Erinnerung hat mir ein Maß gesetzt.

Der Schriftsteller erinnert sich professionell. Als Erzähler ist er in dieser Disziplin trainiert. Er weiß, daß die Erinnerung eine oft zitierte Katze ist, die gestreichelt sein will, manchmal sogar gegen den Strich, bis es knistert: dann schnurrt sie. So beutet er seine Erinnerung aus und notfalls die Erinnerung frei erfundener Personen. Erinnerung ist ihm Fundgrube, Müllhalde, Archiv. Er pflegt sie, wie man nachwachsenden Schnittlauch pflegt. Zwar weiß er, daß die Literatur ein Vielfraß ist und sogar Zeitungsnotizen und ähnlich unreife oder roh vom Messer springende Aktualitäten verschlingt, aber wiedergekäute Erinnerungen sind sein Hauptnahrungsmittel; in Dürrezeiten erinnert er sich an bereits abgegraste Erinnerungen. Es mag eine berufliche Deformation sein, die es ihm erlaubt, Schmerzhaftes, Beschämendes, sogar erinnertes Versagen mit Lust zu verwerten.

So ist mir die verlorene Heimat zum andauernden Anlaß für zwanghaftes Erinnern, das heißt für das Schreiben aus Obsession geworden. Etwas, das endgültig verloren ist und ein Vakuum hinterlassen hat, das mit dem Surrogat der einen oder anderen Ersatzheimat nicht aufgefüllt werden konnte, sollte auf weißem Papier Blatt für Blatt erinnert, beschworen, gebannt werden, und sei es verzerrt, wie auf Spiegelscherben eingefangen. Mit Kalkül wurde Erinnerung abgemolken, auf daß sie in satten Portionen einen ichversessenen Erzähler verköstigte, der aus besonderer Perspektive das Kleine groß, das Große klein sah. Alle Schleusen standen offen. Alles war wieder präsent und greifbar. Danziger Straßenbahnlinien, die Kinos der Altstadt und Vorstädte. Und in anderer Gestalt trat jener kaschubische Onkel ins erinnerte Bild, der bei Kriegsbeginn als Verteidiger der Polnischen Post wider Willen zum Helden wurde. Seinen Tod hat die Familie beschwiegen. Nur noch Gerede über Kesselschlachten, Sondermeldungen, Siege am laufenden Band und umständlich verplauderte Alltäglichkeiten, von denen Wortfetzen hängenblieben.

Erinnerte Sprache: ein erst Jahrzehnte nach Kriegsende mit den ältesten Flüchtlingen wegsterbendes Gemaule, jenes nach West- und Ostpreußen hin mehr und mehr ins Breite gewalkte Plattdeutsch, dessen kaschubische Variante, wenn meine Verwandten Deutsch sprachen, mir bis ins Detail erinnerlich ist. Etwa der mir im Jahr 58 von einer Großtante ins Ohr geflüsterte Satz, der nur mit Verlust ins Hochdeutsche zu übertragen wäre: »Ech waiß, Ginterchen, em Wästen is bässer, aber em Osten is scheener.« Diese abwägende Definition hat sich nicht nur in meiner Erinnerung verpuppt, vielmehr geisterte sie fortan, Ost und West wertend, in meinen Büchern und gibt mir heute noch Orientierung.

Soviel in Stichworten zur Manie des Schriftstellers, zum professionellen Erinnern. Doch gibt es - und sei es als Forderung oder Behauptung, aber auch bei rituell abgefeierten Anlässen - ein kollektives Erinnern. In ganz Europa wird es angerufen, bemüht, verweigert. Kriege und Kriegsverbrechen sind ihm zur Last geworden. Ideologische Prägungen haften ihm immer noch an. Besonders bereitet die kollektive Erinnerung der älteren Generation Mühe. Vielleicht ist uns Deutschen deshalb die typische und ein Klischee betonende Wortprägung »Erinnerungsarbeit« eingefallen. Sie wird als Schuldbekenntnis verlangt, als Zumutung versagt und mit Fleiß geleistet, denn seit Jahrzehnten, solange uns die Vergangenheit immer wieder eingeholt hat, wird sie wie eine Pflichtübung absolviert, seit den sechziger Jahren auch von der jeweils jungen, wie man meinen sollte, unbelasteten Generation. Es ist, als wollten sich die Kinder und Enkel stellvertretend für ihre schweigsamen Väter und Großväter erinnern.

Gegenwärtig vergeht keine Woche, in der nicht vor dem Vergessen gewarnt wird. Nachdem wir uns, wie gehofft wurde, ausreichend oft an die verfolgten, emigrierten, ermordeten Juden in unfaßbar großer Zahl erinnert haben, erinnern wir uns spät an die Verschleppung und Ermordung Zehntausender Zigeuner. Für viele zu spät, sind wir gegenwärtig gezwungen, uns an das Schicksal Hunderttausender Zwangsarbeiter zu erinnern, die aus Polen, aus Litauen, der Sowjetunion und vielen anderen Ländern kamen und an die Fließbänder der deutschen Kriegsindustrie gestellt wurden. Es ist, als gewönnen die in nur zwölf Jahren begangenen Verbrechen mehr und mehr an Gewicht, je größer die zeitliche Distanz zu den pauschal als Schande bezeichneten Untaten wächst. Hilflos muten Versuche an, mit Denkmälern der Erinnerung Gestalt zu geben. In Berlin beispielsweise brach Streit aus. Nicht nur ästhetische Fragen drängten sich in den Vordergrund. »Erinnert euch!« riefen die einen, »Jetzt ist es aber genug!« fanden die anderen. Manchmal geschieht es, daß Fremde, die uns zuschauen, den erinnernden Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit »selbstquälerisch« nennen, wobei mitgesagt wird, daß unser Erinnern qualvoll ist. Doch dem ist kein Ende abzusehen. Wenn wir Zukunft planen, hat die Vergangenheit im angeblich jungfräulichen Gelände bereits ihre Duftmarken hinterlassen und Wegweiser gepflockt, die in abgelebte Zeiten zurückführen.

Merkwürdig und beunruhigend mutet dabei an, wie spät und immer noch zögerlich an die Leiden erinnert wird, die während des Krieges den Deutschen zugefügt wurden. Die Folgen des bedenkenlos begonnenen und verbrecherisch geführten Krieges, nämlich die Zerstörung deutscher Städte, der Tod Hunderttausender Zivilisten durch Flächenbombardierung und die Vertreibung, das Flüchtlingselend von zwölf Millionen Ostdeutschen, waren nur Thema im Hintergrund. Selbst in der Nachkriegsliteratur fand die Erinnerung an die vielen Toten der Bombennächte und Massenflucht nur wenig Raum. Ein Unrecht verdrängte das andere. Es verbot sich, das eine mit dem anderen zu vergleichen oder gar aufzurechnen. Überdies lehrt die Erfahrung, daß sich die Opfer von Gewalt, gleich, wer sie ausgeübt hat, nicht an erlittene Greuel erinnern wollen; sie haben das Recht, vergessen, ja, verdrängen zu dürfen, auf ihrer Seite.

So wird denn vieles, selbst wenn es als qualvolle Erinnerung wiederholt ins Bewußtsein drängt, ungesagt bleiben. Das Schweigen der Opfer ist dennoch unüberhörbar. Da niemals Frieden war und die Gegenwart auf dem Balkan und im Kaukasus, an vielen Schreckensorten dieser Welt, von Mord, Flucht und Vertreibung bestimmt ist, wird das Erinnern als Nachhall überlebter Leiden nicht aufhören. Kürzlich schrieb der ungarische Schriftsteller György Konrád mit Blick auf die Geschichte Europas: »Erinnern ist menschlich, wir können sagen, das Humane an sich.« Sein Hinweis, daß die Natur sich der Geschichte gegenüber gleichgültig verhalte, betont die den Menschen isolierende Fähigkeit, sich erinnern zu können, auf zwiespältige Weise, als sei diese Gabe Gnade und Fluch zugleich; Fluch, indem sie nicht von uns abläßt, Gnade, indem sie den Tod aufhebt. So reden wir in der Erinnerung mit Lebenden und Gestorbenen. Indem man sich an uns erinnern wird, werden wir überleben. Das Vergessen jedoch besiegelt den Tod.

* © Steidl Verlag, Göttingen 2001
in: Günter Grass, Czeslaw Milosz, Wislawa
Szymborska, Tomas Venclova: Die Zukunft der
Erinnerung, Göttingen 2001, S. 27-34.
http://www.steidl.de/grass/a2_5_vilnius.html (Archiv-Version vom 20.03.2005)

"Doch wissen wir, daß mit dem Alter das Gedächtnis abnimmt, während in der Erinnerung all das, was lange verschüttet war - die Kindheit -, nun nahe gerückt erscheint, oft zu Glücksmomenten verdichtet." - Das ist die eine Seite des Erinnerns. Die andere Seite sind zeitverschobene Zeugen (Filme, Kunstwerke, Literatur), die dem Erinnern auf die Sprünge helfen.

Gruß



Die Reihenfolge ist:
Regnerisch kühl, Schaufensterbummel, Hundekot.



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Gedenken

14.04.2005 um 23:53
ach gsb23, jetzt ist aber genug mit der Spammerei. Und jetzt rück raus mit der Sprache - an was gedenkst du denn so, außer deiner Beitragszahl? *g*



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"tunkel lass bitte das gespamme, das passt nicht zu dir"



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14.04.2005 um 23:55
"tunkel lass bitte das gespamme, das passt nicht zu dir"

Tunkel,
tztztz....tzzzzzz....;)

Du bist bei #2557....hm...hast du geschlafen? ;)) Erinnere dich!!

Gruß

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Regnerisch kühl, Schaufensterbummel, Hundekot.



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15.04.2005 um 00:01
Tjahaaa, ich hatte aber auch 6 Monate mehr zum Spammen, um auf über 1,5k Postings zu kommen.

PS: @cassiel - wenn du "der Untergang" nicht verstanden hast, ist es dein Schaden. Wenn dich geschichtswissenschaftliche Fakten Fakten Fakten interessieren, solltest du besser die Glotze auslassen und ein BUCH zur Hand nehmen.



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15.04.2005 um 00:03
*2,5k, so viel Zeit muss sein



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