"Als Bülent Yildirim, Präsident der Organisation IHH vor dem Aufbruch seiner „Friedensflotte“ in Richtung Gaza das Flaggschiff „Mavi Marmara“ betrat, ließ er gleich eine Videokonferenz zu einer Gruppe bärtiger Herren in Istanbul schalten. Sie waren zusammengekommen, um die Welt zu verändern. Eingeladen hatte Necmettin Erbakan, Schöpfer und Führer der türkischen Islamisten-Organisation Milli Görüs, zu der die IHH gehört. Thema der Konferenz: „Eine Neue Welt – warum und wie.“
Die Teilnehmer waren Vertreter fundamentalistischer Gruppen aus aller Herren Länder – aus dem Sudan, Indonesien, auch ein Vertreter des in Syrien lebenden Hamas-Führers Khalid Maschal war zugegen. Erbakan, ein schon mehr als 80-jähriger Politveteran des fundamentalistischen Islam, war 1997 kurz Ministerpräsident der Türkei, bevor er vom Militär gestürzt wurde. Seine Vision ist es, aus der Türkei eine vollkommen muslimische Gesellschaft mit einem entsprechenden Staat zu machen. An ihn und die Teilnehmer der Konferenz richtete nun Yildirim sein Videogrußwort, aus dem hervorgeht, wen er als den zumindest geistigen Initiator der Gaza-Aktion sah: Erbakan.
„Im Namen Allahs, Salam alaikum. Mein sehr verehrter Hodscha (Lehrer; d. Red.), jeder, der auf diesem Schiff ist, grüßt Sie, Ihre Freunde und die Teilnehmer. Wir küssen Ihre Hände.“ Im Hintergrund sind westliche Friedensaktivisten zu sehen, die nicht ahnen, dass ihr Gastgeber sie gerade verbal die Hände eines Mannes küssen lässt, der wenig später das nahe Ende der „westlichen“ Weltordnung verkünden wird, dessen Verband vom Verfassungsschutz überwacht wird und im jüngsten Bericht unter der Kapitelüberschrift „Islamistische/islamistisch-terroristische Bestrebungen und Verdachtsfälle“ auftaucht.
Unter den westlichen Aktivisten der Flotille, denen diese Zusammenhänge unbekannt oder gleichgültig sind, waren auch deutsche Parlamentarier: die Bundestagsabgeordneten der Linkspartei Inge Höger und Annette Groth sowie das linke Ex-Bundestagsmitglied Norman Paech. Sie stiegen später auf Yildirims Schiff um, als ihr vorheriges Fahrzeug wegen eines Defekts stoppen musste. Später verteidigten sie Yildirims bewaffnete Mitreisenden gegen den Vorwurf, aggressiv gegen die israelischen Soldaten vorgegangen zu sein, die das Schiff enterten.
Den Zweck der Reise beschrieb der türkische Gastgeber der Linken vor der Abreise allerdings folgendermaßen: „So Gott will, brechen wir nach Gaza auf“, fährt Yildirim in seinem Grußwort an den Milli-Görüs-Gründer fort: „Sie haben diese Gefahr des Zionismus durch ihre Arbeit der ganzen Welt erklärt. Wir als ihre Schüler werden, inschallah, das, was uns obliegt erfüllen. Inschallah, ich glaube, morgen werden wir den Kampftruppen Israels begegnen. (...) Und die Menschen aus der Türkei werden vor die Konsulate und Botschaften gehen (...) es wird in Istanbul, Ankara, Konya, Jakarta, in Islamabad, in allen Ecken auf der Welt, (...) Demonstrationen gegen Israel geben.“
Yildirim weiß also schon, was passieren wird. Und er schließt mit einem militärischen Vergleich: „Außerdem haben wir die Feier der Eroberung (die Gedenkfeiern zur Eroberung Istanbuls 1453; d. Red.) mehr oder weniger verfolgt. Es war großartig. Inschallah, wird es noch viele Feiern der Eroberung geben – und jetzt eine neue Eroberung geben.“ Damit – anders ist seine Äußerung kaum zu verstehen – meint er Gaza, und stellt die Aktion damit in eine Linie mit der osmanischen Politik der Welteroberung für den Islam. Die Herren auf der Konferenz vernehmen es zustimmend. In ihrer Abschlusserklärung schreiben sie: „Die herrschende Ideologie der Siegerstaaten und der von ihnen hergestellten Ordnung ist der rassistisch-monopolistische Zionismus.“
Das also war die Mission der IHH-Flotte: Es ging ihr um mehr als Babynahrung für Gaza, es ging um eine entscheidende Runde im Kampf gegen den „Zionismus“, der in ihren Augen nichts anderes ist als die westliche Weltordnung.
Das Video belegt die engen Verbindungen zwischen Erbakan und den Organisatoren der „Friedensflotte“. Ob die Aktion diesen Namen verdient, mögen sich die Abgeordneten der Linkspartei angesichts der von ihrem Leiter beschworenen „Eroberungen“ noch einmal überlegen – immerhin bezeichnet sich die Linkspartei selbst immer wieder als „konsequente Antikriegspartei“. Vor der Veröffentlichung dieses Artikels hat WELT ONLINE die Parlamentarierinnen Groth und Höger mit den Aussagen Yildirims konfrontiert. Sie nahmen trotz wiederholter Nachfragen keine Stellung dazu.
Mit wem sie es zu tun hatten, hätten die Linken leicht recherchieren können: Die IHH, wichtigste Organisatorin und Geldgeberin der „Friedensflotte“ ist in den 90er-Jahren aus einer Jugendorganisation der Milli Görüs entstanden: Anadolu Genclik, „anatolische Jugend“. Die Sichtweise, die man der Jugend vermitteln will beschreibt Mehmet Sahin, Leiter der Organisation für den Istanbuler Stadtteil Ümraniye, so: „Wir bei Milli Görüs haben eine bestimmte politische Ideologie. Wir wollen eine neue Großtürkei als Zentrum und führende Kraft der islamischen Welt. Wenn wir das erreicht haben, wird Frieden und Gerechtigkeit herrschen überall auf der Welt.“
Milli Görüs und die mit ihr zusammenhängenden Organisationen wie die IHH und Anadolu Genclik streiten für die Islamisierung der Türkei. Auch die regierende AK-Partei von Ministerpräsident Reccep Tayyip Erdogan ging aus Milli Görüs hervor. Doch sie gebärdet sich weniger militant als Erbakan. „Der Hauptunterschied zwischen Erbakan und Erdogan ist dieser“, erklärt der Funktionär Sahin, „Erbakan sagt, dass Israel mit den feinen Mitteln der Diplomatie nicht gezügelt werden kann.
Aber genau das ist Erdogans Politik: Er will nur diplomatische Schachzüge anwenden. Erbakan hat erkannt, dass Israel nur die Sprache der rohen Gewalt versteht.“ Nach der Aufbringung des Schiffs braucht Sahin nach eigenen Aussagen nur 30 Minuten, um die Proteste von Tausenden Islamisten anlaufen zu lassen. „Die Krise um die ,Mavi Marmara‘ ist für uns ein riesiger Erfolg“, sagt er. „Wir haben das wahre Gesicht Israels entlarvt, und in der ganzen Türkei und sogar im Westen sieht man es nun wie wir.“"
http://www.welt.de/politik/ausland/article8004124/Der-islamistische-Hintergrund-der-Gazaflotte.html#