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Gibt es eine nicht-esoterische naturwissenschaftliche Spiritualität?

63 Beiträge ▪ Schlüsselwörter: Spiritualität, Naturwissenschaft, Allgemeine Relativitätstheorie ▪ Abonnieren: Feed E-Mail

Gibt es eine nicht-esoterische naturwissenschaftliche Spiritualität?

gestern um 02:46
Hallo zusammen!

Das ist ein nicht nur extrem wichtiges, sondern auch hochinteressantes Thema und verdient mehr Beachtung als man vielleicht denkt. Ich würde sogar so weit gehen und behaupten, dass es gesamtgesellschaftliche Relevanz hat! Ihr habt bereits hier etliche gute Punkte aufgegriffen, aber ich möchte das Ganze noch einmal weiter ausführen und expandieren. Insbesondere @LetZeppelin dürfte dies interessieren. Es wird ein längerer Text, aber seht es mir nach.

Zuerst vorab zu mir, um mit offenen Karten zu spielen: Auch ich verstehe mich als Atheisten sowie (platonisch angehauchten) Naturalisten und verfüge ebenfalls über naturwissenschaftliche (und informatische) Qualifikationen, bin also vermutlich dem TE recht ähnlich. Ich bin zudem in einer Zeit groß geworden (die man übrigens auch hier im Forum nachlesen kann ;D), in der der "New Atheism" seinen größten Aufschwung hatte, also so im Zeitraum zwischen 2005 und 2010, und stand diesem dementsprechend nahe.

Der "Neue Atheismus" starb in der Form aber sukzessive in den 2010ern aus; Teile der Mitglieder wanderten in seltsame, rechte Kreise, andere wandten sich der Bewegung aus eher philosophischen Gründen ab. Vielen missfiel aber auch die Arroganz, die dort vorherrschte.

Aber hauptsächlich krankte der "Neue Atheismus" vor allem an philosophischer Leere sowie Oberflächlichkeit - jeder auch atheistische Religionsphilosoph lächelt eher müde über die Argumentation von Dawkins und Co. Ebenso bot er keine "echte" praktische Alternative zu spirituellen oder religiösen Praktiken, die es nun mal so seit Jahrhunderten und Tausenden gab. Das Bedürfnis nach Spiritualität existierte nach wie vor bei vielen Menschen. Und auch ich merkte nach einigen Jahren: Das reicht mir philosophisch nicht und auf praktischer Ebene brauche ich angesichts vieler persönlicher Lebenskrisen eine besondere Form von Stärke und Halt. Aber bitte jenseits von Religion, deren Dogmen und Lehren ich - intellektuell geschuldeten Gewissensgründen folgend - stets abgelehnt hatte.

Es ist ja im Grunde das Problem, welches Friedrich Nietzsche bereits im 19. Jahrhundert feststellte, als er vom "Tod Gottes" sprach: Man mag zwar dogmatische Religion überwunden haben, doch wenn man keine brauchbare Alternative findet, die an die gleichen psychologischen bzw. neurobiologischen Mechanismen knüpft, finden wir uns in einer Existenz ohne Sinn wieder und füllen diese mit blindem Hedonismus oder Ersatzreligionen.

Damit wären wir dann endlich beim Kernthema "Spiritualität": Wie definieren wir den Begriff überhaupt? Das mag nicht einfach sein, aber ich zitiere dazu immer zum Einstieg den von mir sehr geschätzten Bewusstseinsphilosophen Thomas Metzinger in seinem Essay "Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit" und lasse euch das da:
[...] Dies liefert uns bereits ein erstes, definierendes Merkmal: In den aktuellen, lebendigen Erscheinungsformen von Spiritualität geht es primär um Praxis und nicht so sehr um Theorie, um eine bestimmte Form des inneren Handelns und nicht um Frömmigkeit oder darum, dogmatisch an etwas Bestimmtes zu glauben. Spiritualität scheint also eine Eigenschaft zu sein, eine bestimmte Qualität des inneren Handelns. Aber was ist der Träger dieser Eigenschaft? Man könnte zum Beispiel sagen, Spiritualität ist eine Eigenschaft einer Klasse von Bewusstseinszuständen, etwa von bestimmten meditativen Bewusstseinszuständen. Es geht bei der spirituellen Erfahrung allerdings nicht nur um die Bewusstheit als solche, sondern auch um ihre leibliche Verankerung, um die subjektive Innenseite dessen, was in der modernen Philosophie der Kognitionswissenschaft embodiment oder grounding genannt wird. [...]
Spiritualität ist im Kern eine epistemische Einstellung. Spirituelle Personen wollen nicht glauben, sondern wissen. Es geht um eine erfahrungsbasierte Form von Erkenntnis, die mit innerer Aufmerksamkeit, Körpererfahrung und der systematischen Kultivierung bestimmter veränderter Bewusstseinszustände zu tun hat, das ist ganz klar – und danach wird es sofort wieder sehr schwierig [...]
Das und noch viel mehr ist hier [1] nachzulesen und ich kann es nur empfehlen!

Entgegen gängiger Annahmen handelt es sich um Spiritualität also nicht zwingend um eine Menge esoterischer oder metaphysischer Aussagen sowie dazugehöriger Praktiken, sondern um eine Form extrem subjektiver wie persönlicher Handlungsformen, welche unsere Qualia (subjektive Bewusstseinszustände) direkt beeinflussen. Auch deswegen sind ja fernöstliche Philosophien und Systeme wie die zahlreichen Schulen des Buddhismus (u.a. Mahayana), aber auch Traditionen aus dem Hinduismus (insbesondere Yogis) so "internalisiert": Erkenntnisse werden v.a. durch meditative Praktiken aus dem Geist selbst "gezogen"; im Gegensatz dazu stehen vor allem die monotheistischen Weltreligionen, die beanspruchen, Erkenntnisse durch göttliche Offenbarungen zu besitzen und diese vermeintlichen Erkenntnisse verschriftlichten.

Im obigen Aufsatz schreibt Metzinger weiter:
Fassen wir zusammen: Spiritualität ist eine epistemische Einstellung von Personen, bei der die gesuchte Form von Erkenntnis nicht theoretisch ist. Das bedeutet: Es geht nicht um Wahrheit im Sinne der richtigen Theorie, sondern um eine bestimmte Praxis, eben eine spirituelle Praxis. Im Falle der klassischen Meditationspraxis ist dies eine systematische Form des inneren Handelns, das sich dann bei genauerem Hinsehen als eine bestimmte Form des aufmerksamen Nicht-Handelns entpuppt. Die gesuchte Form von Erkenntnis ist nicht propositional, es geht nicht um wahre Sätze. Es geht auch nicht um gedankliche Einsichten, und die gesuchte Form von Erkenntnis ist deshalb sprachlich nicht kommunizierbar, sie kann höchstens angedeutet oder gezeigt werden
Ein neuerer Beitrag von ihm ist übrigens dieses Interview hier. Dort führt er das Thema nochmals weiter aus; es geht dort vor allem darum, ob uns Spiritualität in Zeiten von Klimakrisen und Chaos eine Hilfe und Stütze sein kann:

Youtube: Glaube vs. Spiritualität: Was hilft uns in der Klimakrise? | Sternstunde Religion | SRF Kultur
Glaube vs. Spiritualität: Was hilft uns in der Klimakrise? | Sternstunde Religion | SRF Kultur
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Dort sowie im Aufsatz erwähnt er noch weitere wichtige Aspekte meditativer Praktiken: Wir lernen zum Beispiel nicht nur, gewisse Bewusstseinszustände zu kultivieren, sondern auch, wie man das "Ego", das "Ich-Gefühl", welches im Kern an so vielen Fronten hinderlich sein kann, praktisch auflöst. Dadurch, so führt er weiter aus, können wir u.a. auch sterben "lernen". Der Tod sowie der Prozess des Sterbens können uns so im Idealfall keine Furcht mehr machen – denn wir sind am Ende auch nur ein extrem winziger Teil dieser gewaltigen Existenz und können die Dinge in einem anderen Kontext betrachten. Einige von euch sprachen auch hier von Psychedelika und dem Gefühl einer Art universeller Einigkeit nach Einnahme dieser. Genau das ist ebenso Aspekt dieser Ego-Auflösung und wird in etlichen spirituellen Praktiken daher angestrebt! Durch solche Substanzen kann man das aber nochmals - sagen wir mal - beschleunigen. Das sollte aber keine Anregung sein, diese einzunehmen. ;)

Also um deine Frage, @LetZeppelin, abschließend zu beantworten: Ja, eine naturwissenschaftlich orientierte Spiritualität mit starkem empirischen Hintergrund gibt es sehr wohl!

Das Ding ist, dass wir sehr viel eigene Arbeit betreiben müssen, um diese zu entdecken, da eine solche Spiritualität immer höchst individuell ist. Der "Vorteil" von Religionen ist hier, dass man sicherlich ein vorgefertigtes System hat, das zudem lange historische und philosophische Traditionen beherbergt - aber gleichzeitig sind der Dogmatismus sowie die Tatsache, dass man sich metaphysisch an eine Autorität (Gott / Götter) bindet, die größte Schwäche.
Wir müssen eigenständig Mantren finden, die wir in Zeiten von Schmerz und Angst abrufen, um diese so gut wie möglich zu überstehen. Wir beten nicht (und liefern uns so als Sklaven von Gottheiten aus), sondern fokussieren uns - ganz wie die Stoiker - auf Dinge, die wir selbst beeinflussen können und erledigen den Rest durch meditative Praktiken. Unsere Bibel bzw. unser Koran ist nicht kompiliert worden, sondern muss von uns selbst aus eigens gefundenen Werken kompiliert werden. Und so weiter.

Um abschließend noch das Thema der Mechanismen anzusprechen: Es gab dazu ein recht neues Review-Paper [2], das systematisch etliche Studien über religiöse und spirituelle Erfahrungen auf neurobiologischer Ebene untersuchte. Ich habe es noch nicht durchgearbeitet, aber was ich bisher las, bestätigt nochmals: Ob nun Religion oder Spiritualität, ob Meditation oder Gebet, es handelt sich um verschiedene Ausprägungsformen gleicher neuronaler Mechanismen, welche zur Stabilität unserer Psyche beitragen. Und dies hat offensichtlich einen evolutionären Zweck bei einer Spezies, die sich der eigenen Endlichkeit bewusst ist und im Sinne der "Terror management theory" kognitiv Aufwand betreiben muss, um nicht komplett durchzudrehen.

Das alles kratzt natürlich immer noch an der Oberfläche, aber gerne führe ich bei Interesse weitere Punkte aus oder kann meine persönlichen Erfahrungen sowie Praktiken darlegen. :)

______________________________________________________________
Quellenverzeichnis:
[1]: https://www.philosophie.fb05.uni-mainz.de/files/2014/04/TheorPhil_Metzinger_SIR_2013.pdf
[2]: https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0149763425003203


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Gibt es eine nicht-esoterische naturwissenschaftliche Spiritualität?

um 13:59
Zitat von Mr.DextarMr.Dextar schrieb:Insbesondere @LetZeppelin dürfte dies interessieren. Es wird ein längerer Text, aber seht es mir nach.
In der Tat! Etwas länger, dein Beitrag, aber hochinteressant. Werde ich mir durchlesen...


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Gibt es eine nicht-esoterische naturwissenschaftliche Spiritualität?

um 14:22
Zitat von LetZeppelinLetZeppelin schrieb:In der Tat! Etwas länger, dein Beitrag, aber hochinteressant. Werde ich mir durchlesen...
Das freut mich sehr!

Ich würde auch gerne weiter über das Thema diskutieren und könnte dir bei Interesse z.B. weitere Links schicken sowie Literaturtipps geben.

Aber ich will dich auch nicht unter Druck setzen, keine Sorge. :D


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