Eine Wende des Strafrechts: Der Fall F. von Möhlmann
31.10.2023 um 23:26Anzeige
frauZimt schrieb:Der in seinem Prozess Freigesprochene hat das Recht, von der Öffentlichkeit unbehelligt zu leben.Das stimmt, aber aus ganz anderen Gründen als dem heutigen Urteil. Die Frage in wieweit Informationen über einen veröffentlicht, weitergegeben usw. werden dürfen, ergibt sich in Deutschland ebenfalls aus dem Grundgesetz, aus den Artikeln 1 und 2, den "allgemeinen Persönlichkeitsrechten," wie u.a. der BGH schon in den 50er Jahren feststellte. Diese Rechte haben also Verfassungsrang, sind also sehr hoch anzusetzen. Aber sie sind nicht absolut, es kann sein, dass sie hinter einem noch höheren Recht zurücktreten müssen: zum Beispiel hinter dem Recht auf eine Verteidigung im Strafprozess.
Wenn die Boulevardmedien den Fall immer wieder aufgreifen und ihn mit Alter, Namenskürzung und Balken über den
Augen abbilden, muss er damit leben. Aber von offizieller Seite darf er nicht mehr "vorgeführt" werden.
So verstehe ich das zumindest. Er hat genau so als unschuldig zu gelten, wie ein X-beliebig anderer.
Aber so absolut kann dieses Recht nicht sein, denn ein an seiner Stelle unschuldig Verurteilter kann erreichen, dass
der wahre Täter doch genannt wird. Wenn auch ohne juristische Folgen für den Täter.
Da steckt für mich ein Wurm drin.
(3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.Quelle: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, zitiert nach https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_103.html
Sherlock_H schrieb:Es steht hier nicht, dass niemand mehrmals angeklagt werden darf.Das Thema wurde hier schon mehrfach diskutiert. Natürlich hat sich auch dieser Senat damit auseinandergesetzt. Man lese einfach mal die Entscheidung, dann wird man schnell bemerken, dass es schon lange Konsens unter Verfassungsjuristen ist, dass diese Formulierung ein Verfolgungsverbot beinhaltet, denn das wird auch aus dem Sinn der Vorschrift bekannt.
Ich finde es sehr bemerkenswert, dass das oberste deutsche Gericht hier anscheinend nicht zwischen Anklage und Bestrafung unterscheidet bzw. möglicherweise nicht unterscheiden kann.
Dementsprechend ging das Reichsgericht von Anfang an von der Geltung dieses Grundsatzes aus, den es als Mehrfachverfolgungsverbot verstandDann hätte man Art. 103 GG aber auch genauso formulieren können.
Annemaus schrieb:Für mich ist dieses Urteil auch schwer zu ertragen. Wenn ich daran denke, dass das Opfer meine Mutter, eine meiner Schwestern oder Kolleginnen oder meine beste Freundin gewesen wäre (eigene Kinder kann ich leider nicht bekommen), wüsste ich nicht, wie ich damit umgehen würdeFür mich auch. Im Prinzip können damit Mörder, die warum auch immer freigesprochen wurden, durch Talkshows ziehen und die wahre Geschichte verkaufen, genauso wie Bücher veröffentlichen und Geld damit verdienen.
Oliv3r schrieb:Für mich auch. Im Prinzip können damit Mörder, die warum auch immer freigesprochen wurden, durch Talkshows ziehen und die wahre Geschichte verkaufen, genauso wie Bücher veröffentlichen und Geld damit verdienen.Wie das in den USA ist, weiß ich nicht, aber in Deutschland funktioniert das eher nicht.
Ist ja in den USA auch schon so üblich.
Rick_Blaine schrieb:Sherlock_H schrieb:Ergänzend dazu ist auch der Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu nennen. Hier wird explizit erwähnt, dass niemand nach einer Verurteilung oder einem Freispruch in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden darf. Dieser findet zwar nur Anwendung, wenn es um die Anwendung und Durchführung von Unionsrecht geht, repräsentiert aber genau wie Art. 103 III GG den Grundsatz ne bis in idem. Der Verfassungsgeber hat damals eine andere Formulierung gewählt, die aber genau dasselbe aussagt. In der Rechtswissenschaft hört Auslegung nämlich nicht beim Wortlaut auf. Das ist seit Jahrzehnten Konsens.
Es steht hier nicht, dass niemand mehrmals angeklagt werden darf.
Ich finde es sehr bemerkenswert, dass das oberste deutsche Gericht hier anscheinend nicht zwischen Anklage und Bestrafung unterscheidet bzw. möglicherweise nicht unterscheiden kann.
Das Thema wurde hier schon mehrfach diskutiert. Natürlich hat sich auch dieser Senat damit auseinandergesetzt. Man lese einfach mal die Entscheidung, dann wird man schnell bemerken, dass es schon lange Konsens unter Verfassungsjuristen ist, dass diese Formulierung ein Verfolgungsverbot beinhaltet, denn das wird auch aus dem Sinn der Vorschrift bekannt.
Juris019 schrieb:Beim Grundsatz "ne bis in idem" handelt es sich um einen Grundpfeiler des Rechtsstaates. An diesem zu rütteln stellt den gesamten Rechtsstaat infrage. Eine Aufhebung oder Verwässerung dieses Grundsatzes würde dafür sorgen, dass Freisprüche nur noch auf dünnem Eis stehen und auch Unschuldige nicht mehr darauf vertrauen könnten. Im schlimmsten Fall gäbe es einen Dammbruch und die Norm würde auf noch mehr Straftatbestände ausgeweitet werden.@Juris019
Juris019 schrieb:Darauf ist das BVerfG in seiner mündlichen Begründung zu Beginn zumindest kurz eingegangen. Die bereits bestehenden Wiederaufnahmegründe zuungunsten des Angeklagten sind schon im Grundsatz anders, als der jetzt für verfassungswidrig erklärte Wiederaufnahmegrund.Natürlich ist am Ende maßgebend, was das BVerfG sagt. Ich halte aber eine andere Sicht darauf für zulässig, ob die neue Nr. 5 im Hinblick in den Katalog weiteren - als rechtmäßig angesehenen - Wiederaunahmegründe der Nrn 1 bis 4 zuungunsten des Freigesprochenen quasi systemwidrig wäre:
Der neue Wiederaufnahmetatbestand in § 362 Nr. 5 StPO fügt sich auch in die Regelung derhttps://oberlandesgericht-celle.niedersachsen.de/download/183095
weiteren Wiederaufnahmegründe in § 362 Nrn. 1-4 StPO ein. In der Literatur wird teilweise die
Ansicht vertreten, dass § 362 Nr. 5 StPO als systemfremd anzusehen sei (vgl. Kaspar GA
2022, 21; Leitmeier, aaO).
Einen Systembruch vermag der Senat in der Aufnahme des neuen
Wiederaufnahmetatbestandes in § 362 Nr. 5 StPO jedoch nicht zu erkennen, da die von § 362
Nrn. 1-4 StPO erfassten Wiederaufnahmegründe für sich genommen keiner zwingenden,
einheitlichen Systematik folgen.
Während die in Nr. 1-3 geregelten Tatbestände ihren Grund
in schwerwiegenden Verfahrensmängeln haben, enthält der Tatbestand in Nr. 4 das spätere
Geständnis eines rechtskräftig Freigesprochenen, also – ähnlich wie die Neuregelung in Nr. 5
benannten neuen Tatsachen oder Beweismittel – einen nachträglichen eintretenden und die
Beweislage zu Lasten des Freigesprochenen ändernden Wiederaufnahmegrund (vgl. Hoven,
aaO; Zehetgruber, aaO).
Sowohl das nachträgliche Geständnis als auch die neuen Tatsachen
oder Beweismittel haben dabei lediglich Indizwirkung und bedürfen der kritischen Überprüfung
und Würdigung im Wiederaufnahmeverfahren.
Der in der Literatur (vgl. Kaspar, aaO) teilweise
als wesentlicher Unterschied angesehene Umstand, dass das nachträgliche Geständnis nach
Nr. 4 aus der subjektiven Sphäre des Freigesprochenen stamme und auf seiner bewussten,
willentlichen Äußerung beruhe, während die von Nr. 5 erfassten neuen Tatsachen oder
Beweismittel, wie z.B. der Nachweis des Freigesprochenen als Verursacher von nachträglich
gesicherten DNA-Spuren, gerade nicht von dem Freigesprochenen gewollt seien, führt nicht
zur Annahme der Systemwidrigkeit von Nr. 5. Denn auch die in Nrn. 1-3 genannten
Wiederaufnahmetatbestände sind nicht von einer freiwilligen Mitwirkung des
Freigesprochenen abhängig (vgl. Zehetgruber, aaO).
Hinzu kommt, dass das in Nr. 4 genannte
spätere Geständnis nicht allein deshalb einen Wiederaufnahmegrund darstellt, weil der
Freigesprochene es freiwillig abgelegt hat. Anderenfalls müsste nicht nur das Geständnis eine
Wiederaufnahme begründen, sondern jede freiwillige Veränderung der Beweislage durch den
Freigesprochenen, z.B. durch die freiwillige Übermittlung der einzig mit seinen
Fingerabdrücken versehenen Tatwaffe.
Der Gesetzgeber hat in einem nachträglichen
Geständnis vielmehr auch und gerade deshalb einen Wiederaufnahmegrund gesehen, weil
diesem traditionell ein besonders großer Beweiswert zugesprochen wird. Das – glaubhafte –
Geständnis bildet mithin einen dringenden Grund für die Annahme, dass der Freigesprochene
die Tat begangen hat. Die Neuregelung in § 362 Nr. 5 StPO knüpft systematisch in
vergleichbarer Weise an andere neue Tatsachen oder Beweismittel an, die – in der
Zusammenschau mit den bisher schon bekannt gewesenen Beweismitteln – dringende
Gründe für die Tatbegehung des Betroffenen begründen (vgl. Kubiciel, aaO, S. 3; Gärditz
frauZimt schrieb:Der Punkt, der die Gemüter erhitzt, ist hier ist doch, dass die Technik damals, als das Urteil gesprochen wurde,Nein, dieser Punkt erhitzt die Gemüter keinesfalls.
noch nicht so weit war. Hätte man mit heutigen Mitteln arbeiten können, wäre der Angeklagte
möglicherweise verurteilt worden.
frauZimt schrieb:Dass unser Rechtssystem zusammenbrechen würde, glaube ich nicht.Das habe ich auch nie behauptet. Nur, wenn man einmal anfängt Rechte von Verfassungsrang zu verwässern bzw. einzuschränken, weil es in einem Einzelfall sinnvoll erscheint, dann braucht man diese Dinge gar nicht erst in die Verfassung aufzunehmen. Grundrechte und grundrechtsgleiche Rechte dienen ja gerade dem Schutz des Einzelnen vor zu starken Eingriffen durch den Staat, der regelmäßig der Stärkere ist. Sollte dieser Schutz gelockert werden, dann betrifft es aber eben nicht mehr nur den Einzelnen, sondern kann für jeden zum Nachteil werden. Und das ist das Problem dahinter.
frauZimt schrieb:Der Punkt, der die Gemüter erhitzt, ist hier ist doch, dass die Technik damals, als das Urteil gesprochen wurde,Das ist eben der Punkt. Rechtsstaat muss am Ende für die Bürger auch akzeptabel und nachvollziehbar sein. Das heißt selbstverständlich nicht, dass Gerichte bei ihren Entscheidungen populistisch sein und der Volksmeinung (womöglich angeheizt durch reißerische Medienberichte) folgen sollen nach dem Motto „Kreuziget ihn!“.
noch nicht so weit war. Hätte man mit heutigen Mitteln arbeiten können, wäre der Angeklagte
möglicherweise verurteilt worden.