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Eine Wende des Strafrechts: Der Fall F. von Möhlmann

677 Beiträge ▪ Schlüsselwörter: Mord, Celle, Strafrecht ▪ Abonnieren: Feed E-Mail

Eine Wende des Strafrechts: Der Fall F. von Möhlmann

04.11.2023 um 20:45
Zitat von SmooverSmoover schrieb:Ich finde schon, weil es m.E. auf die Sicht des unschuldig Verurteilten ankommen muss, für den die Frage eines vorherigen Freispruchs irrelevant ist und der nicht beeinflussen kann, ob irgendwann nochmal Beweise gegen den wahren Täter auftauchen. Passiert das nicht, sitzt er vielleicht lebenslang im Knast, obwohl man das durch eine Regelung, die dem wahren Täter Straffreiheit gegeben hätte, eventuell hätte verhindern können.
Ich denke, ein Unschuldiger wird es begrüßen, wenn der wahre Täter ein Geständnis ablegt. Steuern kann er es natürlich nicht. Warum das keien Rolle spielen soll, erschließt sich mir nicht.

Aber noch eins. Auch mit dem sogenannten Kuhhandel belohnt der Staat ebenfalls ein solches Geständnis, teilweise aus rein prozessökonomischen Gründen. Und die sind natürlich rechtstsaatlich viel niedriger anzusehen, als ein Geständnis mit dem ein Unschuldiger freikommt. Du siehst, die Belohnung für eine Geständnis ist dem Staat in keiner Weise fremd, teilweise sogar nur aus ökonomischen Gründen.
Zitat von SmooverSmoover schrieb:Kann man so oder so sehen, aber dass der Staat verfassungsrechtlich gehalten wäre, es für den Fall des bereits Freigesprochenen so zu regeln, wie du es dir wünschst, ist nicht ersichtlich. Alles andere ist Politik und damit nicht Sache des BVerfG.
Würde ich durchaus so sehen, weil rechtstaatliche Grundsätze durch das Gesetz in Gefahr sind. Und das BVerfG muss auch die berücksichtigen. Dass dieses Gesetz rein auf den Autoritätsverlust abstellen soll, wäre im vergleich dazu wie gesagt geradezu lächerlich. Eien Abwägung würde den Grundsätzen eines Rechtsstaates dann sicher Vorrang einzuräumen sein.

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Eine Wende des Strafrechts: Der Fall F. von Möhlmann

04.11.2023 um 20:58
Das wäre dann großes Pech für A wenn er unschuldig verurteilt würde und B einfach nicht gestehen will.
Gesteht B dann muß ihr der Prozeß mit Berücksichtigung aller relevangten Umstände gemacht werden.
Es gibt ja auch hier einige Mörder, die lebenslänglich bekommen, aber die Tat leugnen. Aber hier hat niemand
aus Rücksicht gestanden.
Falls so ein A-B Fall passieren würde, dann wird der Justiz schon etwas einfallen.


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Eine Wende des Strafrechts: Der Fall F. von Möhlmann

04.11.2023 um 21:46
Zitat von LentoLento schrieb:Aber noch eins. Auch mit dem sogenannten Kuhhandel belohnt der Staat ebenfalls ein solches Geständnis, teilweise aus rein prozessökonomischen Gründen. Und die sind natürlich rechtstsaatlich viel niedriger anzusehen, als ein Geständnis mit dem ein Unschuldiger freikommt. Du siehst, die Belohnung für eine Geständnis ist dem Staat in keiner Weise fremd, teilweise sogar nur aus ökonomischen Gründen.
Ja, wahrscheinlich könnte der Staat so eine Regelung auch vorsehen, wie sie dir vorschwebt. Er kann es aber auch lassen. Wir haben hier weder Literaturstimmen noch Rechtsprechung gesehen, die etwas anderes sagt, und auch das BVerfG hat nie irgendwo gesagt, dass 362 Nr. 4 nur dann verfassungsgemäß sei, wenn man ihn nur auf Fälle anwendet, in denen sein historischer (und von mir aus auch heute noch vorrangiger) Zweck zum Tragen kommt. Wenn du das aus rechtsstaatlichen Gründen für geboten hältst, ist das also erstmal nicht viel mehr als eine Einzelmeinung. Kann man teilen oder auch nicht.
Zitat von LentoLento schrieb:Würde ich durchaus so sehen, weil rechtstaatliche Grundsätze durch das Gesetz in Gefahr sind. Und das BVerfG muss auch die berücksichtigen. Dass dieses Gesetz rein auf den Autoritätsverlust abstellen soll, wäre im vergleich dazu wie gesagt geradezu lächerlich. Eien Abwägung würde den Grundsätzen eines Rechtsstaates dann sicher Vorrang einzuräumen sein.
362 Nr. 4 sieht nach seinem Wortlaut so eine Einschränkung nicht vor und das wurde vom BVerfG bisher nie moniert. Das muss man erstmal festhalten.


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Eine Wende des Strafrechts: Der Fall F. von Möhlmann

04.11.2023 um 22:36
@Lento
Ich denke, § 362 Nr. 4 StPO ist jetzt ausreichend diskutiert worden, vor allem, wenn man bedenkt, wie das Thema des Forums heißt. Es geht also nicht um Nr. 4, sondern um Nr. 5.


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Eine Wende des Strafrechts: Der Fall F. von Möhlmann

05.11.2023 um 00:19
Zitat von LentoLento schrieb:Wenn Du da andere Ansicht bist, dann müsste man – bevor man sich den Fällen zuwendet – erstmal darüber diskutieren.
Nein, ich teile die Meinung schon. Ich habe schon öfter den berühmten Satz zitiert, es ist es besser zehn Schuldige laufen zu lassen, als einen Unschuldigen einzusperren. Aus dieser Sicht ergeben sich im modernen Rechtsstaat eben durchaus Hindernisse, Schuldige zu bestrafen, weil man eben Regeln zum Schutz Unschuldiger aufgestellt hat, von denen natürlich auch ab und zu Schuldige profitieren.

Aber ich verstehe immer noch nicht wirklich, worauf Du eigentlich hinauswillst. Das BVerfG hat nie gesagt, dass es bei Nr. 4 ausschliesslich um den Schutz der Reputation des Rechtstaates geht, sondern es geht vorrangig darum.
Zitat von SmooverSmoover schrieb:@Lento
Du ziehst aus dem, was das BVerfG als vorrangigen Zweck des § 362 Nr. 4 StPO beschreibt, offenbar einen falschen Schluss. Nämlich, dass man die Norm nur anwenden dürfe, wenn dieser Zweck im Einzelfall zum Tragen kommt, sprich der Geständige etwa mit der Tat öffentlich prahlt und die staatliche Autorität tatsächlich in Zweifel gezogen wird. Dem ist aber nicht so bzw. müsste man die Vorschrift entsprechend einschränkend dahin auslegen (sog. teleologische Reduktion), dass sie nur für solche Fälle gilt (oder dass sie nicht gilt, wenn das Geständnis abgegeben wird, um einen unschuldig Verfolgten zu “retten“). Mir wäre aber nicht bekannt, dass das nennenswert Juristen vertreten und es wird auch vom BVerfG nicht so gefordert.

Denkbar wäre ja auch ein späteres Geständnis, das der wahre Täter unter Tränen und voller Reue ablegt. § 362 Nr. 4 StPO würde natürlich trotzdem greifen.
Auch sonst schliesse ich mir hier ganz den Argumenten von @Smoover an.


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Eine Wende des Strafrechts: Der Fall F. von Möhlmann

05.11.2023 um 01:05
Zitat von Rick_BlaineRick_Blaine schrieb:Auch sonst schliesse ich mir hier ganz den Argumenten von @Smoover an.
Das kann ich nicht ändern. Aber diese Argumente überzeugen einfach nicht. Was ist es denn nun außer der Reputation des Rechtssaates wirklich? Aus meiner Sicht werden hier dei wichtigsten Grundsätze eines Rechtsstaates (Wahrheitsfindung, Verfolgung Unschuldiger) vergessen. Aber das werden wir hier nicht ausdiskutieren können, weil hier - wenn mich nicht alles täuscht - kein Verfassungsrechtler mitspricht. Und selbst unter diesen sind diese Dinge öfter strittig, wie die nun beendete Historie des § 362 Nr. 5 StPO zeigt.


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Eine Wende des Strafrechts: Der Fall F. von Möhlmann

05.11.2023 um 11:06
Wen es interessiert, hier ein Bericht bzgl. der Verhandlung am 24.5.2023.

https://verfassungsblog.de/ein-verdacht-ist-ein-verdacht-ist-ein-verdacht/

Es wurde bei bestimmten Annahmen durchaus auch die Nr. 1-3 als kritisch angesehen. Die Nr. 4 wurde kaum beachtet, sie wurde quasi mit "selber Schuld" abgehakt.

Intessant ist auch der Leserbeitrag Nr. 3 (von 28 Mai 2023 um 15:29) von einem "Simon". Da er sichtlich profunde Kenntnisse besitzt, handelt es sich möglicherweise um Prof. Dr. Sven Simon von der Universität Marburg.

Es ist ein sehr umfassender Beitrag, der sehr viele Gesichtspunkte zu dem verfassungsrechlichen Problem zusammen fasst. Ich sehe darin eine recht gute Ergänzung zum BVerfG-Urteil.


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Eine Wende des Strafrechts: Der Fall F. von Möhlmann

08.11.2023 um 15:35
Nur so nebenbei: Ich habe heute im Podcast "Morden im Norden" eine Folge gehört, in der es um den lange zurückliegenden Sexualmord an einem kleinen Mädchen in Norwegen ging und der erstaunlich viele Parallelen zum Fall Möhlmann aufweist: Verurteilung in erster Instanz, Freispruch im Berufungsverfahren incl. Haftentschädigung und nach Zuordnung einer DNA-Spur 15 Jahre später erneute Verurteilung im Wiederaufnahmeverfahren - wobei es hierfür strenge Voraussetzungen gibt. Was ich damit sagen will: in anderen Ländern, z.B. auch in Großbritannien, hat die materielle Gerechtigkeit durchaus Vorrang, und die genannten Staaten sind nicht durch Willkürjustiz bekannt.


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Eine Wende des Strafrechts: Der Fall F. von Möhlmann

08.11.2023 um 23:44
@Ludwig01

Zu dem Thema wie das ganze in anderen Ländern gehandhabt wird, hat sich das Bundesverfassungsgericht geäußert und auch im Thread wurde das ganze bereits thematisiert. Dafür würde ich gerne auf den ein oder anderen Beitrag verweisen:

Beitrag von Sherlock_H (Seite 31)

Beitrag von Juris019 (Seite 31)

Die materielle Gerechtigkeit genießt in anderen Ländern in vergleichbaren Konstellationen Vorrang, weil es sich dort bei ne bis in idem nicht zwangsläufig um ein grundrechtsgleiches Recht handelt. Und auch Grundrechte haben in anderen Staaten nicht denselben Rang und denselben Schutz wie bei uns. Dementsprechend ist der Vergleich einfach nur müßig. In den USA gibt es bspw. den Wiederaufnahmegrund eines glaubhaften Geständnisses nicht, dafür aber eine strikte Trennung zwischen "state" und "federal jurisdiction", sodass ein auf Bundesebene abgeschlossenes Verfahren auf bundesstaatlicher Ebene wieder zuungunsten des Beschuldigten aufgenommen werden kann.


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Eine Wende des Strafrechts: Der Fall F. von Möhlmann

09.11.2023 um 03:57
Zitat von Juris019Juris019 schrieb:sodass ein auf Bundesebene abgeschlossenes Verfahren auf bundesstaatlicher Ebene wieder zuungunsten des Beschuldigten aufgenommen werden kann.
... aber auch nur dann, wenn passende Tatbestände vorliegen und die Bundesjustiz überhaupt zuständig wäre. Das ist selten der Fall, daher bleibt es in der Praxis normalerweise bei einem Freispruch.


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Eine Wende des Strafrechts: Der Fall F. von Möhlmann

09.11.2023 um 08:48
@Ludwig01
Ich finde es auch gut, wenn man nicht die deutschen Verhältnisse als allgemein gültig setzt, sondern "das ganze Bild" sieht, nämlich, dass der Grundsatz "ne bis in idem" in anderen Ländern, die unzweifelhaft Rechtsstaaten sind, auf seinen wesentlichen Kern beschränkt wird.

In meinen Augen ist es schade, dass das BVerfG die Chance versäumt hat, sich von der - zweifellos vorhandenen - deutschen Rechtstradition in dieser Frage etwas zu lösen. Stattdessen hat das BVerfG den Status quo vor der Erweiterung des § 362 StPO zementiert.


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Eine Wende des Strafrechts: Der Fall F. von Möhlmann

09.11.2023 um 09:44
Zitat von Sherlock_HSherlock_H schrieb:In meinen Augen ist es schade, dass das BVerfG die Chance versäumt hat, sich von der - zweifellos vorhandenen - deutschen Rechtstradition in dieser Frage etwas zu lösen.
Ersetze „Tradition“ vielleicht durch Erfahrung. Das Grundgesetz entstand nicht einfach so, es wurde vor dem Hintergrund eines mit fremder Hilfe überstanden Unrechtsstaat erstellt. Die Väter des Grundgesetzes hatten gerade Erfahrungen gemacht, die sich nicht wiederholen sollten. Ich denke, das ist ein wesentlicher Unterschied, eine Efharung, den die anderen Länder nicht direkt kennen. Nicht das BVerfG hat es zementiert sondern die Väter der Verfassung. Durch das BVerfG weiß man nun, es müsste das Grundgesetz geändert werden.

Und man soll sich nichts vormachen, so etwas kann sich auch wiederholen.

Und gerade dieses Gesetz, das nun als nichtig erklärt wurde, zeigt schon etwas, die eine Wiederholung befürchten lässt. Bei der Frage der Wiederaufnahme gab es unter den Mitgliedern des Senats des BVerfG unterschiedliche Stimmen, wo bei die Pro-Gruppe eigentlich sich mit den Gründen der anderen nicht ausreichend auseinandergesetzt hat. Und das sollte man immer machen.

Worin sich aber alle einig waren, war das Rückwirkungsverbot, dass das Gesetz nicht eingehalten hatte. Und das sind eben schon ein extrem wichtiger Grundsatz, den der Gesetzgeber beiseiteschieben wollte? Warum eigentlich?

Durch den zeitlichen Zusammenhang liegt der Verdacht nahe, dass es noch durchgeboxt werden musste, weil man andernfalls der Afd quasi kostenlos ein populistisches Thema für deren Wahlkampf geliefert hätte. Ich hatte schon immer den Eindruck, dass die Redner im Bundestag tendenziös ausgewählt wurden. Genau das alles ist bedenklich, wenn sich Parteien auf Grund einer solchen Gruppe wie die AfD gegen den Rechtssaat entscheiden und das war zumindest bei dem Versuch der Aufhebung des Rückwirkungsverbots der Fall gewesen.

Man sieht hier deutlich die Gefahr der Erosion des Rechtsstaates. Und weil die Väter des Grundgesetzes diese Erfahrung gemacht haben, konnte das BVerfG hier (noch) gegensteuern.

Und das ist heute wichtiger denn je, wo Politiker auch in ihrem privaten Umfeld von solchen Gruppen angegriffen werden.


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09.11.2023 um 09:56
Zitat von Juris019Juris019 schrieb am 31.10.2023:Beim Grundsatz "ne bis in idem" handelt es sich um einen Grundpfeiler des Rechtsstaates. An diesem zu rütteln stellt den gesamten Rechtsstaat infrage. Eine Aufhebung oder Verwässerung dieses Grundsatzes würde dafür sorgen, dass Freisprüche nur noch auf dünnem Eis stehen und auch Unschuldige nicht mehr darauf vertrauen könnten. Im schlimmsten Fall gäbe es einen Dammbruch und die Norm würde auf noch mehr Straftatbestände ausgeweitet werden.
Die Strafverfolgungsbehörden hatten ihre Chance und haben diese im Fall Möhlmann nicht zufriedenstellend genutzt. Das ist schwer auszuhalten, allerdings ist diese Konstellation extrem selten.

Und zu Deinem letzten Punkt: Ich interpretiere ihn so, dass du das Strafverfahren als etwas siehst, das für die Opfer ist. Das ist ein weit verbreiteter Irrtum, da es im Strafverfahren um den Täter und seine Tat geht. Es geht dort gerade nicht um die Opfer, auch wenn das schwer zu verstehen ist. Es geht um den staatlichen Strafanspruch gegenüber dem Täter. Die Auswirkungen der Tat sind im Rahmen der Strafzumessung natürlich relevant, aber eben nicht prägend für einen Strafprozess.
Diese Sichtweise empfinde ich als recht einseitig. Dass an diesem Grundsatz der gesamte Rechtsstaat hängt, ist wohl etwas übertrieben. Der Grundsatz "ne bis in idem" wurde schon von so einigen seriösen, demokratischen Staaten eingeschränkt, das sind dann also alles keine Rechtsstaaten mehr? Und es gab auch 2 Richter, die anders abgestimmt haben, die stellen dann auch gleich den Rechtsstaat in Frage?

Und ein bisschen widersprichst Dich Dir auch selbst. Denn wenn Du dann später schreibst eine Konstellation wie in diesem Fall gibt es extrem selten, dann besteht ja eben grade NICHT die Gefahr, dass jedermann so einfach doppelt angeklagt wird.

Wenn man diesen Grundsatz aufweicht, dann muss man natürlich klare Regeln und hohe Hürden setzen wann er aufgeweicht werden darf. Eben nur in solch extrem seltenen Fällen. Versteh mich nicht falsch, man kann es natürlich trotzdem so sehen wie Du und das tut ja auch eine Mehrheit der Richter, aber ich würde denjenigen, die das anders sehen, nicht gleich mit der Keule kommen sie würden den gesamten Rechtsstaat in Frage stellen.


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Eine Wende des Strafrechts: Der Fall F. von Möhlmann

09.11.2023 um 10:35
Zitat von StefanXXXStefanXXX schrieb:Wenn man diesen Grundsatz aufweicht ...
@StefanXXX
Ich denke, am Grundsatz selbst will niemand rütteln. "Ne bis in idem" heißt ja wörtlich übersetzt: niemals zweimal wegen des Gleichen, also niemals zweimal wegen der gleichen Sache. Nun gibt es dazu zwei Interpretationen, eine engere und eine weitere. Die Streitfrage ist, welche man als "richtig" ansieht:

1. Die engere Auslegung "keine doppelte Bestrafung wegen der gleichen Sache" ist sicher weitgehend unstrittig (Ausnahme: USA).

2. Die weitere Auslegung "keine zwei Anklagen in der gleichen Sache" wird vom BVerfG und wohl von der Mehrheit der Verfassungsrechler vertreten. Wenn man diese Position vertritt, priorisiert man die Rechtssicherheit gegenüber dem materiellen Recht des StGB. Diese Auslegung enthält auch die engere Auslegung ein, erweitert sie aber.

Ich denke, es ist wichtig, sich bewußt zu machen, dass die 2. Auslegung nur eine von zwei möglichen Auslegungen und keineswegs eine "conditio sine qua non" für einen Rechtsstaat darstellt.


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09.11.2023 um 10:42
Korrektur: In meinem Beitrag von 10.35 Uhr muß es natürlich heißen: "Diese Auslegung enthält auch die engere Auslegung, erweitert sie aber."


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Eine Wende des Strafrechts: Der Fall F. von Möhlmann

09.11.2023 um 12:17
@StefanXXX
Die Diskussion dreht sich hier an der ein oder anderen Stelle mittlerweile im Kreis. Ich habe bereits auf eben diese Fragestellung reagiert, sodass das Lesen des gesamten Threads Abhilfe schaffen könnte. Der Einfachheit halber:
Sherlock_H schrieb:
Ist deiner Meinung nach also in diesen 17 europäischen Staaten der Rechtsstaat bedroht?

Ein Rechtsstaat bemisst sich auch immer daran, wie ernst die eigene Verfassung genommen wird. Und in DE hat ne bis in idem Verfassungsrang. In anderen Staaten nicht oder nicht in der Deutlichkeit, wodurch sich Unterschiede erklären lassen. [...] Es gibt auch kaum andere europäische Länder, in denen die Verfassung direkt mit den Grundrechten anfängt. Einige haben diese nicht einmal direkt in die Verfassung hineingeschrieben. [...]

Zitat von Juris019Juris019 schrieb:
Nur, wenn man einmal anfängt Rechte von Verfassungsrang zu verwässern bzw. einzuschränken, weil es in einem Einzelfall sinnvoll erscheint, dann braucht man diese Dinge gar nicht erst in die Verfassung aufzunehmen. Grundrechte und grundrechtsgleiche Rechte dienen ja gerade dem Schutz des Einzelnen vor zu starken Eingriffen durch den Staat, der regelmäßig der Stärkere ist. Sollte dieser Schutz gelockert werden, dann betrifft es aber eben nicht mehr nur den Einzelnen, sondern kann für jeden zum Nachteil werden. Und das ist das Problem dahinter.

Und zu dem "Märchen" was hier erzählt werden würde: Ich habe mich auf Rechte von Verfassungsrang bezogen und das ist in DE eben auch der Grundsatz ne bis in idem. Wenn dieser in anderen Staaten nicht denselben Schutz genießt, dann kann er dort auch stärker eingeschränkt werden, ohne dass der Rechtsstaat bedroht wird. Wenn man aber anfängt, Verfassungsgrundsätze schrittweise zu lockern, dann kann man sie irgendwann gleich ganz über Bord werfen (damit beziehe ich mich jetzt nicht allein auf ne bis in idem). Und das hat dann mit Rechtsstaatlichkeit nicht mehr viel zu tun. Irgendwo muss nun einmal die Grenze gezogen werden und das hat das BVerfG für Art. 103 III GG mit deutlichen Worten getan.
Zitat von Juris019Juris019 schrieb:Die materielle Gerechtigkeit genießt in anderen Ländern in vergleichbaren Konstellationen Vorrang, weil es sich dort bei ne bis in idem nicht zwangsläufig um ein grundrechtsgleiches Recht handelt. Und auch Grundrechte haben in anderen Staaten nicht denselben Rang und denselben Schutz wie bei uns. Dementsprechend ist der Vergleich einfach nur müßig.
Auch der historische Hintergrund, der die ständige Auslegung und Rechtsprechung begründet, wurde bereits mehrfach erläutert. Insbesondere in Bezug auf das Grundgesetz kann und darf man diesen nicht einfach außer Acht lassen.
Zitat von StefanXXXStefanXXX schrieb:Und ein bisschen widersprichst Dich Dir auch selbst. Denn wenn Du dann später schreibst eine Konstellation wie in diesem Fall gibt es extrem selten, dann besteht ja eben grade NICHT die Gefahr, dass jedermann so einfach doppelt angeklagt wird.
Dadurch dass sie so selten ist, würde es im Zweifel eine Einzelfallregelung darstellen, die bei uns im Strafverfahren grundsätzlich nicht erlaubt ist. Realistisch betrachtet wurde sie auch insbesondere wegen des Falls von Möhlmann eingeführt. Allein das kann schon gegen diese Regelung sprechen. Und wie gesagt, auch wenn es eine seltene Konstellation ist, kann man nicht einfach für wenige Einzelne diesen Schutz aufheben/lockern, weil es nur so wenige betrifft. Das ist einfach kein Argument und widerspricht völlig der Grundidee hinter den Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten. Diese sollen ja gerade den Einzelnen vor Eingriffen, die eine Verletzung darstellen, schützen.

Man kann natürlich anderer Meinung sein, wenn man die Norm nicht ganz so eng auslegt. Die historische Auslegung ist eine von vier Auslegungsmethoden und nach dem Wortlaut könnte man eine erneute Strafverfolgung ohne Verurteilung möglicherweise rechtfertigen oder einen Freispruch nicht unter den Begriff Bestrafung fassen. Dafür gibt es auch gute Argumente, die hier bereits ausführlich besprochen wurden. Nur war die Entscheidung des BVerfG in der Form absehbar (zumal einstimmig in Bezug auf diese Norm) und ist auch sehr gut begründet.


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Eine Wende des Strafrechts: Der Fall F. von Möhlmann

13.11.2023 um 10:24
Ich möchte einen Verweis von Juris019 auf die Grundrechte der Europäischen Union aufgreifen:
Charta der Grundrechte der Europäischen Union
Titel VI - Justizielle Rechte (Art. 47 - 50)

Art. 50 Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden

Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.
Quelle: https://dejure.org/gesetze/GRCh/50.html

Interessanterweise gab es im Fall "Das mysteriöse Leben des Dr. Krombach aus Lindau am Bodensee", der hier auch diskutiert wird und in dem es um den Tod der 14-jährigen Kalinka Bamberski geht, in Frankreich zwei abgeschlossene Verhandlungen gegen Dr. Krombach. In einem Video dazu heißt es, dass der EuGH das zweite Verfahren für rechtmäßig erklärte. Kennt jemand die Begründung dazu?

Im Übrigen gibt es zahlreiche Parallelen zwischen den Fällen "Krombach" und "von Möhlmann". Frankreich hat in der Frage "ne bis in idem" aber anders entschieden.

Soweit ich weiß, "kassierte" der EuGH das 1. Urteil, aber warum? Wegen Abwesenheit des Angeklagten?


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Eine Wende des Strafrechts: Der Fall F. von Möhlmann

13.11.2023 um 12:41
Zitat von Sherlock_HSherlock_H schrieb:ch möchte einen Verweis von Juris019 auf die Grundrechte der Europäischen Union aufgreifen:

Charta der Grundrechte der Europäischen Union
Titel VI - Justizielle Rechte (Art. 47 - 50)

Art. 50 Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden

Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.

Quelle: https://dejure.org/gesetze/GRCh/50.html
D.h. Der EuGH könnte innerhalb der EU jegliche doppelte Urteile kassieren (sobald früher ein Freispruch erfolgte oder ein Urteil vollstreckt wurde)?


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Eine Wende des Strafrechts: Der Fall F. von Möhlmann

13.11.2023 um 16:42
Zitat von Sherlock_HSherlock_H schrieb:Interessanterweise gab es im Fall "Das mysteriöse Leben des Dr. Krombach aus Lindau am Bodensee", der hier auch diskutiert wird und in dem es um den Tod der 14-jährigen Kalinka Bamberski geht, in Frankreich zwei abgeschlossene Verhandlungen gegen Dr. Krombach. In einem Video dazu heißt es, dass der EuGH das zweite Verfahren für rechtmäßig erklärte. Kennt jemand die Begründung dazu?
Ich habe das noch dunkel in Erinnerung, die Sache war sehr kompliziert.

In Frankreich gab es früher Anwesenheitspflicht des Angeklagten vor Gericht. Wenn er die nicht wahrnahm, wurden sämtliche Argumente der Verteidigung verworfen und es wurde nach Aktenlage entschieden. Das ist jedoch ein eklatanter Verstoß gegen das rechtliche Gehör und damit eines fairen Verfahrens. Der EGMR stellte daher ein Verstoß gegen die Menschenrechte fest.

Das vertrakte dabei ist, dass der EGMR ein Urteil nicht selber aufheben kann, das muss dann im Land selber erfolgen. Hier ist das durch § 359 Nr. 6 StPO gewährleistet.

Kein Land, dass die EMRK anerkannt hatte konnte daher Krombach ausliefern, weil die Verurteilung gegen die EMRK verstieß.

Soweit ich noch in Erinnerung habe, konnte nur K oder sein Vertreter in Frankreich als Einziger dieses Urteil aufheben lassen. Diese Gesetzeslücke nutzte K aus, stellte keinen WAA und mied Frankreich und die Staaten, welche nicht die EMRK anerkannt hatten.


Ich weiß es einfach nicht mehr, kurz vor der Verjährung fand man dann doch in Frankreich irgendeine Möglichkeit das Urteil aufzuheben, vielleicht durch eine Gestzesänderung. Es muss also dann eine Wiederaufnahme "Zugunsten" analog zu § 359 Nr. 6 StPO gewesen sein, nun aber nicht durch den Angeklagten bzw. seinem Verteidiger sondern durch die StA beantragt.

Kurz darauf erfolgte die Entführung und das zweite Verfahren, wo natürlich ein Verschlechterungsverbot existierte.

Für K bedeutete das in Wirklichkeit nur ein einziges Urteil mit den gleichen oder geringeren Auswirkungen wie das aufgehobene für ihn. Das neue Urteil wurde dann m.W. auch vom EMRK bestätigt.


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Eine Wende des Strafrechts: Der Fall F. von Möhlmann

13.11.2023 um 16:58
@Lento
Vielen Dank für die ausführliche Erläuterung.

Ich habe inzwischen auch nachgelesen, ich hatte ja geschrieben, dass der EuGH das Urteil kassiert hat, aber du schreibst zu Recht, dass es der Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) war.

Zusätzllich zum Strafverfahren gab es vor einem franz. Gericht noch eine Verurteilung des Dr. Krombachs zu Schadensersatz, dieses Urteil wurde vom EuGH behandelt. Das habe ich verwechselt.

Da der Fall aber dann doch anders gelagert ist als die Causa von Möhlmann, möchte ich nicht weiter drauf eingehen.


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