Dew schrieb:Da hat also ein harmloser junger Mann von 20 Jahren in der Bundesrepublik des Jahres 1989, der neben seinem Wehrdienst in der katholischen Kirche aktiv ist, einen Feind im Zivilleben, der ihn buchstäblich bis auf´s Messer hasst, von dem aber niemand in seinem Umfeld etwas weiß.
Von Null auf Mord und keiner kriegt´s mit?
Was wäre wohl in so einem biederen Umfeld ein "normales" Mordmotiv?
Ja, ich glaube, dass "ein harmloser junger Mann von 20 Jahren in der Bundesrepublik (...) usw." im Zivilleben einen Konflikt mit jemandem hatte, und dass dieser Konflikt dann zu dem Mord führte. Wichtig dabei: Norbert S. muss nicht gewusst haben, dass aus der Sicht eines anderen Mannes ein Konflikt bestand. Und wenn schon das Opfer selber es nicht unbedingt wusste, dann wusste es das Umfeld auch nicht unbedingt. Man darf bei dem Wort "Konflikt" eben nicht nur an öffentlich ausgetragene Schrei- und Faustkampfduelle denken.
Bevor ich weiter auf die einzelnen Fragen eingehe, möchte ich noch feststellen, dass Deine Frage bereits einige Annahmen/ Unterstellungen enthält. Du unterstellst, zum Beispiel, dass das Opfer "harmlos" war und sein Umfeld "bieder", und dass das beides sein Risiko, Opfer zu werden, reduziert hat. Du unterstellst, scheint mir ich, dass man im Jahre 1989 insgesamt weniger gefährdet war als heute (was empirisch nicht stimmt), Du unterstellst, dass die Verbindung des Opfers zur Kirche ebenfalls sein Risiko, ermordet zu werden, gesenkt hat. Und Du unterstellst, dass bei einem Mord immer Hass im Spiel ist. Alle diese als gegeben angenommenen Faktoren kann man anzweifeln oder - wie bei der Jahresangabe - vollends zurückweisen.
Die ganze Annahme, die Harmlosigkeit einer Person würde sie davor beschützen, Mordopfer zu werden, finde ich sehr fragwürdig. Die vielen Frauen, die von ihren Partner oder Ex-Partnern umgebracht werden, dürften zum großen Teil auch harmlos sein, was sie aber nicht im geringsten schützt. Auch wer getötet wird, weil er einer bestimmten Erbfolge im Wege steht, wird nicht getötet, weil er es an Harmlosigkeit hat fehlen lassen - sondern weil er ein "ungünstiges" Geburtsdatum hat. Mir fallen so viele Beispiele ein ...
Umgekehrt fallen mir kaum Mordszenarien ein, bei denen die Nicht-Harmlosigkeit des Opfers eine entscheidende Rolle spielt. (Im Wesentlichen fallen mir da Morde innerhalb des groß-kriminellen Milieus und der Welt der Nachrichtendienste ein).
Davon abgesehen wissen wir auch nicht wirklich, ob das Opfer "harmlos" war. Es wurde uns im Filmfall relativ penetrant so verkauft - wie in so vielen anderen Filmfällen auch, ja. Aber die meisten Informationen über das Opfer dürften von den Eltern gekommen sein. Und diese Konstellation "Eltern berichten über ihren gerade erwachsen gewordenen Sohn" ist ja beinahe schon ein Klassiker, auch hier im Forum: Die Eltern denken, sie wüssten alles (weil sie ja früher auch immer alles "über den Kleinen" gewusst haben), während der Sohn gar nicht daran denkt, den Eltern alles zu erzählen. Jeder kennt das doch auch aus seiner eigenen Jungerwachsenen-Zeit. ("Mein Sohn nimmt keine Drogen, niemals!)
Was meine ich mit "normalem" Mordmotiv? Mit "normal" meine ich ausschließlich "statistisch normal", nicht "moralisch normal". Ich meine also Mordmotive, die in der Praxis häufig vorkommen. Und das wären so Sachen wie Rache, Habgier, Eifersucht, Kränkung, etc. "Nicht normale" Mordmotive wären so Sachen wie "Opfer hat späteren Täter bei irgendetwas erwischt und musste deshalb beseitigt werden" oder "Psychopath will besonders prestigeträchtigen Mord begehen und mordet deshalb in einer Kaserne". Das sind so Sachen, die in Filmen und Büchern andauernd passieren, in der Realität aber praktisch nie.
Das leitet zu meinem letzten Punkt über: Die Wahrscheinlichkeit einer Theorie kann man immer nur in Relation zu einer anderen Theorie beurteilen. Ich glaube an meine Theorie nicht deswegen, weil sie perfekt ist und keine Schwachstellen hat - die hat sie natürlich reichlich -, sondern ich glaube an sie, weil die anderen Theorien, die hier diskutiert werden, mir
noch unwahrscheinlicher erscheinen. Aber ich bin absolut offen dafür, umgestimmt zu werden. Besonders dann, wenn mir jemand ein Mordmotiv präsentiert, das mit den Soldatsein zu tun hat, und das trotzdem stark genug ist, um einen (anscheinend) sehr leidenschaftlichen und gleichzeitig gut geplanten 11-Stiche-Mord zu provozieren. Bis jetzt habe ich so etwas noch nicht entdeckt, obwohl ich den Thread sehr aufmerksam verfolge.