Verschwinden von Bisrat Tewelde H. und ihrem Baby

Wie realistisch ist es, dass eine 20 jährige aus Eritrea, die kein oder kaum Deutsch kann, weiß wie ein Frauenhaus funktioniert und glaubt , dass es sie dauerhaft vor der befürchteten Rache des vergrätzten Clans schützen kann?

Ich weiß nicht wie man das mit der Situation einer hier schon lange lebenden Frau vergleichen will, deren Mann in bestimmten Situationen psychisch auffällig und gewalttätig ist, aber in den überwiegend klaren Momenten um die Möglichkeiten des Staates weiß, ihn zu sanktionieren und die Autorität des Staates grundsätzlich auch akzeptiert. Die kann temporär in ein Frauenhaus gehen und ggf irgendwann wieder zu ihrem Mann zurückkehren oder aber ein neues Leben beginnen.

Einer junge Frau, die sich in ihrem kulturellen Umfeld so bedroht fühlt, dass sie diesen Weg gehen würde (wenn sie ihn denn kennt), schiene mir ein Leben nach dem Frauenhaus genau so bedrohlich, und damit diese Option aus meiner Sicht wenig realistisch.

Papaya64 schrieb:... befürchteten Rache des vergrätzten Clans ...

Wie kommst du denn darauf?
Mir ist nichts bekannt, dass eine derartige Bedrohung im Raum stand.

Ich muss @Papaya64 recht geben, denke es würde sehr helfen, hier etwas weiter zu denken. Natürlich wäre eine solche Bedrohung uns und/oder Behörden nicht unbedingt bekannt! Was hinter verschlossenen Türen abgeht bei vielen Paaren und Familien, ob deutsch oder eritreisch, wissen wir nicht.

Die Sichtweise, dass der Staat hilft, man sich Behörden anvertrauen kann usw ... In Eritrea sowie in vielen Staaten der Welt bedeuten Dinge wie Kontakte zu Vertretern des Staates oder Behördengespräche, uneheliches Kind (!), angezweifelte Vaterschaft, mit Sicherheit für eine junge, auf sich allein gestellte Frau auch in heutigen Zeiten einfach riesige Probleme. Auch für die Männer!

Es ist Fakt, dass uneheliche Kinder, "eheliche Untreue" usw sogar rechtlich in vielen Staaten Straftaten (!) bedeuten und diese Frauen dann aus der Gesellschaft ausgestoßen werden. Und auch für viele Frauen (auch in Deutschland) ist das Thema Patriarchat unabhängig von Gesetzen eine riesige Bedrohung und gemütliche Gedanken an "Behördenhilfe" helfen ihnen nicht weiter.

@Papaya64

Ich habe in einem Frauenhaus gearbeitet. Die wenigsten der Klientinnen dort stammen aus Familien, die in der deutschen Kultur beheimatet sind. Der Anteil an ausländischen Frauen, geflüchteten Frauen und Frauen anderer Kulturen ist sehr groß!

Das liegt zb auch daran, dass Frauen, die länger in Deutschland sind oft ein soziales Netz haben, welches sie auffangen kann. Frauen, die erst kurz hier sind aber nicht.

Ich möchte auch gar nicht sagen, dass sie in einen frauenhaus gegangen sind oder dass ich das glaube. Ich entkräfte lediglich die Gegenargumente.

Edna schrieb:Das liegt zb auch daran, dass Frauen, die länger in Deutschland sind oft ein soziales Netz haben, welches sie auffangen kann. Frauen, die erst kurz hier sind aber nicht.

Das ist natürlich ein interessanter Punkt. Aber dennoch glaube ich nicht, dass sie einfach so losgezogen ist um unangemeldet bei einem Frauenhaus vor der Tür zu stehen. Sie hätte ja zunächst einmal irgendwo erfahren müssen, dass es solche Einrichtungen gibt und wie das funktioniert. Klar, so etwas kann man übers Internet herausfinden, aber ich denke schon, dass sie doch noch einmal nachgefragt hätte, ob man wirklich dort bleiben kann und niemand etwas davon erfährt bevor sie einfach hinfährt und dann womöglich abgewiesen wird (ja, ich weiß schon, dass das wohl nicht passiert wäre, aber wir müssen uns ja in die Lage von BT versetzen).

Auch dass sie ihre Papiere zurückgelassen hat spricht für mich eher dagegen, denn soviel wird sie ja von der hiesigen Bürokratie schon mitbekommen haben, dass man ohne Papiere schnell Probleme bekommt. Und die Papiere hätte sie ja unauffällig einstecken können, anders als einen Koffer mit Kleidung hätte das niemand im Flüchtlingsheim bemerkt und es hätte keine Gefahr bestanden, dass man sie zurückhält.

Die Frauenhaus-Adressen sind anonym. Da klopft man nicht einfach an und geht rein. Zumal die Platzsituation das in aller Regel auch nicht hergibt.

Zuweisung idR eigenständig über Frauennotruf/Fachberatungsstelle oder behördlich unterstützt durch die Polizei. Unter Umständen auch das Jugendamt.

angellost schrieb:Die Frauenhaus-Adressen sind anonym. Da klopft man nicht einfach an und geht rein. Zumal die Platzsituation das in aller Regel auch nicht hergibt.

Doch, es ist total üblich, sehr spontan in ein Frauenhaus zu kommen. Wie soll das auch sonst gehen? "Ihr Mann schlägt sie grün und blau? Bitte warten Sie, bis ein Platz frei wird"?

Selbst bei anonymen Frauenhäusern gibt es Wege, dort spontan zu jeder Tages- und Nachtzeit unterzukommen. Im Zweifel zum Beispiel über Beratungsstellen, den Krisendienst, Notfallrufnummern, der Polizei oder den sozialpsychiatrischen Dienst.

Und doch, dann klopft man an uns geht rein. Ganz real.

@Edna
Ich arbeite in dem Bereich - und nein, so läuft es in aller Regel nicht. Die Adressen sind aus guten Gründen top secret und voll ist nun mal voll. Die Fachberatungsstellen übernehmen die Vermittlung dorthin wo frei ist. Das muss nicht immer am Wohnort sein - und sollte es aus Schutzgründen auch zumeist nicht sein.

Ich habe auch in einem Frauenhaus gearbeitet. :D

Und da haben wir wohl sehr unterschiedliche Erfahrungen.
In unserem Haus gab es auch immer ein Notfallzimmer, was für spontane Aufnahmen zur Verfügung stand. Die Aufnahmen wurden sogar von den Bewohnerinnen vorgenommen und eine Kollegin aus der Rufbereitschaft kam dann dazu. Da musste niemand erstmal hin vermitteln.

Die wurden entweder von der Polizei gebracht, kamen selbst, weil sie wussten, wo das Haus ist oder eben über andere Stellen.
So war es auch in den Häusern des regionalen runden Tischs geregelt.

Mag sein, dass das woanders sich unterscheidet.

Die Tatsache, dass sie ihre Papiere einfach im Flüchtlingsheim zurückließ, ist für mich ein starkes Indiz dafür, dass sie an jenem Nachmittag keine Hilfe von Behörden (dazu rechne ich dann auch Frauenhäuser) suchte, wie auch schon @brigittsche oben gesagt hat.

Ich stelle mir so vor, dass ich legal in Eritrea wohne und dass ich mich plötzlich aus irgendeinem Grund bedroht fühle und Schutz bei den Behörden suche. Das Erste, was ich dann auf meiner "Flucht" in meine Tasche stecke, ist selbstverständlich meine Aufenthaltsgenehmigung. Aber ich bin ja Bisrat nicht und für sie war das vielleicht nicht so selbstverständlich.

Wir wissen einfach nicht, warum sie nach Kassel wollte. Wir wissen nicht einmal, ob sie auch wirklich in Kassel war.

Es gibt nur eine Person, soviel wir wissen, die ausgesagt hat, dass Bisrat in den Zug nach Kassel eingestiegen ist. Die Aussage dieser Person wird von der Polizei als glaubhaft eingestuft, aus Gründen, die uns auch nicht bekannt sind.

Ich hoffe von ganzem Herzen, dass man die arme Frau und den armen Mekson bald lebendig irgendwo findet.

Vielleicht hatte sie auch einfach jemanden in Kassel der ihr weiterhelfen konnte bzw. wo sie erstmal unterkommen durfte. Die Leute die zusammen in solchen Einrichtungen waren sind teilweise recht gut vernetzt.

Ich habe vor über 30 Jahren ab und an bei der GEHE Sachen abgeholt. Die waren damals noch am Gleisdreieck. Die ganze Gegend dort (nördlich der Wolfhagener Str.) war schon ein eigener Mikrokosmos mit eigenen Regeln.
Ich denke das dürfte heute noch extremer geworden sein. Vom HBF gerade mal gut 500 Meter.

Vielleicht ist ja ein Kasselaner hier unterwegs der was dazu sagen kann.

birotor schrieb:Es gibt nur eine Person, soviel wir wissen, die ausgesagt hat, dass Bisrat in den Zug nach Kassel eingestiegen ist. Die Aussage dieser Person wird von der Polizei als glaubhaft eingestuft, aus Gründen, die uns auch nicht bekannt sind.

Ich denke, wir dürfen hier auf die in dem video

https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/verschwunden-wabern-schweiz-werner-wahre-verbrechen-100.html (Archiv-Version vom 02.07.2022)

ab Minute 05:17 gemachten Aussagen vertrauen

Sprecher:
Dieser Bahnsteig ist der letzte Aufenthaltsort von Mutter und Sohn, den die Polizei sicher kennt.

Kommissarin:
Sie muss um 17.07 oder um 17:32 in einen Zug Richtung Kassel gestiegen sein.

Das heißt, die Polizei erachtet dieses Szenario als sicher, und das ist höher einzuordnen, als den Zeugen als glaubhaft einzustufen. Auch wenn wir nicht wissen, worauf diese Sicherheit beruht.

emz schrieb:Sie kann ihr Handy doch vergessen haben

Gehe ich mit, das kann durchaus schnell passieren, insbesondere mit kleinem Baby und lauter Aufgaben, die ihr im Kopf herumschwirren, aber

emz schrieb:ein Zweithandy gehabt haben, von dem einfach nichts bekannt ist.

das ist schon im Bereich einer beinahe vernachlässigbaren Restwahrscheinschlichkeit, wenn man nicht von einem bewussten Abtauchen ausgehen möchte. Ein Zweithandy von diesem schmalen Einkommen als frisch gebackene Mutter? Dann doch nur mit Hilfe oder einem Plan, dessen Ziel diese Kosten aufwiegt.

emz schrieb:Dass sich aber keine Beratungsstelle gemeldet hat, nachdem nach ihr von der Polizei auch in den örtlichen Medien gesucht wurde, das halte jetzt ich für fast ausgeschlossen.

Womöglich hat sich ja eine offizielle Stelle gemeldet, aber aus der viel zitierten Ermittlungstaktik heraus wird dies noch nicht öffentlich gemacht. Damit keine Missverständnisse entstehen, so richtig vorstellen kann ich mir auch nicht, dass sie einen Termin in den Abendstunden irgendwo im Dunstkreis von Kassel hatte. Ich denke viel mehr, dass sie eine Privatperson dort treffen wollte, weshalb auch immer und dann ist sie freiwillig oder unfreiwillig verschwunden oder noch vorher verunglückt. Die andere Variante ist, dass sie nie vorhatte, nach Kassel zu reisen und in diesem Fall wäre ich mit meinem Wahrscheinlichkeiten-Gequatsche auf jeden Fall raus, da der Möglichkeiten zu viele.

Es scheint ja als gegeben angesehen zu werden, dass sie an diesem Tag mit diesem Bekannten in einem Bus war.

cododerdritte schrieb:Wieso hätte sie in ein Frauenhaus gehen sollen? Sie lebte in einer Flüchtlingsunterkunft in einem eigenen Zimmer. Dort lebten mehrere andere Personen recht eng und wie im Film gezeigt, gab es auch Betreuungspersonal, das sogar sehr hilfsbereit dargestellt wurde. Dort hätte sie nur melden müssen, wen sie sich durch den Lebensgefährten bedroht gefühlt hätte.

Sie ist vermutlich nicht in ein Frauenhaus gegangen, das wüsste die Polizei. Ich habe es nur als Beispiel für offizielle Stellen, die auch abends noch besetzt sind, angeführt. Ich hätte auch Obdachlosenheim, Notschlafstelle oder sonstiges schreiben können.

Edna schrieb:Ich habe in einem Frauenhaus gearbeitet. Die wenigsten der Klientinnen dort stammen aus Familien, die in der deutschen Kultur beheimatet sind. Der Anteil an ausländischen Frauen, geflüchteten Frauen und Frauen anderer Kulturen ist sehr groß!

Das liegt zb auch daran, dass Frauen, die länger in Deutschland sind oft ein soziales Netz haben, welches sie auffangen kann. Frauen, die erst kurz hier sind aber nicht.

Ich möchte auch gar nicht sagen, dass sie in einen frauenhaus gegangen sind oder dass ich das glaube. Ich entkräfte lediglich die Gegenargumente.

Sehr schön, danke, dem ist nichts hinzuzufügen. Hätte mir den ganzen Sums oben sparen können ;)

SichereBasis schrieb:Es scheint ja als gegeben angesehen zu werden, dass sie an diesem Tag mit diesem Bekannten in einem Bus war.

Die Busfahrt, glaube ich, kann man eher vernachlässigen.
Gesichert ist laut Kommissarin, dass sie "um 17.07 oder um 17:32 in einen Zug Richtung Kassel gestiegen" ist.
Sie kann bis Kassel gefahren, oder aber auch vorher ausgestiegen sein.

Es bleibt jedoch einigermaßen merkwürdig, dass der Bahnhofbegleiter sich z.B. wohl an die Tatsache erinnern konnte, dass sie keinen Koffer oder Tasche dabei hatte, aber nicht mehr wusste, ob sie nun um 17:07 oder um 17:32, ganze 25 Minuten später, in den Zug eingestiegen ist.

birotor schrieb:aber nicht mehr wusste, ob sie nun um 17:07 oder um 17:32

Hat mich auch gewundert.

birotor schrieb:aber nicht mehr wusste, ob sie nun um 17:07 oder um 17:32, ganze 25 Minuten später, in den Zug eingestiegen ist.

Das wundert mich eher nicht. Leute, die schon Afrika bereist haben, erzählten mir, dass man sich dort kaum unbeliebter machen kann als dadurch, dass man dort unsere Vorstellung von Pünktlichkeit durchsetzen möchte. Das gilt vielen Afrikanern als europäische, koloniale Attitüde. Ein Zug kommt, aber wann genau, gar auf die Minute, spielt dort keine Rolle. Ob das auch in Eritrea so ist, weiß ich allerdings nicht.

birotor schrieb:Es bleibt jedoch einigermaßen merkwürdig, dass der Bahnhofbegleiter sich z.B. wohl an die Tatsache erinnern konnte, dass sie keinen Koffer oder Tasche dabei hatte, aber nicht mehr wusste, ob sie nun um 17:07 oder um 17:32, ganze 25 Minuten später, in den Zug eingestiegen ist.

Dabei wäre gerade das interessant.
Ich habe leider nicht mehr die aktuellen Fahrpläne, vielleicht hat sich da was geändert, die Zeit beim späteren Zug weicht etwas ab.
Aber:
Der 17:07 Zug hat den nächsten Halt erst in Wilhelmhöhe, während der 17:38 an jeder Milchkanne unterwegs anhält.

sallomaeander schrieb:Ein Zug kommt, aber wann genau, gar auf die Minute, spielt dort keine Rolle. Ob das auch in Eritrea so ist, weiß ich allerdings nicht.

Darum geht es doch jetzt nicht, ob Afrikaner europäische Pünktlichkeit als unhöflich auffassen? Der Mann musste aussagen in einem Vermisstenfall eines Babys und dessen Mutter oder vielleicht sogar in einem Mordfall.

Übrigens war Ethiopien/Eritrea italienischer Kolonialbesitz. Die Italiener sind nach den Spaniern die unpünktlichsten Bürger Europas. :)