Berlin - Bis zu 30 Prozent aller türkischen Studenten halten „Ehrenmord“ für einelegitime Reaktion auf eine Verletzung der Familienehre. Schockiert berichtet dietürkische Tageszeitung „Hürriyet“, die seit über zwei Jahren eine sehr erfolgreicheKampagne gegen häusliche Gewalt betreibt, über eine Umfrage desMeinungsforschungsinstituts Metropol. Danach sprechen sich insbesondere in denosttürkischen Universitäten viele Studenten für Ehrenmorde aus.
Für dieIntegrationsministerin Maria Böhmer (CDU), die gerade einen Tag vor Veröffentlichung derErgebnisse in Berlin mit der türkischen Frauenministerin Nimet Cubukcu gesprochen hatte,ist die Nachricht „erschreckend, geradezu alarmierend“. „Was in der Türkei dazu in dieWege geleitet worden ist“, sagte Böhmer WELT.de, „muss weitergehen und noch verstärktwerden.“
Böhmer, die unter anderem auch Vorsitzende der Frauenunion ist,erinnert die Nachricht an die Debatten, die in den siebziger Jahren auch in Deutschlandanlässlich des Baus von Frauenhäusern geführt wurden. Damals hatten viele behauptet, eshandele sich um ein reines Unterschichtenphänomen. „Es stellte sich aber heraus“, so dieStaatsministerin, „dass alle Schichten betroffen waren. Da muss es eine Enttabuisierunggeben“.
Unterschichten-Debatte einmal anders! Böhmer war vor kurzem in dieTürkei gereist, speziell nach Anatolien, um die Region, in der die Ehrenmorde angeblichbesonders häufig vorkommen, in Augenschein zu nehmen. Dort war die Staatsministerin aberauf blankes Unverständnis getroffen, speziell vonseiten der großbürgerlichenFrauenverbände aus Kayseri – der Stadt der „muslimischen Calvinisten“, die mit täglich500 Unternehmensgründungen für sich wirbt. „Wovon Sie da sprechen“, hatte ihr Zekiye Ucanvon der Frauenunion gesagt, „das gibt es vielleicht bei Ihnen in Deutschland, bei deneingewanderten Türken, aber doch nicht bei uns!“
Darauf lief es schließlich beisehr vielen hinaus, mit denen Maria Böhmer in Anatolien sprach: dass ein Großteil der 2,5Millionen Türken in Deutschland in den Sechzigerjahren direkt vom Dorf in die deutscheGroßstadt gezogen ist, zum Teil nicht einmal lesen und schreiben konnte und deshalb inBerlin-Kreuzberg oder Duisburg einen Zustand konserviert hat, den es in der Türkeiangeblich gar nicht mehr gibt. "Plötzlich kommen hier Leute in Trachten an, die wir seitJahrzehnten nicht gesehen haben", sagte Ucan. Die Almancis gelten bei vielen als dieVerlierer, die es zu nichts gebracht haben.
Verblüffend für die türkischenBerichterstatter waren gestern auch die Ergebnisse der Metropol-Umfrage zum Thema„Jungfräulichkeit“. Türkeiweit sprechen sich 55,3 Prozent der Studenten dafür aus, dasssie„unbedingt“ bis zur Ehe erhalten werden solle. 32,3 Prozent räumen den Frauen ein,dass es ihre eigene Entscheidung sei und nur 5,4 Prozent empfinden die „Erhaltung derJungfräulichkeit“ als „veraltete Tradition“.
In Böhmers Gesprächen mithochrangigen Politikerinnen der regierenden AKP hatte es so gewirkt, als habe manpraktisch kein anderes Anliegen als die Befreiung der Frau. Auch der Regierungschef -dessen Töchter in den USA studieren, weil sie dort ihre Kopftücher tragen dürfen -versichert, wie ernst es ihm damit sei. Aber was häusliche Gewalt betrifft, ergab eineandere kürzlich veröffentlichte vergleichende Studie, dass die Zahlen in deutschen undtürkischen Familien etwa gleich hoch sind - dass aber die moralische Akzeptanz von Gewaltgegen Frauen in der Türkei erheblich höher ist. Ratlos berichtet Ucan Supurge vomNetzwerk Fliegender Besen, dass gerade junge Frauen von der Middle East University inAnkara, einer der besten des Landes, zu 77 Prozent sagen, ein Mann habe das Recht, seineFrau zu schlagen, wenn sie beispielsweise das Essen anbrennen lasse.
Artikelerschienen am 27.10.2006
http://www.welt.de/data/2006/10/27/1089364.html (Archiv-Version vom 09.11.2006)