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Gibt es eine nicht-esoterische naturwissenschaftliche Spiritualität?

74 Beiträge ▪ Schlüsselwörter: Spiritualität, Naturwissenschaft, Allgemeine Relativitätstheorie ▪ Abonnieren: Feed E-Mail

Gibt es eine nicht-esoterische naturwissenschaftliche Spiritualität?

03.10.2025 um 02:46
Hallo zusammen!

Das ist ein nicht nur extrem wichtiges, sondern auch hochinteressantes Thema und verdient mehr Beachtung als man vielleicht denkt. Ich würde sogar so weit gehen und behaupten, dass es gesamtgesellschaftliche Relevanz hat! Ihr habt bereits hier etliche gute Punkte aufgegriffen, aber ich möchte das Ganze noch einmal weiter ausführen und expandieren. Insbesondere @LetZeppelin dürfte dies interessieren. Es wird ein längerer Text, aber seht es mir nach.

Zuerst vorab zu mir, um mit offenen Karten zu spielen: Auch ich verstehe mich als Atheisten sowie (platonisch angehauchten) Naturalisten und verfüge ebenfalls über naturwissenschaftliche (und informatische) Qualifikationen, bin also vermutlich dem TE recht ähnlich. Ich bin zudem in einer Zeit groß geworden (die man übrigens auch hier im Forum nachlesen kann ;D), in der der "New Atheism" seinen größten Aufschwung hatte, also so im Zeitraum zwischen 2005 und 2010, und stand diesem dementsprechend nahe.

Der "Neue Atheismus" starb in der Form aber sukzessive in den 2010ern aus; Teile der Mitglieder wanderten in seltsame, rechte Kreise, andere wandten sich der Bewegung aus eher philosophischen Gründen ab. Vielen missfiel aber auch die Arroganz, die dort vorherrschte.

Aber hauptsächlich krankte der "Neue Atheismus" vor allem an philosophischer Leere sowie Oberflächlichkeit - jeder auch atheistische Religionsphilosoph lächelt eher müde über die Argumentation von Dawkins und Co. Ebenso bot er keine "echte" praktische Alternative zu spirituellen oder religiösen Praktiken, die es nun mal so seit Jahrhunderten und Tausenden gab. Das Bedürfnis nach Spiritualität existierte nach wie vor bei vielen Menschen. Und auch ich merkte nach einigen Jahren: Das reicht mir philosophisch nicht und auf praktischer Ebene brauche ich angesichts vieler persönlicher Lebenskrisen eine besondere Form von Stärke und Halt. Aber bitte jenseits von Religion, deren Dogmen und Lehren ich - intellektuell geschuldeten Gewissensgründen folgend - stets abgelehnt hatte.

Es ist ja im Grunde das Problem, welches Friedrich Nietzsche bereits im 19. Jahrhundert feststellte, als er vom "Tod Gottes" sprach: Man mag zwar dogmatische Religion überwunden haben, doch wenn man keine brauchbare Alternative findet, die an die gleichen psychologischen bzw. neurobiologischen Mechanismen knüpft, finden wir uns in einer Existenz ohne Sinn wieder und füllen diese mit blindem Hedonismus oder Ersatzreligionen.

Damit wären wir dann endlich beim Kernthema "Spiritualität": Wie definieren wir den Begriff überhaupt? Das mag nicht einfach sein, aber ich zitiere dazu immer zum Einstieg den von mir sehr geschätzten Bewusstseinsphilosophen Thomas Metzinger in seinem Essay "Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit" und lasse euch das da:
[...] Dies liefert uns bereits ein erstes, definierendes Merkmal: In den aktuellen, lebendigen Erscheinungsformen von Spiritualität geht es primär um Praxis und nicht so sehr um Theorie, um eine bestimmte Form des inneren Handelns und nicht um Frömmigkeit oder darum, dogmatisch an etwas Bestimmtes zu glauben. Spiritualität scheint also eine Eigenschaft zu sein, eine bestimmte Qualität des inneren Handelns. Aber was ist der Träger dieser Eigenschaft? Man könnte zum Beispiel sagen, Spiritualität ist eine Eigenschaft einer Klasse von Bewusstseinszuständen, etwa von bestimmten meditativen Bewusstseinszuständen. Es geht bei der spirituellen Erfahrung allerdings nicht nur um die Bewusstheit als solche, sondern auch um ihre leibliche Verankerung, um die subjektive Innenseite dessen, was in der modernen Philosophie der Kognitionswissenschaft embodiment oder grounding genannt wird. [...]
Spiritualität ist im Kern eine epistemische Einstellung. Spirituelle Personen wollen nicht glauben, sondern wissen. Es geht um eine erfahrungsbasierte Form von Erkenntnis, die mit innerer Aufmerksamkeit, Körpererfahrung und der systematischen Kultivierung bestimmter veränderter Bewusstseinszustände zu tun hat, das ist ganz klar – und danach wird es sofort wieder sehr schwierig [...]
Das und noch viel mehr ist hier [1] nachzulesen und ich kann es nur empfehlen!

Entgegen gängiger Annahmen handelt es sich um Spiritualität also nicht zwingend um eine Menge esoterischer oder metaphysischer Aussagen sowie dazugehöriger Praktiken, sondern um eine Form extrem subjektiver wie persönlicher Handlungsformen, welche unsere Qualia (subjektive Bewusstseinszustände) direkt beeinflussen. Auch deswegen sind ja fernöstliche Philosophien und Systeme wie die zahlreichen Schulen des Buddhismus (u.a. Mahayana), aber auch Traditionen aus dem Hinduismus (insbesondere Yogis) so "internalisiert": Erkenntnisse werden v.a. durch meditative Praktiken aus dem Geist selbst "gezogen"; im Gegensatz dazu stehen vor allem die monotheistischen Weltreligionen, die beanspruchen, Erkenntnisse durch göttliche Offenbarungen zu besitzen und diese vermeintlichen Erkenntnisse verschriftlichten.

Im obigen Aufsatz schreibt Metzinger weiter:
Fassen wir zusammen: Spiritualität ist eine epistemische Einstellung von Personen, bei der die gesuchte Form von Erkenntnis nicht theoretisch ist. Das bedeutet: Es geht nicht um Wahrheit im Sinne der richtigen Theorie, sondern um eine bestimmte Praxis, eben eine spirituelle Praxis. Im Falle der klassischen Meditationspraxis ist dies eine systematische Form des inneren Handelns, das sich dann bei genauerem Hinsehen als eine bestimmte Form des aufmerksamen Nicht-Handelns entpuppt. Die gesuchte Form von Erkenntnis ist nicht propositional, es geht nicht um wahre Sätze. Es geht auch nicht um gedankliche Einsichten, und die gesuchte Form von Erkenntnis ist deshalb sprachlich nicht kommunizierbar, sie kann höchstens angedeutet oder gezeigt werden
Ein neuerer Beitrag von ihm ist übrigens dieses Interview hier. Dort führt er das Thema nochmals weiter aus; es geht dort vor allem darum, ob uns Spiritualität in Zeiten von Klimakrisen und Chaos eine Hilfe und Stütze sein kann:

Youtube: Glaube vs. Spiritualität: Was hilft uns in der Klimakrise? | Sternstunde Religion | SRF Kultur
Glaube vs. Spiritualität: Was hilft uns in der Klimakrise? | Sternstunde Religion | SRF Kultur
Externer Inhalt
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Dort sowie im Aufsatz erwähnt er noch weitere wichtige Aspekte meditativer Praktiken: Wir lernen zum Beispiel nicht nur, gewisse Bewusstseinszustände zu kultivieren, sondern auch, wie man das "Ego", das "Ich-Gefühl", welches im Kern an so vielen Fronten hinderlich sein kann, praktisch auflöst. Dadurch, so führt er weiter aus, können wir u.a. auch sterben "lernen". Der Tod sowie der Prozess des Sterbens können uns so im Idealfall keine Furcht mehr machen – denn wir sind am Ende auch nur ein extrem winziger Teil dieser gewaltigen Existenz und können die Dinge in einem anderen Kontext betrachten. Einige von euch sprachen auch hier von Psychedelika und dem Gefühl einer Art universeller Einigkeit nach Einnahme dieser. Genau das ist ebenso Aspekt dieser Ego-Auflösung und wird in etlichen spirituellen Praktiken daher angestrebt! Durch solche Substanzen kann man das aber nochmals - sagen wir mal - beschleunigen. Das sollte aber keine Anregung sein, diese einzunehmen. ;)

Also um deine Frage, @LetZeppelin, abschließend zu beantworten: Ja, eine naturwissenschaftlich orientierte Spiritualität mit starkem empirischen Hintergrund gibt es sehr wohl!

Das Ding ist, dass wir sehr viel eigene Arbeit betreiben müssen, um diese zu entdecken, da eine solche Spiritualität immer höchst individuell ist. Der "Vorteil" von Religionen ist hier, dass man sicherlich ein vorgefertigtes System hat, das zudem lange historische und philosophische Traditionen beherbergt - aber gleichzeitig sind der Dogmatismus sowie die Tatsache, dass man sich metaphysisch an eine Autorität (Gott / Götter) bindet, die größte Schwäche.
Wir müssen eigenständig Mantren finden, die wir in Zeiten von Schmerz und Angst abrufen, um diese so gut wie möglich zu überstehen. Wir beten nicht (und liefern uns so als Sklaven von Gottheiten aus), sondern fokussieren uns - ganz wie die Stoiker - auf Dinge, die wir selbst beeinflussen können und erledigen den Rest durch meditative Praktiken. Unsere Bibel bzw. unser Koran ist nicht kompiliert worden, sondern muss von uns selbst aus eigens gefundenen Werken kompiliert werden. Und so weiter.

Um abschließend noch das Thema der Mechanismen anzusprechen: Es gab dazu ein recht neues Review-Paper [2], das systematisch etliche Studien über religiöse und spirituelle Erfahrungen auf neurobiologischer Ebene untersuchte. Ich habe es noch nicht durchgearbeitet, aber was ich bisher las, bestätigt nochmals: Ob nun Religion oder Spiritualität, ob Meditation oder Gebet, es handelt sich um verschiedene Ausprägungsformen gleicher neuronaler Mechanismen, welche zur Stabilität unserer Psyche beitragen. Und dies hat offensichtlich einen evolutionären Zweck bei einer Spezies, die sich der eigenen Endlichkeit bewusst ist und im Sinne der "Terror management theory" kognitiv Aufwand betreiben muss, um nicht komplett durchzudrehen.

Das alles kratzt natürlich immer noch an der Oberfläche, aber gerne führe ich bei Interesse weitere Punkte aus oder kann meine persönlichen Erfahrungen sowie Praktiken darlegen. :)

______________________________________________________________
Quellenverzeichnis:
[1]: https://www.philosophie.fb05.uni-mainz.de/files/2014/04/TheorPhil_Metzinger_SIR_2013.pdf
[2]: https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0149763425003203


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Gibt es eine nicht-esoterische naturwissenschaftliche Spiritualität?

04.10.2025 um 13:59
Zitat von Mr.DextarMr.Dextar schrieb:Insbesondere @LetZeppelin dürfte dies interessieren. Es wird ein längerer Text, aber seht es mir nach.
In der Tat! Etwas länger, dein Beitrag, aber hochinteressant. Werde ich mir durchlesen...


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Gibt es eine nicht-esoterische naturwissenschaftliche Spiritualität?

04.10.2025 um 14:22
Zitat von LetZeppelinLetZeppelin schrieb:In der Tat! Etwas länger, dein Beitrag, aber hochinteressant. Werde ich mir durchlesen...
Das freut mich sehr!

Ich würde auch gerne weiter über das Thema diskutieren und könnte dir bei Interesse z.B. weitere Links schicken sowie Literaturtipps geben.

Aber ich will dich auch nicht unter Druck setzen, keine Sorge. :D


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Gibt es eine nicht-esoterische naturwissenschaftliche Spiritualität?

17.10.2025 um 09:30
Zitat von LetZeppelinLetZeppelin schrieb am 04.09.2025:Eine positivistische Wissenschaft lehnt rigoros alles nicht Messbare ab! Das geht für mich in Richtung Scheuklappe!
Wir sind eben in unseren Erkenntnismöglichkeiten sehr beschränkt. Wir können also entweder das glauben, was wir als wahrscheinlich erkennen (belegen können). Oder wir glauben (nach eigenen Kriterien) alles, was irgendwie möglich sein könnte. Oder auch irgend was dazwischen, ohne eine Möglichkeit der sinnvollen Abgrenzung.

Natürlich kannst Du das Argument der "Schauklappe" bringen, wenn wir uns zu sehr auf das fixieren, was wir kennen. Aber die "Lösung" dieses Problems ist ja nicht, dass man alles für möglich hält, was sein könnte.

Letztlich ist ja die Frage, warum wir Menschen Spiritualität brauchen. Und da ist die Antwort eigentlich recht simpel: Sie hilft uns, glücklicher zu leben.
Wir haben eine stark ausgeprägten Selbsterhaltungstrieb und müssen doch sterben. Noch schlimmer: Wir wissen, dass wir sterben müssen. Und haben damit ein Dilemma. Eine Quelle der ständigen Angst (je nachdem, wie gut wir verdrängen). In bestimmten Situationen wird uns dieser Umstand auch noch mal besonders vor Augen geführt und das Verdrängen wird schwieriger. Da brauchen wir einen Ausweg.
Oder wenn wir Leid erfahren oder einfach erkennen, wie wenig wir ändern können (wir werden krank, verlieren die Arbeit etc.). Dann ist Spiritualität tröstlich. Aber letztlich ist es eben ein Trick unseres klugen Gehirns, eine Lösung für ein Dilemma zu finden. An sich eine gute Sache, denn es ist ja sehr erstrebenswert, glücklich zu leben. Die Gefahr besteht aber, dass die Spiritualität sich verselbständigt und aus ihr selbst eine Quelle des Leids entsteht.
Wir müssen eben ein bisschen vorsichtig sein, was wir als Mittel für einen Trost wählen und wie weit wir gehen wollen.


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Gibt es eine nicht-esoterische naturwissenschaftliche Spiritualität?

17.10.2025 um 11:14
Zitat von azazeelazazeel schrieb:Letztlich ist ja die Frage, warum wir Menschen Spiritualität brauchen. Und da ist die Antwort eigentlich recht simpel: Sie hilft uns, glücklicher zu leben.
Wir haben eine stark ausgeprägten Selbsterhaltungstrieb und müssen doch sterben. Noch schlimmer: Wir wissen, dass wir sterben müssen. Und haben damit ein Dilemma. Eine Quelle der ständigen Angst (je nachdem, wie gut wir verdrängen). In bestimmten Situationen wird uns dieser Umstand auch noch mal besonders vor Augen geführt und das Verdrängen wird schwieriger. Da brauchen wir einen Ausweg.
Oder wenn wir Leid erfahren oder einfach erkennen, wie wenig wir ändern können (wir werden krank, verlieren die Arbeit etc.). Dann ist Spiritualität tröstlich. Aber letztlich ist es eben ein Trick unseres klugen Gehirns, eine Lösung für ein Dilemma zu finden. An sich eine gute Sache, denn es ist ja sehr erstrebenswert, glücklich zu leben. Die Gefahr besteht aber, dass die Spiritualität sich verselbständigt und aus ihr selbst eine Quelle des Leids entsteht.
Wir müssen eben ein bisschen vorsichtig sein, was wir als Mittel für einen Trost wählen und wie weit wir gehen wollen.
Man ignoriert die Realität und bastelt sich eine eigene. Eine Art von Eskapismus. :-|


Und, nein, nicht jeder braucht diese Unterstützung, die man je nach Neigung auch gerne mit "emotionale Krücken" bezeichnen kann.

Ich weiß, dass ich sterben werde und dieses faszinierende Leben endet.
Aber ich hatte Glück. Millionen von anderen haben beim härtesten Schwimmwettbewerb verloren und haben das Leben nicht kennen gelernt, ich schon.
Sterne sind gestorben, um die Materie zu bilden, aus der ich bestehe.
Es gibt so viele faszinierende Natur, Wissenschaft und Co., ich habe gar nicht das Bestreben, mir irgendwas auszudenken.

Grüße
Omega Minus


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Gibt es eine nicht-esoterische naturwissenschaftliche Spiritualität?

17.10.2025 um 13:04
Zitat von OmegaMinusOmegaMinus schrieb:Es gibt so viele faszinierende Natur, Wissenschaft und Co., ich habe gar nicht das Bestreben, mir irgendwas auszudenken.
Bei "natürlicher Spiritualität" geht es ja genau darum, NICHT Dinge dazuzuerfinden, sondern sich quasi der Stärke des eigenen Geistes zu bedienen. Kannst dir gerne auch meinen ausführlichen Beitrag oben dazu durchlesen. :)

Wir sind - sofern wir nicht mittels der technologischen Singularität einen Ausweg finden - endliche, sterbliche Wesen und müssen Terror management theory betreiben, damit wir funktionieren. Das sind nun mal leider die Kehrseiten höherer Kognition, die sich bei uns im Laufe der Evolution entwickelt haben.

Es gab und gibt dabei schon rein historisch Denkansätze-und Traditionen (ob Stoiker oder Epikureer im antiken Griechenland oder diverse buddhistische Schulen und Philosophien), die nicht abhängig von der Existenz bestimmter Götter, Ebenen etc. sind und die Kraft im Inneren des menschlichen Geistes selbst suchen. Die moderne Psychologie hiflt uns zudem dabei, das ganze empirisch zu erfassen, damit wir zumindest eine Idee haben, wo wir ansetzen können.

Jeder tickt anders, das ist auch klar, und es gibt Menschen, die auch sowas nicht benötigen, selbst dann nicht, wenn sie schwere Lebenskrisen durchstehen. Aber auch solche Menschen haben Coping-Mechanismen, die ihnen helfen, resilient aus solchen Krisen herauszukommen.


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Gibt es eine nicht-esoterische naturwissenschaftliche Spiritualität?

17.10.2025 um 13:56
Zitat von Mr.DextarMr.Dextar schrieb am 03.10.2025:Spirituelle Personen wollen nicht glauben, sondern wissen.
Dann bin ich nicht spirituell, denn mir ist klar, dass ich (in den meisten Fällen) keine Gewissheit erlangen kann. Und das ist OK so. Was ist schon gewiss? (mors certa, hora incerta)

Und da sehe ich ein bisschen das Problem, denn Wissen und Wissenschaft schließen sich insofern aus, als der Kern der Wissenschaft eben der Zweifel ist. Man hat "nur" das gerade aktuelle beste Modell, man kennt die Grenzen des Modells, aber es ist eben nicht "Die Wahrheit"(M). Innerhalb dessen gibt es soviel zu entdecken, Dinge, die ich persönlich interessant, anrührend, faszinierend finde. *)

Weiterhin ist es natürlich ein gutes Unterfangen sich bewusst zu machen, was man gerade tut, wie man es tut und warum man es tut. Aber das würde zumindest ich nicht als spirituell bezeichnen. Sondern ... reflektiert statt stumpf!?

Grüße
Omega Minus

*)
Warmer Sommertag vor 30 Jahren, ich lese in einem Buch was über Darstellungstheorie nullteierfreier Algebren. Und was purzelt mir da über den Schriebtisch? Die Paulischen Spin-Matrizen! In der Retrospektive total klar, aber in dem Moment ... hossa, hatte ich eine Gänsehaut!


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Gibt es eine nicht-esoterische naturwissenschaftliche Spiritualität?

17.10.2025 um 14:13
Ich verstehe mich ja ebenfalls als Skeptiker durch und durch, gehe also d'accord mit dem, was Du aussagen willst. Aber ich möchte sinnvoll ergänzen:
Zitat von OmegaMinusOmegaMinus schrieb:Und da sehe ich ein bisschen das Problem, denn Wissen und Wissenschaft schließen sich insofern aus, als der Kern der Wissenschaft eben der Zweifel ist. Man hat "nur" das gerade aktuelle beste Modell, man kennt die Grenzen des Modells, aber es ist eben nicht "Die Wahrheit"(M). Innerhalb dessen gibt es soviel zu entdecken, Dinge, die ich persönlich interessant, anrührend, faszinierend finde. *)
Du formulierst es schon richtig, die "Wahrheit" ist ein komplizierteres Konzept als man vielleicht ursprünglich annehmen würde; nicht umsonst gibt es auch innerhalb der Philosophie "Wahrheitstheorien". Insofern spielt diese beispielsweise eher in der Mathematik bzw. den Formalwissenschaften eine klarere Rolle; wir einigen uns auf wahre Axiome (oder finden diese, das ZFC-Axiomensystem ist ja infolge eines intellektuellen Diskurses entstanden) und deduzieren bzw. basteln daraus Theoreme eines immer größer werdenden Konstrukts, vereinfacht gesprochen.

In der Wissenschaftstheorie haben wir mittlerweile eine Abweichung syntaktischer Interpretationen (die von Rudolf Carnap und seinen Logischen Positivisten am Anfang des 20. Jahrhunderts entworfen wurde) und arbeiten modellgetrieben bzw. mit Modellen an sich. Durch diese Modelle approximieren wir die "wahre" Beschaffenheit der Natur und nähern uns der "Wahrheit" an. Solch ein Konsens stellt Wissen dar, wobei das undogmatisch ist und jederzeit abgeändert sowie verfeinert werden kann.

Das dazu. Aber um das Wissen im Kontext (natürlicher) Spiritualität näher zu erläutern: Du wirst sicher zustimmen, dass wir als Menschen die unterschiedlichsten Bewusstseinszustände haben und einnehmen können. Das Wissen, auf das sich Metzinger und Co. beziehen, meint ein persönliches und subjektives Wissen über das Einnehmen bestimmter Bewusstseinszustände und wie sich diese auf qualitativer Ebene anfühlen. Es ist eine direkte, phänomenologische Erfahrung, die wir dann z.B. durch Meditationspraktiken für uns auch reproduzieren können.

Man bekommt lediglich die Tools von anderen zur Verfügung gestellt, aber da es sich per definitionem um einen subjektiven Zustand (i.e. unser mentales Erleben) handelt, sind wir selbst diejenigen, die herausfinden müssen, wie sich solche Zustände anfühlen, wie wir sie erreichen usw.
Zitat von OmegaMinusOmegaMinus schrieb:Warmer Sommertag vor 30 Jahren, ich lese in einem Buch was über Darstellungstheorie nullteierfreier Algebren. Und was purzelt mir da über den Schriebtisch? Die Paulischen Spin-Matrizen! In der Retrospektive total klar, aber in dem Moment ... hossa, hatte ich eine Gänsehaut!
Das ist übrigens ein schönes Beispiel einer solchen "Spiritualität": Ein interessant-faszinierender Bewusstseinszustand, den Du zudem auch noch nach 30 Jahren abgespeichert hast und der dir Freude bereitet. :) Das ist ein überaus wichtiger Baustein in einem solchen System.


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Gibt es eine nicht-esoterische naturwissenschaftliche Spiritualität?

17.10.2025 um 14:31
Zitat von OmegaMinusOmegaMinus schrieb:Man ignoriert die Realität und bastelt sich eine eigene. Eine Art von Eskapismus.
Ich würde eher sagen, es ist ein Zielkonflikt zwischen Emotion und Rationalität. "Glücklich sind die Unwissenden", ist ja nicht unbegründet. Sobald ich auf "ängstigende Realitäten" stoße, habe ich erst mal ein Problem. Ich fühle mich schlecht. Und dann stellt sich die Frage, mit welcher Strategie fühle ich mich besser.
Die häufigste Strategie ist schlicht Verdrängung. Aber auch das Suchen nach einer Erklärung (egal, ob diese nun rational belastbar ist oder nicht), ist eine gute Strategie, wenn man alleine den Zweck "sich nicht ständig zu ängstigen" betrachtet. Beide Strategien haben ihre Probleme dann an anderer Stelle.

Man kann sicherlich auch den Zustand erreichen: "Ich akzeptiere mein Schicksal und freue mich über die schönen Dinge und lasse mich von den unschönen Dingen nicht belasten." Ich glaube nur nicht, dass das dauerhaft funktioniert. Da ist es sicherlich (abseits des Charakters und der Lebenserfahrung) eine Frage von Glück oder Pech im Leben. Wer viele Nackenschläge bekommt und wenig positives Feedback, wird es wohl schwerer haben.


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Gibt es eine nicht-esoterische naturwissenschaftliche Spiritualität?

17.10.2025 um 14:32
Zitat von Mr.DextarMr.Dextar schrieb:Du wirst sicher zustimmen, dass wir als Menschen die unterschiedlichsten Bewusstseinszustände haben und einnehmen können.
Ja.
Zitat von Mr.DextarMr.Dextar schrieb:Das Wissen, auf das sich Metzinger und Co. beziehen, meint ein persönliches und subjektives Wissen über das Einnehmen bestimmter Bewusstseinszustände und wie sich diese auf qualitativer Ebene anfühlen.
Komische Idee. Aber wie sich unterschiedliche Zustände anfühlen und wie man sie hervorbringen kann (Drogen, Sex, Musik, Natur, die Entspannung nach ausgedrücktem Pickel...), das würde ich nicht als spitirituell hochstiliseren. Ich denke ich kann also nachvollziehen, was gemeint ist, aber ich sehe das halt anders.

Aber das ist die Crux:
Einerseits kann eine unmittelbare Erfahrung halt stark wirken (Out-of-Body-Experience, hatte ich zweimal), andererseits bin ich aber auch daran interessiert, auf was man sich intersubektiv einigen kann.

Ich werde mal darüber reflektieren.

Grüße
Omega Minus


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Gibt es eine nicht-esoterische naturwissenschaftliche Spiritualität?

17.10.2025 um 14:48
Zitat von OmegaMinusOmegaMinus schrieb:Komische Idee. Aber wie sich unterschiedliche Zustände anfühlen und wie man sie hervorbringen kann (Drogen, Sex, Musik, Natur, die Entspannung nach ausgedrücktem Pickel...), das würde ich nicht als spitirituell hochstiliseren. Ich denke ich kann also nachvollziehen, was gemeint ist, aber ich sehe das halt anders.
Mir ging es ähnlich wie dir, als ich das erste Mal von diesen Ideen hörte; gerade für uns, die in den westlichen Hemisphären heimisch sind, wirkt es befremdlich, wenn wir Spiritualität auf einer anderen Weise begegnen als der, die uns bereits bekannt ist (esoterische Weltbilder, anderes Wort für bestimmte Formen von Religiosität usw.). Aber der Diskurs um einen ohnehin nicht sehr scharfen Begriff hielt und hält an, und das ursprüngliche spiritualis kann semantisch vielseitig interpretiert werden.

Um nochmals länger aus dem obigen Essay zu zitieren:
Spiritualität ist im Kern eine epistemische Einstellung. Spirituelle Personen wollen nicht glauben, sondern wissen. Es geht um eine erfahrungsbasierte Form von Erkenntnis, die mit innerer Aufmerksamkeit, Körpererfahrung und der systematischen Kultivierung bestimmter veränderter Bewusstseinszustände zu tun hat, das ist ganz klar – und danach wird es sofort wieder sehr schwierig. Wenn man mit Menschen spricht, die eine spirituelle Praxis ausüben, etwa mit Langzeitmeditierenden aus der Vipassanā- oder Zen-Tradition, dann zeigt sich schnell: Der Gegenstandsbereich, die Erkenntnisziele, die gesuchten Gegenstände des Wissens sind begrifflich nicht klar und deutlich benennbar. Diese Gegenstände decken sich aber teilweise mit denen, die früher von den Religionen und der traditionellen Metaphysik gesucht wurden, insbesondere den Mystikern. Sehr häufig gibt es dabei auch so etwas wie ein Erlösungsideal, manche nennen es „Befreiung“, andere „Erleuchtung“. Typischerweise wird die gesuchte Form von Wissen als eine sehr spezielle Form von Selbsterkenntnis beschrieben, sie ist also nicht nur befreiend, sondern auch reflexiv auf das eigene Bewusstsein des spirituell Praktizierenden gerichtet – man kann sagen, dass es dabei um die Bewusstheit als solche geht, unter Auflösung der Subjekt-Objekt-Struktur und jenseits der individuellen Erste-Person-Perspektive. Sie tritt oft im Zusammenhang mit der systematischen Kultivierung
bestimmter veränderter Bewusstseinszustände auf. Dabei wird bei einer Lektüre der entsprechenden Texte rasch deutlich, dass nicht nur die Vertreter spiritueller Traditionen sich seit Jahrhunderten darüber streiten, ob es wirklich so etwas wie eine erlernbare Form, Methoden oder Techniken der spirituellen Praxis geben kann, also einen systematischen Übungsweg zur Erlangung des fraglichen Wissens. Auch in der Gegenwart werden immer wieder die klassischen Fragen gestellt: Ist die Meditation als ein Beispiel spiritueller Praxis
eine Methode oder ist sie gerade das Loslassen aller Methoden und Ziele? Erfordert sie Anstrengung, oder ist sie notwendig anstrengungslos? Woran kann man echten Fortschritt erkennen, und lassen sich Illusionen, Wahnvorstellungen oder Selbsttäuschung anhand irgendwelcher Kriterien von tatsächlicher Erkenntnis unterscheiden?
Es gibt dann auch eine klassische Antwort, die sich in den unterschiedlichsten Zusammenhängen immer wieder zeigt: Das Kriterium ist ethische Integrität, das im Verhalten beobachtbare ernsthafte Streben nach einer prosozialen, ethisch stimmigen Lebensweise. Aber über das fragliche Wissen
selbst kann man so gut wie nichts sagen, es ist sprachlich nicht mitteilbar oder argumentativ begründbar, und es gibt keine allgemeingültige Lehre.
[..]
Auszug abermals aus: https://www.philosophie.fb05.uni-mainz.de/files/2014/04/TheorPhil_Metzinger_SIR_2013.pdf

Man kann auf Wikipedia auch Folgendes lesen, was das Ganze nochmals grob zusammenfasst:
Im 21. Jahrhundert öffnet sich das Verständnis von Spiritualität endgültig. Spiritualität ist nun weder zwingend an Transzendenz noch an die Konfessionen der Religionen gebunden. Die Bindung daran bleibt aber trotzdem eine Option.
Quelle: Wikipedia: Spiritualität#Theoretisches Fazit: offene Definitionen im 21. Jahrhundert
Zitat von OmegaMinusOmegaMinus schrieb:andererseits bin ich aber auch daran interessiert, auf was man sich intersubektiv einigen kann.
Ja, auch solche Ansätze gibt es in der Forschung mittlerweile. Kannst dich ja z.B. hier einlesen: https://mpe-project.info/the-mpe-project/
MPE is the abbreviation for “minimal phenomenal experience”. The main goal of this research project is to develop a minimal-model explanation of consciousness, by focusing on the experience of awareness “as such”. One background assumption is that self-consciousness, a first-person perspective, time representation, and self-location in a spatial frame of reference are not necessary conditions for consciousness to occur. Currently, members of the network use an investigation of the phenomenology and neural correlates of specific subjective experiences in meditation as its main entry point, experiences which are later often described as episodes of “pure consciousness”.



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Gibt es eine nicht-esoterische naturwissenschaftliche Spiritualität?

17.10.2025 um 17:24
Zitat von azazeelazazeel schrieb:Wir sind eben in unseren Erkenntnismöglichkeiten sehr beschränkt. Wir können also entweder das glauben, was wir als wahrscheinlich erkennen (belegen können). Oder wir glauben (nach eigenen Kriterien) alles, was irgendwie möglich sein könnte. Oder auch irgend was dazwischen, ohne eine Möglichkeit der sinnvollen Abgrenzung.
Das sind aus meiner Sicht alles ziemlich sinnentleerte Optionen.
Entweder ich glaube nur was ohnehin evident ist, einfach alles oder eine Mischung ohne sinnvolle Begründung.
Offen wird an der Stelle nur eines: wir definieren selbst woran wir glauben und sind dann auch für die Konsequenzen selbst verantwortlich.
Zitat von azazeelazazeel schrieb:Letztlich ist ja die Frage, warum wir Menschen Spiritualität brauchen. Und da ist die Antwort eigentlich recht simpel: Sie hilft uns, glücklicher zu leben.
Mit Verlaub - du verwechselst Ursache und Wirkung. Menschen sind tendenziell glücklicher weil sie spirituell sind (dafür gibt es ja ne Reihe an Untersuchungen).
Aber sie werden und sind nicht spirituell, weil sie glücklich sein wollen. Das würde auch einfach nicht funktionieren. Genauso wenig kann dir Spiritualität die Angst vor dem Tod nehmen, wenn du sie hast. Oder irgendeine andere Angst.


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Gibt es eine nicht-esoterische naturwissenschaftliche Spiritualität?

17.10.2025 um 19:07
Zitat von paxitopaxito schrieb:Aber sie werden und sind nicht spirituell, weil sie glücklich sein wollen. Das würde auch einfach nicht funktionieren. Genauso wenig kann dir Spiritualität die Angst vor dem Tod nehmen, wenn du sie hast. Oder irgendeine andere Angst.
Kommt auf den Menschen an und was er glaubt im Spirituellen gefunden zu haben. Man sagt nicht umsonst Religion sei Opium für das Volk. Die Frage nach dem Tod, nach einem Sinn, nach Antworten auf Fragen die wir Menschen in Wirklichkeit nicht vollends wissen, können sehr quälend sein. Besonders wenn dazu viel Leid in einer Lebenssituation existiert. Durch Religionen eine scheinbare Antwort darauf zu erhalten, kann sehr tröstend, kraft spendend, und Hoffnung geben. Im Grunde beruhigt es. Ruhe ist der erste Schritt zum Glück, wenn man durch das Ungewisse geplagt wird.


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Gibt es eine nicht-esoterische naturwissenschaftliche Spiritualität?

21.10.2025 um 17:31
Zitat von paxitopaxito schrieb am 17.10.2025:Aber sie werden und sind nicht spirituell, weil sie glücklich sein wollen.
Doch, genau das. Das entspricht genau Deiner vorherigen Aussage zur Kausalität. Weil Spiritualität Glück bewirken kann, wählen Menschen (intuitiv) die Spiritualität. Ich verstehe dein Argument nicht.
Zitat von paxitopaxito schrieb am 17.10.2025:Das sind aus meiner Sicht alles ziemlich sinnentleerte Optionen.
Willkommen im Leben.


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