Spekulationen über die Evolution des genetischen CodesHier ist eine gebräuchliche Darstellung in der UCAG-Abfolge der mRNA-Basen. Man erkennt deutlich, dass sich die codierten Aminosäuren in Gruppen sortieren, die durch die jeweils erste und zweite Base vorgegeben sind. Ein Viererfenster ist z.B. der Bereich oben links in der Tabelle. Die erste Base ist U und die zweite Base ist U. Die dritte Base umfasst alle vier Möglichkeiten, also U,C,A und G.
Dieses Viererfenster ist zweigeteilt. Die obere Hälfte codiert für die Aminosäure Phenylalanin und die untere Hälfte für Leucin. Interessant ist nun, dass die Zweiteilung darauf zurückzuführen ist, dass die dritte Base entweder ein Pyrimidin darstellt (U oder C) oder ein Purin (A oder G). Folglich hat hier die Selektion dazu geführt, dass die bereitstellende tRNA im Verlauf der Beladung mit “ihrer” Aminosäure nach Purin oder Pyrimidin un-terschieden wird.
Interessanterweise häufen sich solche Zweiteilungen in der Spalte, wo die zweite Base ein A ist bzw. in der Zeile, wo die erste Base ein U ist. Hier spielt offensichtlich der Umstand eine Rolle, dass die Basenpaarung zwischen A und U nur zwei Wasserstoffbrückenbindungen aufweist, so dass hier eine geringere Stabilität vorhanden ist als zwischen G und C, die drei Wasserstoffbrückenbindungen aufweisen. Die geringere Stabilität führte offenbar zu einer größeren Variabilität bei der Beladung mit Aminosäuren, so dass hierbei die Zahl der codierten Aminosäuren erweitert werden konnte.
Da die G-C-Basenpaarung stabiler ist, blieben hier die Viererfenster bevorzugt erhalten, so dass wir hier meist nur eine Aminosäure codiert finden. Aus dem d-Wert von nahe 3 hatte ich abgeleitet, dass etwa die Hälfte der Viererfenster komplett und die andere Hälfte zweigeteilt ist. Zählt man in der Code-Tabelle nach, erhalten wir exakt die Hälfte, nämlich 8 von 16 Viererfenstern, die nur für eine einzige Aminosäure codieren.
Es sind dies:
– das UC-Fenster für Serin,
– das CU-Fenster für Leucin,
– das CC-Fenster für Prolin,
– das CG-Fenster für Arginin,
– das AC-Fenster für Threonin,
– das GU-Fenster für Valin,
– das GC-Fenster für Alanin,
– das GG-Fenster für Glycin.
Sechs von acht Fenstern sind nach oben beschriebenem Pyrimidin/Purin-Muster zweigeteilt:
– das UU-Fenster für Phenylalanin und Leucin,
– das UA-Fenster für Tyrosin und STOP
– das CA-Fenster für Histidin und Glutamin,
– das AA-Fenster für Asparagin und Lysin,
– das AG-Fenster für Serin und Arginin.
– das GA-Fenster für Asparaginsäure und Glutaminsäure.
Die übrigen zwei Fenster sind sehr aufschlussreich, weil deren Einteilung vom Pyrimidin/Purin-Muster abweicht. Es handelt sich einerseits um das AU-Fenster mit dreimal Isoleucin und einmal Methionin sowie um das UG-Fenster mit Cystein, das dem Pyrimidin/Purin-Muster entspricht (die dritte Base ist ein Pyrimidin!) und dem wiederum zweigeteilten Bereich mit einem Purin als dritter Base, wobei zum einen eine Leerstelle als STOP-Codon vorhanden ist und zum anderen die Aminosäure Tryptophan codiert wird.
Aufschlussreich sind diese beiden ungewöhnlich eingeteilten Viererfenster deshalb, weil sie Rückschlüsse zur möglichen Code-Evolution erlauben. Man kann nun spekulieren, ob die beiden Einzelvertreter Methionin und Tryptophan Neuerwerbungen oder Relikte aus Code-Vorläufern darstellen.
Wenn es sich um Neuerwerbungen handelt, dann zeigt sich, wie die Code-Evolution vonstatten ging: Zufällig wurde eine tRNA fehlbeladen, weil das zugehörige Enzym infolge einer Mutation so verändert war, dass es z.B. Methionin statt Isoleucin an sich band. Da sich dies als vorteilhaft erwies, setzte sich diese Mutation durch und verdrängte die übrigen Varianten, die diese Mutation nicht aufwiesen. Analog dazu ist der Fall bei Tryptophan denkbar, wo eine tRNA zur Verfügung stand, die vorher nicht beladen wurde und ursprünglich als STOP-Signal diente.
Diese Erklärung hat allerdings einen Haken: Methionin (bei Bakterien auch eine chemische Abwandlung davon – Formyl-Methionin!) steht immer als erste Aminosäure in der synthetisierten Aminosäurekette, weil das AUG-Triplett als Startcodon dient. Das macht auch Sinn, denn Methionin wird als Ausgangsstoff für die Anlagerung von Methylgruppen an reaktive Molekülreste verwendet, um sie vor Abbau zu schützen. Die frisch synthetisierte Aminosäurekette wird also durch Methionin vor dem Abbau durch Enzyme geschützt. Später wird dieser Schutz nicht benötigt und das Methionin wird abgespalten.
Wenn Methionin so eine zentrale Rolle innehat (und die zugehörige tRNA!), ist es plausibler, dass es sich hierbei um ein Relikt handelt, das im Verlauf der Code-Evolution als unverzichtbarer Bestandteil übrig geblieben ist. Das bedeutet wiederum, dass möglicherweise das gesamte AU-Viererfenster ursprünglich für Methionin codierte und später erst – bis auf ein einzelnes Triplett – durch Isoleucin besetzt wurde. Dieses eine Triplett blieb deshalb übrig, weil Methionin stets als Start benötigt wurde. Anderenfalls wäre es vermutlich völlig verdrängt worden.
Ähnlich gestalten sich die Verhältnisse bei Tryptophan. Möglicherweise war das Viererfenster ursprünglich nach dem Pyrimidin/Purin-Muster zweigeteilt, mit Cystein und Tryptophan in zweifacher Codierung. Durch eine Mutation ging jedoch ein Enzym verloren, das Tryptophan mit einer der beiden tRNA verband, so dass ein weiteres STOP-Signal entstand.
In den Mitochondrien von Gliederfüßern (Arthropoden) - dem bei weitem artenreichsten Stamm der Tiere - ist ein genetischer Code in Gebrauch, der diesem vermuteten Schema des einstigen Standardcodes nahekommt.
Hier ist eine Darstellung des Codierungsschemas. Die durchgängige Einteilung in Viererfenster und Zweierfenster ist klar zu erkennen.
Aus alledem lässt sich ableiten, dass die Code-Evolution vermutlich so ablief, dass zunächst komplette Viererfenster vorhanden waren, wobei eins davon unbelegt blieb und vier STOP-Codons enthielt. Diese Situation entspricht einem Dublett-Code mit Komma. Das heißt: Die erste und zweite Base der mRNA legte die codierte Aminosäure fest. Die dritte Base hatte keine Bedeutung. Der Umfang der codierten Aminosäuren belief sich auf maximal 15. Die Anzahl der Leerstellen und die Anzahl der Codons pro Aminosäure entsprach der Anzahl der verfügbaren Basen.
Mit der Nutzung der zerbrechlicheren A-U-Paarung für die Erweiterung der Variationsvielfalt zur Beladung mit weiteren Aminosäuren, reduzierte sich die Anzahl der Leerstellen auf zwei und die Viererfenster wurden bevorzugt nach dem Pyrimidin/Purin-Muster zweigeteilt, die als erste bzw. zweite Base ein A und/oder ein U aufwiesen. Die Start-Aminosäure Methionin wurde auf ein einzelnes Codon reduziert und die Aminosäure Tryptophan erodierte durch Mutation der zugehörigen Enzyme ebenfalls auf ein einziges Codon, wobei ein zusätzliches STOP-Codon entstand.
Alles in allem ein recht durchschaubares Szenario. Es dürfte allerdings schwierig sein, es experimentell mit Datenmaterial zu belegen bzw. zu widerlegen.