LERNEN OHNE PERSPEKTIVEN Die Debatte um Bildungschancen in sozialen Brennpunkten
Immer mehr Hauptschulen rufen um Hilfe
Waffen, Schläge, Drohungen – nach demBrandbrief von Neukölln sagen Lehrer und Rektoren: So geht es nicht weiter
LERNEN OHNE PERSPEKTIVEN Die Debatte um Bildungschancen in sozialen Brennpunkten
Immer mehr Hauptschulen rufen um Hilfe
Waffen, Schläge, Drohungen – nach demBrandbrief von Neukölln sagen Lehrer und Rektoren:
So geht es nicht weiter
Nach dem Desaster an der Rütli-Schule wird die Forderung nach Abschaffung derHauptschulen immer lauter. Zudem werden weitere Gewaltvorfälle bekannt. Gestern wandtensich etliche Schulleiter und Lehrer an die Öffentlichkeit, um auf ihre verfahreneSituation aufmerksam zu machen und eine veränderte Schulpolitik anzumahnen.Bildungssenator Klaus Böger (SPD) hat unterdessen beschlossen, dass der Leiter derReinickendorfer Paul-Löbe-Hauptschule, Helmut Hochschild, die Rütli-Schule leiten soll,bis die vakante Rektorenstelle neu besetzt ist.
„Die Situation an den BerlinerHauptschulen ist geprägt von Hoffnungslosigkeit desillusionierter, gewaltbereiterJugendlicher, die nicht nur Schüler attackieren, sondern streckenweise keinen geordnetenUnterricht ermöglichen“, heißt es in einer Erklärung, die gestern acht Hauptschulleiterunterschrieben. Auch in weiteren Kollegien formiert sich Widerstand dagegen, die Lageweiterhin zu akzeptieren. Einige erwägen einen ähnlichen „Brandbrief“, wie er vomRütli-Kollegium verfasst worden war. Es ist die Rede von vorbestraften Schülern, die dieAtmosphäre in ihren Klassen vergifteten. In einem Schreiben berichten Lehrer, dass„Steine durch Fensterscheiben in Klassenräume und Lehrerzimmer fliegen“. Kollegen bekämen„direkt oder indirekt Morddrohungen“. Beleidigungen seien an der Tagesordnung. Ihnenseien zwei Hauptschulen bekannt, „die in letzter Zeit von bewaffneten Jugendbandenüberfallen wurden, um einzelne Schüler zu misshandeln“.
Betroffen sindkeineswegs nur die Hauptschulen mit hohem Migrantenanteil. Karla Werkentin von der fastnur von Deutschen besuchten Weißenseer Heinz-Brandt-Hauptschule berichtet ebenfalls vonerschreckenden Zuständen. Sie habe „einige Schüler suspendieren müssen, weil sie andereSchüler gefährdeten“. Etliche Schüler kämen aus völlig zerrütteten Familien mitalkoholkranken Eltern. Kürzlich stellte sie fest, dass einige Schüler nicht einmalrichtig mit Messer und Gabel essen konnten.
Auch Jens Großpietsch, der Leiterder als „Wunder von Moabit“ bekannt gewordenen Heinrich-von-Stephan-Schule in Moabit,rät, statt isolierter Hauptschulen integrierte Haupt- und Realschulen zu schaffen. Erselbst hat dieses Modell zum Erfolg geführt und berichtet von guten Ergebnissen seinerSchüler beim letzten Pisa-Durchgang.
Falls es nach den Wahlen im Herbst zu einerrot-roten Koalition kommt, werden wohl die Weichen zu einer Abschaffung desdreigliedrigen Schulsystems gestellt, denn sowohl SPD als auch PDS verfolgen dieses Ziel.Bündnisgrüne und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) unterstützen dies.Möglicherweise folgt Brandenburg, das neben Gymnasien nur noch eine weitere Schulformhat, die 60 bis 70 Prozent der Schüler versorgt. Jetzt besuchen in Berlin die schwächstenzehn Prozent die stärker auf praktische Berufe ausgerichtete Hauptschule und müssenvöllig ohne leistungsfähige Vorbilder auskommen. Allerdings ist es auch jetzt schonmöglich, dass man an Hauptschulen den Realschulabschluss macht, was aber nur wenigenSchülern gelingt.
Unterdessen wird Kritik an den Schulräten in Neukölln laut.Fachleute berichten etwa, dass immer wieder Lehrer aus den Ost-Bezirken an dieRütli-Schule versetzt wurden, die sich mit Migrantenproblemen nicht auskannten. DerLandeselternausschuss sprach von „schwerwiegenden Defiziten im Management“.
DieGEW will verhindern, dass die Diskussion um die „Restschule“ wieder abebbt und sich dieLehrer resigniert zurückziehen. Die Gewerkschaft plane eine Kampagne „Mut zum Unmut“,damit die Probleme nach außen getragen werden, berichtete der Hauptschulexperte NorbertGundacker. Die Berliner FDP-Fraktion hat unterdessen beantragt, dass Leiter vonBrennpunktschulen zu einer Anhörung ins Abgeordnetenhaus geladen werden. Die NeuköllnerCDU will eine BVV-Sondersitzung veranlassen.
Quelle:
http://archiv.tagesspiegel.de/archiv/01.04.2006/2446902.asp (Archiv-Version vom 25.04.2006)Credendo Vides --- E nomine patre et fili et spiritu sancti Amen