Kein Ding zwischen Himmel und Erde bleibt dem Röntgenblick der modernen Naturwissenschaft auf Dauer verschlossen. Von wegen! Manchmal erweisen sich die scheinbar simpelsten Dinge als tiefgründige Geheimnisse. Nehmen wir zum Beispiel die Frage: Warum kann ein Flugzeug fliegen? Ein lächerliches Problem, zugegeben; nichts für eine Wissenschaftsseite, sollte man meinen. Ist das Thema nicht seit dem Jahre 1903, als die Gebrüder Wright erstmals abhoben, erledigt? Findet sich heute nicht in jedem Schulbuch eine einfache Erklärung?

Genau dies ist das Problem - jedenfalls für David Anderson. "Die übliche Erklärung für das Fliegen ist eine Art Mythos - sie ist einfach falsch!", wettert der Physiker vom Fermi National Laboratory in Chicago. "Aber sie hat ein solches Eigenleben, dass man sie heute sogar auf Web-Seiten der Nasa findet und in Physikbüchern." Daher hat Anderson nun den Kampf gegen die Dummheit aufgenommen und gemeinsam mit dem Aeronautiker Scott Eberhard das Buch Understanding Flight (McGraw Hill) veröffentlicht. Auch Eberhardt hat bei seinen Studenten immer wieder beobachtet, dass sie kein echtes Verständnis für die Flugphysik entwickeln. "Sie können es mathematisch erklären. Aber das ist nicht dasselbe wie verstehen."

Für gewöhnlich wird der Auftrieb eines Flugzeugs mit dem so genannten Bernoulli-Prinzip erklärt, benannt nach dem Schweizer Mathematiker Daniel Bernoulli, der im 18. Jahrhundert strömende Flüssigkeiten erforschte. Bernoulli, der nicht im Traum an fliegende Maschinen dachte, entdeckte eine grundlegende Beziehung zwischen der Geschwindigkeit einer strömenden Flüssigkeit und dem Druck, den diese ausübt. Kurz gesagt, lautet Bernoullis Prinzip: je schneller der Fluss (etwa in einem Rohr), umso geringer der Druck (auf die Wände des Rohrs). Damit, so argumentieren viele Schulbücher, ließe sich auch der Flugzeugauftrieb verstehen: Über die gekrümmte Oberseite eines Tragflügels müsse die Luft einen längeren Weg zurücklegen als unter dessen flacher Unterseite; ergo fließe sie oben herum schneller, dadurch entstehe über dem Flügel ein geringerer Druck, und diese Druckdifferenz hebe das Flugzeug an.

Doch warum, um Himmels willen, so fragt Anderson, sollten die beiden Luftströme am Ende des Flügels gleichzeitig ankommen? Das ist offenkundiger Quatsch, niemand zwingt die Luftmoleküle zu einem gleichzeitigen Zieleinlauf. Außerdem dürften nach dieser Logik Kunstflüge über Kopf gar nicht möglich sein; denn bei umgekehrtem Tragflügelprofil müsste sich nach der Schulbuchlogik auch das Druckverhältnis umkehren - und das Flugzeug abstürzen. Anderson und Eberhardt favorisieren daher eine andere Erklärung. Dazu bemühen sie zunächst den so genannten Coanda-Effekt. Dieser beschreibt die Tendenz von Luft (oder anderen leichtflüssigen Medien), an einer Oberfläche zu haften und daher beim Vorbeiströmen deren Krümmung zu folgen. Daraus folgt, dass die Luft an der Oberseite des Tragflügels nach unten gesogen wird und dadurch über dem Flügel ein Unterdruck entsteht. Ausschlaggebend für den Auftrieb sei freilich nicht das Profil des Tragflügels, sondern dessen Anstellwinkel: Ein schräg gestellter Flügel drückt die Luft nach unten, indem er Kraft auf sie ausübt. Dies ruft prompt eine gleich große Gegenkraft hervor (nach Newtons berühmtem Gesetz actio = reactio), durch die der Flügel nach oben gedrückt wird. Voilà.

Dass Anderson und Eberhardt mit ihrer Kritik der üblichen Schulbuchdeutung durchaus Recht haben, gestehen ihnen andere Experten unumwunden zu. Allerdings geben sie zu bedenken, dass sich der Auftrieb auch mit dem Bernoulli-Prinzip erklären lasse. Dieses müsse nur anders interpretiert werden: Beim Auftreffen auf die Flügelvorderseite werde die Luft wie in einem Flaschenhals verdichtet und dadurch zum schnelleren Fließen gezwungen. Das Ergebnis bleibt dasselbe: Eine Druckdifferenz erzeugt Auftrieb.

So ist das Rätsel des Fliegens in der Theorie nun gleich doppelt gelöst. Ende gut, alles gut? Schön wär's. "Eine ganz exakte Erklärung ist leider nicht so einfach", sagt Rudolf Voit-Nitschmann, Leiter des Instituts für Flugzeugbau der Universität Stuttgart. Für den praktischen Flugzeugbau seien sowohl Newtons Gesetze als auch die Bernoulli-Formel zu simpel. Den tatsächlichen Auftrieb eines Tragflügels könne man letzten Endes nur im Windkanal ermitteln. Zwar gibt es mittlerweile aufwändige Computerprogramme zur Berechnung der komplizierten Strömungsverhältnisse, doch selbst die liefern keine exakten Ergebnisse. Und dann sagt Professor Voit-Nitschmann noch einen Satz, der nach fast 100 Jahren Luftfahrt aus dem Mund eines professionellen Flugzeugkonstrukteurs doch recht erstaunlich klingt: "Das Fliegen gehört wohl zu den Phänomenen, die wir in der Natur beobachten und einfach hinnehmen müssen."

Da sage noch einer, die Physik kenne keine Geheimnisse mehr.