Ist Jammerei das neue Wohlfühlen?

Rise schrieb: Arme Leute haben gewiss häufiger nicht so viel beklagen, wenn reiche Leute mal tief fallen, da sie mehr zu verlieren haben.

Ich glaube, arme Leute haben wirklich "reale" Probleme, mit denen sie ihr gesamtes Leben zu kämpfen haben. Ich habe ja mal selbst für ein Jahrzehnt (mit wenigen Unterbrechungen) unter dem Existenzminimum gelebt ... damals habe ich gelernt, gar nichts vom Leben zu erwarten. Und mir waren viele Sachen peinlich - z.B. wurde mir mal das Fahrrad geklaut und ich hatte einfach kein Geld, auch ein Gebrauchtes neues zu kaufen. Mir war das unendlich peinlich, daher habe ich auch nicht laut gejammert ...

Hier wirst du immer für Armut mit selbst verantwortlich gemacht. Und Leute, die nicht arm sind, haben immer tolle Ideen, was du machen könntest :-). Du lernst dann still zu sein, wenn du verdeckt arm sein möchtest.

magaziner schrieb am 24.01.2020:Es wurde seit jeher auf hohem Niveau gejammert, die Deutschen sind anscheinend so: sie haben ein Haus, zwei Autos, beide Eheleute beruflich tätig, gesunde Kinder sind auch da, aber das ewigliche Genörgel: was das alles kostet, die Leasingraten für die Karren, der Abtrag für das Haus, und die Marmorböden für die beiden Bäder (!) haben ja richtig gekostet, bla bla bla.

Das erinnert mich an eine ehemalige Bekannte. Meine damalige Freundin und ich haben uns so durchs Studium gejobbt und entsprechend auf einem besseren Hartz IV Niveau gelebt. Besagte Bekannte (die nicht studiert, sondern ganz normal gearbeitet hat) kam gerade aus einem sechswöchigen Australien Urlaub wieder, hatte ein Auto und ein Motorrad angemeldet, wohnte mietfrei in einer Wohnung ihrer Eltern, machte gerade ihren Segelflugschein und jammert ausgerechnet uns voll, wie wenig Geld sie hat.....

MissMary schrieb:Du lernst dann still zu sein, wenn du verdeckt arm sein möchtest.

Ja, sehe ich auch so. Den meisten, die vernehmlich jammern, geht es gut, nur eben nicht sooo gut, wie sie es gerne hätten.

Groucho schrieb:Ja, sehe ich auch so. Den meisten, die vernehmlich jammern, geht es gut, nur eben nicht sooo gut, wie sie es gerne hätten.

Um dem Jammern mal was Positives abzugewinnen - die jammernden Leute glauben zumindest, dass es ihnen besser gehen sollte. :-).

Bei mir war es in meinem Armutsjahrzehnt so, dass ich oft die Schuld bei mir gesucht habe. Ich habe ja z.T. weit unter dem Existenzminimum gelebt und das immer wieder gut vertuscht. Man will dazugehören und weiß, dass man eben dann an anderen Ecken total sparen muss. Und man schämt sich vor sich selbst, weil man z.T. ganz komische survival Strategien entwickelt.

Ich habe gerade als ich Abi gemacht habe, oft babygesittet - hatte den Vorteil, dass es ziemlich leicht verdientes Geld war und ich eine Ausrede hatte, warum ich Samstagabend nicht weggehen kann. Klar spricht man immer mit seinen Auftraggebern ... da dachte ich oft ... oh Mann, tolles, warmes Haus, voller Kühlschrank, tolle Klamotten, alles Materielle lief super (sonst würde man ja auch keinen Babysitter teuer bezahlen) - und die Leute waren trotzdem oft so unzufrieden.

Es gibt ja dann auch eine Sozialarmutromantik - klar, wenn du arm bist und es passiert etwas Unerwartetes, das dir über die Woche hilft, freust du dich kurzfristig sehr (z.B. über 20€, die unverhofft kommen, weil es dich entlastet), langfristig stehst du immer noch unter einem immensen Finanzstress - dann denken noch Leute, das ist toll, dass man mit so wenig leben kann.

Oder sehen da noch einen Vorteil drin ... Z.B. habe ich in meinem Leben immer die meisten Strecken mit dem Fahrrad zurückgelegt ... sagte meine Babysitterauftraggeberin doch mal: "Ach, das hält dich so schön fit, ich wünschte, ich hätte das Durchhaltevermögen". Ehrlich, wenn ich die Wahl gehabt hätte, dann wäre ich auch nicht im strömenden Regen oder bei -10°C gefahren. Aber ich hatte keine Wahl. Da war ich halt fit. Das war der angenehme Nebeneffekt. Aber dafür beneidet zu werden ... :-).

@MissMary
Toll gesagt!

Ich glaube aber tatsächlich auch, dass manche Menschen nur glücklich sind, wenn sie jammern können. 'Ne Kollegin von mir jammert den lieben langen Tag über alles und nichts, darüber dass ihr heiß ist, darüber dass die Kunden unfreundlich sind (wie war das doch gleich, wie man in den Wald reinruft, so schallt es auch wieder zurück 😜), darüber dass das Nachbarskind frech zu ihr war, ihr die Arbeitsschichten nicht zusagen, sie erkältet ist.... Gestern hat sie mir eine halbe Stunde vorgejammer wie furchtbar krank sie doch sei (eigentlich war sie nur heißer, sie sprach davon nicht mehr sprechen zu können, dafür hat sie mich echt lang zugetextet. Ich meinte dann, dass es genau zwei Möglichkeite gibt: Entweder man ist fit genug und kommt arbeiten oder man ist krank und bleibt daheim. Aber solche Menschen wollen keine Lösungen, die wollen jammern, sie hat dann ewig rumschwadroniert, warum sie nicht zum Arzt gehen kann und bla bla bla 🙈.

Und generell geht es uns hier im Vergleich zu andern Ländern sehr gut, was wiederum auch dazu führt, dass Menschen wegen Belanglosigkeiten rumjammern. Bei uns im Supermarkt wird es es künftig einen stillen Tag geben, an dem das Radiovaus bleibt, weil sich wohl doch eine erhebliche Anzahl von Kunden gemeldet hat, die meinten, sie wollen ohne Musikberieselung einkaufen gehen. Ich finde das echt krass, weil ich an so was nicht mal 'nen Gedanken verschwende, es ist mir einfach so egal, ob da im Hintergrund leise Musik läuft oder nicht. Da frag ich mich auch, ob die Menschen keine echten Probleme haben???

Prinzipiell finde ich es schon mal gut, dass Menschen den Mund aufmachen und sagen, wenn ihnen etwas nicht passt. Diese Menschen sind mir allemal lieber als die "schweigende Mehrheit", die alles und jedes hinnimmt, ohne zu klagen.
Man sollte es allerdings nicht beim "Jammern" allein belassen, sondern muss schon etwas dafür tun, dass Missstände, die einem nicht gefallen, zu verändern. Wie hiess es in meiner Jugend doch so schön: "Lieber hammern und sicheln als jammern und picheln!"

Wenn mir meine Lebensumstände nicht gefallen, dann muss ich sie schon aktiv verändern. Das gilt für das Individuelle wie für das Gesamtgesellschaftliche.


PS: Mich nervt das Hintergrundgedudel in Supermärkten, Fahrstühlen, Flughäfen etc. auch. Eine Form der akustischen Umweltbelästigung. Wenn ich Musik hören möchte, dann stecke ich mir einen Knopf ins Ohr und gehe anderen damit nicht auf den Keks.

Doors schrieb:Wie hiess es in meiner Jugend doch so schön: "Lieber hammern und sicheln als jammern und picheln!"

Oder wie Kästner gesagt hat: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.

Grundsätzlich geht mir Musikberieselung auch auf den Sack, aber da ich nicht zum vergnügen einkaufen gehe, sehe ich sowieso zu, dass ich schnell wieder raus bin.

Hallo allerseits,

@SallyBelly

SallyBelly schrieb:Bei uns im Supermarkt wird es es künftig einen stillen Tag geben, an dem das Radiovaus bleibt,

Großartig!! ... und dass ein Supermarkt sich darauf einstellt.

Und das Beschweren darüber, ist das wirklich Gejammer?
Ich finde eher, das ist ein Beklagen, in meinen Augen ist das schon ein großer Unterschied.
Vor allem wenn man bedenkt, dass diese Musikberieselung ganz gezielt manipulativ zum Mehrkauf eingesetzt wird.

@Doors

Doors schrieb:PS: Mich nervt das Hintergrundgedudel in Supermärkten, Fahrstühlen, Flughäfen etc. auch. Eine Form der akustischen Umweltbelästigung.

Das empfinde ich ganz genauso.
Echt schön zu sehen, dass ich anscheinend doch nicht der einzige bin, den das stört.

Ich mag die Musik sehr gerne, gerade wenn abends nicht mehr so viel los ist. Alternativ hast du dann halt nur noch das Piepsen der Kassen und das Klirren, wenn wieder mal irgendwas zu Bruch geht. Ich finde auch die Atmosphäre in Supermärkten mit Musik deutlich entspannter, als z. B. bei Aldi (zugegeben, es liegt da vielleicht nicht nur an der fehlenden Musik) Trotzdem würde ich jetzt nicht bei Aldi in der Zentrale anrufen und mich beschweren, dass ich gerne Musik hören möchte beim Einkaufen, dazu ist mir das einfach zu unwichtig. Und ja, ich seh das als jammern, wenn ich mich mit solchen Kleinigkeiten, die mich nicht wirklich tangieren, aufhalte.
Btw, in wie fern regt die Musik denn bitte dazu an mehr zu kaufen? Ich kauf was auf meinem Einkaufszettel steht und gut ist. Allenfalls Weihnachtslieder könnten mich dazu bewegen noch 'ne Flasche Glühwein mitzunehmen 😊

Deine Kollegin, die du oben beschreibst, die jammert. Ganz klar. Mich würde das auch tierisch nerven.
Aber Missstände benennen ist bei mir keine Jammerei. Es mag ja sein, dass dir das gefällt, aber eben nicht jedem. Es ist dir ja unbenommen, Musik zu hören, so wie @Doors das schön schreibt. Andersherum müssten sonst die Menschen, die ihre Ruhe wollen, mit Ohrstöpseln rumlaufen.

Übrigens mache ich es genauso wie du beim Einkauf, nur das was ich brauche. Aber viele machen das nicht so. Und die Musik wird extra dafür eingesetzt.

So nach dem Motto, wenn Menschen entspannt sind kaufen sie mehr? Interessiert mich tatsächlich, weil ich auf die Idee noch nie gekommen bin.

Missstände benennen finde ich auch gut, keine Frage, aber ich würde so Kleinigkeiten einfach nicht als Missstand sehen, einfach weil es lediglich mein persönliches Empfinden wiederspiegelt. Ich mag z. B. keine Ballermannhits, das lässt hier ein Schnickel-Schnackel-Sachen-Laden im Sommer gerne laufen. Aber es kann ja nicht jeder meinen Geschmack teilen, damit kann ich mich gut arangieren, möchte da ja nicht einziehen.

Aber auch sehr interessant, dass hier doch einige sind, die Musikberieselung generell nicht mögen, ich wäre tatsächlich nie auf die Idee gekommen, dass man das als unangenehm empfindet und hab mich gestern sehr gewundert, als ich das Schreiben gesehen hab, dass wir jetzt einmal die Woche einen “Stillen Tag“ machen.

@SallyBelly

SallyBelly schrieb:So nach dem Motto, wenn Menschen entspannt sind kaufen sie mehr? Interessiert mich tatsächlich, weil ich auf die Idee noch nie gekommen bin.

Ja, deshalb. Ist ein ganzer Zweig in der Werbepsychologie. Und ja, das ist superinteressant. Meist sind es die gängigen Hits - aber auch nicht alle. Ist halt Wohlfühlmusik, die zum Kauf animiert nach dem Motto: "Ach, heute bin ich aber gut drauf..." Und schwupps legt man was in den Wagen, was man nicht wirklich wollte. Ein Bekannter von mir komponiert diese sogenannte "funktionale Musik". Das ist natürlich viel mehr als nur sowas, aber das gehört auch dazu. Musik, die eine ganz bestimmte Funktion erfüllt - hier soll sie eben zum Mehrkauf animieren.

SallyBelly schrieb:Ich mag z. B. keine Ballermannhits, das lässt hier ein Schnickel-Schnackel-Sachen-Laden im Sommer gerne laufen.

So ist das gemeint. Mich stört Musik generell, wenn ich sie nicht bewusst hören kann, dann sind das eigentlich nur aufdringliche Geräusche (bin aber auch selbst Musiker und sensibel dafür), würde mich jetzt aber trotzdem nicht bei einem Supermarkt beschweren. Verstehen kann ich's aber schon.
Is auch ne Typfrage. So gibt es ja auch Menschen, die bei Musik besser lernen können, bei anderen geht das gar nicht.

Noch ein Nachtrag:

Abrasivium schrieb:SallyBelly schrieb:
Ich mag z. B. keine Ballermannhits, das lässt hier ein Schnickel-Schnackel-Sachen-Laden im Sommer gerne laufen.

So ist das gemeint

Ich meinte es natürlich in Bezug auf die "Belästigung", die du in dem Fall auch empfindest und nicht als Beispiel für manipulative funktionale Musik.
Aber die Profis setzen das bewusst ein. In vielen Kaufhäusern wird die Musik daher vorgegeben, sind ganz bestimmte Schleifen, die immer wieder abgespielt werden. Da legt niemand im Büro irgend eine CD nach Lust und Laune ein.
Das ist für mich dann auch ein Beispiel für ne Beschwerde und nicht wirklich Jammerei.

Abrasivium schrieb:Meist sind es die gängigen Hits - aber auch nicht alle. Ist halt Wohlfühlmusik, die zum Kauf animiert nach dem Motto: "Ach, heute bin ich aber gut drauf..."

Vielleicht seh ich das auch einfach anders, weil ich ja meistens zum Arbeiten da bin und da ist das Gefühl “heute bin ich aber gut drauf“ nicht verkehrt 😊. Bei uns laufen hauptsächlich Hits aus den späten 90ern / frühen 2000ern, ab und zu auch mal ältere Sachen wie “Summer of '69“. Und zwischendurch dann die Nachrichten und Werbung und ja auf die dämliche Werbung könnte ich tatsächlich auch sehr gut verzichten 🙈

Was mir gerade wieder einfällt: Als Kind liefen in dem Supermarkt, in dem meine Eltern immer einkaufen waren (EZA, das gibt es heute auch nicht mehr) immer Heimatmelodien mit Blasinstrumenten gespielt, davon ist mir immer schlecht geworden 😬

Dann hat das jemand aber schlecht ausgesucht. 🤣

Aber siehst du, was für'ne Wirkung Musik haben kann - in deinem Fall negativ.
Bei Boutiquen und so legen die natürlich auf, worauf sie Lust haben, aber in einer Kneipe, in der wir häufiger gespielt haben (mit dem Chef waren wir durch die Band gut befreundet, deshalb hat der uns das mal anvertraut) haben die tatsächlich mal vorgeschrieben bekommen, welche Musik sie zu spielen haben, damit die Leute länger bleiben und mehr trinken - vorgeschrieben bekommen von der Leitung in Dublin.

(Wir müssen das Threadthema ein bisschen im Auge behalten, nicht dass das irgendwann zu sehr Off Topic wird)

Da stimmt, sind jetzt schon sehr OT 🙈. Können ja 'ne Runde über die Forenregeln jammern 😜

Ja, diese Regeln, aber vor allen diese Farben, und diese Schrift...

Ist das jetzt eher Gejammer oder doch Beschwerde?

@SallyBelly
Was mich hier aber am meisten stört, ist dass hier Leute schreiben!
Und die sind noch nichtmals alle meiner Meinung. Unerhört ist das! Geradezu skandalös!!

Aber willst du nicht vielleicht einen Thread aufmachen zu dem anderen Thema?

Generell zum Thema Beeinflussung durch Musik? .... Ich hab noch nie 'nen Thread erstellt, muss mich da erstmal einlesen. Nicht das ich anfang zu jammern, weil ich Ärger bekomm, weil ich mich nicht an die Vorgaben halte 😂

Ja, diese Menschen, die denken hier Diskutieren zu müssen sind einfach unerträglich 😬.