http://www.tagesschau.de/ausland/pussyriot122.html (Archiv-Version vom 18.08.2012)Drei Jahre Haft für 30 Sekunden Tanz?
Unflätige Worte, ein Lied gegen Kirche und Staat - dafür erwartet die drei Frauen der russischen Punk-Band "Pussy Riot" eine Strafe von drei Jahren Gefängnis, sollte das Gericht heute im Sinne der Staatsanwaltschaft urteilen. Dabei gibt es nicht einmal einen Straftatbestand, so Experten.
Von Christina Nagel, ARD-Hörfunkstudio Moskau
Polizeischutz für die Richterin. Solidaritätsbekundungen aus aller Welt für die Angeklagten. Gläubige, die Schadenersatz und eine harte Strafe fordern für die "wilden Veitstänze".
Vor der Urteilsverkündung schlägt der Prozess gegen die drei Frauen der Punkrock-Band "Pussy Riot" noch einmal hohe Wellen, obgleich seit gut einer Woche nicht mehr verhandelt wird.
Angst vor Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit
Am Mittwoch vergangener Woche hatten Nadeshda Tolokonnikowa, Maria Aljochina und Jekaterina Samuzewitsch ihre Schlussworte gesprochen. Noch einmal gingen sie hart ins Gericht mit der Justiz, der Russisch-Orthodoxen Kirche und dem System Putin.
Tolokonnikowa sprach von einem autoritären Regime, von Repressionen auf Bestellung, von unseligen Abhängigkeiten. Der umstrittene knapp einminütige Auftritt in der Christus-Erlöser-Kathedrale sei eine politische Aktion gewesen. Von religiöser Hetze könne keine Rede sein: "Was wir gemacht haben, verdient keine fünf Monate Untersuchungsgefängnis und auch keine drei Jahre Freiheitsentzug, wie es der Staatsanwalt fordert. Mit jedem Tag verstehen mehr Leute, dass ein politisches System, das gegen drei Mädchen vorgeht, die 30 Sekunden in der Erlöser Kathedrale getanzt haben, einfach Angst hat vor Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit."
Ein Lied gegen Kirche und Staat
Vor der Präsidentschaftswahl hatten mehrere vermummte Mitglieder der Band Pussy Riot den Altarraum der Moskauer Christus-Erlöser-Kirche gestürmt, wild getanzt und unflätige Worte geschrien. Noch am selben Tag erschien im Internet ein Video des Auftritts unterlegt mit einem Song: "Mutter Gottes, du Jungfrau, vertreibe Putin", heißt es. Ein schriller Protest gegen die Wahlwerbung des Patriarchen für Putin und die engen Beziehungen zwischen der Russisch-Orthodoxen Kirche und dem Staat.
Fünf Monate Untersuchungshaft ohne Kontakt zur Familie
Erst zwei Wochen nach dem umstrittenen Skandalauftritt wurden zwei der drei Angeklagten festgenommen. Später dann die Dritte. Dass ihre Untersuchungshaft immer wieder aus verschiedensten Gründen verlängert wurde, ließ die Stimmung in Moskau kippen. Namhafte Bürgerrechtler stellten sich auf die Seite der Anwälte, die immer wieder fragten: "Wie sollen wir Russland und der ganzen Welt erklären, dass diese drei unschuldigen Frauen seit fünf Monaten hinter Gittern sitzen?! Sie sitzen im Gefängnis, dürfen weder ihre Kinder noch andere Familienmitglieder sehen, sie sehen kein Licht. Sie werden gefoltert."
Nicht die Verfassung zählt, sondern religiöse Gesetze
Als Folter bezeichneten die Frauen es, wie mit ihnen umgegangen wurde, vor allem während des Prozesses. Weil teilweise bis zu zwölf Stunden verhandelt wurde, bekämen sie zu wenig Schlaf und zu wenig zu essen, klagten die drei Frauen. Aljochina klappte wegen Unterzuckerung zusammen. Ein Notarzt wurde gerufen, die Verhandlung dann aber fortgesetzt.
Versuche der Verteidigung, die Richterin als befangen abzusetzen, scheiterten ebenso wie andere Anträge. Entlastungszeugen wurden nicht zugelassen. Von einem fairen Prozess könne keine Rede sein, kritisierten die Anwälte. Zumal sich die Kläger auf religiöse Gesetze und theologische Regeln statt auf die russische Verfassung beriefen.
Das ist eine Kritik, die der angesehene russische Rechtsanwalt Henry Reznik teilt: "Im Fall der Mädchen von Pussy Riot gibt es keinen Straftatbestand. Es liegt auf der Hand: Sie haben die Mutter Gottes gebeten, dass Putin geht. Sie haben ohne Zweifel den Patriarchen beleidigt. Das allein ist aber kein Verbrechen. Es gibt kein Corpus Delicti."
Die Staatsanwaltschaft sieht das anders. Sie sieht es als erwiesen an, dass die drei Frauen aus religiösem Hass heraus gehandelt haben. Das Verbrechen wiege so schwer, dass sie von der Gesellschaft isoliert werden müssten. Drei Jahre Haft seien angesichts der Tatsache, dass zwei der Frauen kleine Kinder hätten, angemessen.