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Welches Buch lest ihr gerade?

7.474 Beiträge ▪ Schlüsselwörter: Bücher, Lesen, Literatur ▪ Abonnieren: Feed E-Mail

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02.06.2025 um 12:38
https://www.piper.de/buecher/bewusstseinskultur-isbn-978-3-8270-1488-7#detail-rezensionen

Bewusst seins Kultur von Thomas Metzinger.

Hat wohl gute ansätze etwas zu ändern. Bin gespannt. Mal schauen was ich für mich rausholen kann.

Wie bewahrt man seine selbstachtung in einer historische Epoche, in der die Menschheit ihre Würde verliert.

Hoffe es ist trotz allem ein Positives Buch mit gute denkansätze.


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05.06.2025 um 15:59
Melanie Raabe - der längste Schlaf

Die Handlung des Buches war unerwartet, und einer der interessantesten Romane, den ich seit langem gelesen habe.

Es handelt von einer Schlafforscherin, die nicht schlafen kann, und unerwartet ein Haus erbt.
Mehr will ich nicht verraten.


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07.06.2025 um 17:09
Reinhard Wittmann - Geschichte des deutschen Buchhandels

wittmann

Ich habe dieses Werk des Münchner Literatur- und Buchwissenschafters Reinhard Wittmann in der zweiten Auflage aus 1999 vorliegen, aktuell ist die dritte aus 2011. Es gibt einen Überblick nicht nur über den Buchhandel mit Handschriften im Mittelalter bis zum Ende des zweiten Jahrtausends, sondern auch Einblick in Verlage, die Vertragsverhältnisse der Schreibenden und die Leserschaft. Wenn immer möglich, sind die Aussagen mit statistischen Zahlen unterlegt.

Nachvollzogen wird der Transfer der Buchzentren vom ursprünglich südwestdeutschen Raum (Nürnberg, Augsburg, Straßburg, Köln, Basel) im Lauf des 18. Jahrhunderts ins liberalere Sachsen mit dem Zentrum Leipzig. Erst mit der DDR verlagerte sich das Zentrum in den Westen nach Frankfurt/Main, wo es sich auch heute noch befindet.

Lange Zeit war aufgrund der Verkehrsverhältnisse es mehr oder weniger nur bei den Buchmessen möglich, Bücher zu verteilen, und diese nicht gebunden, sondern in ungebundenen Bögen. Verkauft wurde es von Buchführern an den langsam beginnenden stationären Handel, der jedoch nicht wie heute binnen kürzester Zeit Bücher bestellen konnte. Verkauft wurde hauptsächlich auf Märkten. Die Darstellung des Buchführers Hainrich Kepner aus Nürnberg (1543) ist nun auch als gemeinfreies Bild auf Wikimedia:

Landauer I 031 vOriginal anzeigen (0,4 MB)

Über die unsichere Exitenz von Buchführern schrieb noch Johann Gottfried Herder Ende des 18. Jahrhunderts:
„Der Buchführer muß zur Messe reisen, ein großes Kapital zum Ankauf der Bücher anlegen, die theure Fracht und Assekuranz bezahlen: von den mitgebrachten Büchern sezt er etwa den vierten Theil ab, aber gemeiniglich auf Credit; die Bezahlung erfolgt erst nach geraumer Zeit, wohl gar mit einigem Verlust. Manches Buch liegt mehrere Jahre unverkauft."
Auch war lange Zeit aufgrund der hohen Preise und der geringen Alphabetisierung der Bevölkerung nur einem sehr kleinen Teil der Bevölkerung es möglich, Bücher zu erwerben. Dennoch war vor allem zur Zeit der Reformation und der Bauernkriege in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Verbreitung schriftlicher Propaganda enorm, da die Herstellung billig war und sich wohl ausreichend Vorleser fanden.

Beinahe durchgehend ist der Streit zwischen Verlagen und Autor:innen um das Honorar. Verlage wollen am liebsten nichts zahlen. Hauptberufliche Schriftstellerei war und ist eine prekäre Angelegenheit. Nur sehr wenige können bis heute vom Buch- und Textverkauf gut leben. Marktgerechte Honorare wurden ab ca. 1800 üblich, zuvor sind Selbstverlagsinitiativen wie z. B. von Klopstock gescheitert. Aber noch Theodor Fontane klagte:
„Die Stellung eines Schriftstellers ist miserabel. Welchem Lande nach dieser Elendsseite hin der Vortritt gebührt, mag schwer festzustellen sein, doch wird sich vielleicht sagen lassen, dals Preußen-Deutschland immer mit an erster Reihe figuriert hat und erfolgreich bemüht ist, sich auf dieser alten Höhe zu halten. Die, die mit Literatur und Tagespolitik handeln, werden reich, die sie machen, hungern entweder oder schlagen sich durch. Aus diesem Geld-Elend resultiert dann das Schlimmere: der Tintensklave wird geboren. Die für die Freiheit arbeiten, stehen in Unfreiheit und sind oft trauriger dran als mittelalterliche Hörige."
Für 1911 zieht Wittman eine Informationsbroschüre des Schutzverbands Deutscher Schriftsteller heran. Die Autoreneinkommen seien wie folgt gewesen:
Nach Freds Bereichnungen waren mit Dramen, insbesondere Lustspielen, leicht jährliche Einkommen von 10000 bis 15000 Mark erzielbar, die bei Publikumserfolgen bis auf 100000 Mark ansteigen konnten (dies entsprach den Tantiemen von Gerhart Hauptmann). Bei jährlicher Verfertigung von zwei erfolgreichen Romanen sei mit 25000 bis 50000 Mark Jahreseinkommen zuzüglich Buchhonoraren zu rechnen. An der unteren Grenze der schriftstellerischen Einkommensskala reihte Fred jene Autoren ein, die vom journalistischen Vertrieb kleinerer Arbeiten lebten: Sie hätten sich mit weniger als 10000 Mark im Jahr zu bescheiden. Immerhin lag das Durchschnittseinkommen eines Verwaltungsangestellten damals bei 2500 Mark jährlich.
Wolfgang Koeppen 1972: „Werde ich krank, unfähig, bleibe ohne Einfall, stürze ich ab."

Zurück ins 18. Jahrhundert. Aufgrund der hohen Buchpreise und der schwierigen Transportverhältnisse blühte das Nachdruckwesen ("Raubkopien"), das in Wien sogar von höchster Stelle gefördert wurde, so von Erzherzogin Maria Theresia (der angesprochene Trattner ist ein Top-Verleger in Wien, Sonnenfels ein Schriftsteller):
„Unterdessen aber, lieber Trattner, sagen Wir ihm, daß es unser Staatsprinzip sei, Bucher hervorbringen zu lassen, es ist fast gar nichts da, es muß viel gedruckt werden. Er muß Nachdrucke unternehmen, bis Originalwerke zustande kommen. Drucke Er nach. Sonnenfels soll ihm sagen, was."
Erste Urheberrechtsinitiativen begannen beim Wiener Kongress 1815, aber zunächst nur für Verlage, die mit dem Kauf eines Manuskripts ewige Verwertungsrechte beanspruchten. Die Interessen der Autor:innen fanden erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zaghaft Eingang in Gesetze, 1870 in ein gesamtdeutsches Gesetz. 1825 gründete sich als Interessensvereinigung der Börsenverein der Deutschen Buchhändler. 1888 wurde vom Börsenverein die Buchpreisbindung beschlossen.

Der Vertrieb durchlief folgende Entwicklungsstufen:


  1. Tauschhandel: Die Verleger tauschten auf Buchmessen gegeneinander Druckbögen und versuchten sie dann in ihrem Einflussbereich zu verkaufen.
  2. Nettohandel: Bücher werden vom Zwischenhändler und vom Sortiment gekauft. Was nicht verkauft werden kann, ist Verlust.
  3. Kommissionshandel: Abgerechnet wird nur, was verkauft wird. Unverkauftes wird einmal im Jahr den Verlagen auf einer Buchmesse zurückgegeben.


Raum widmet Wittmann auch staatlichen Eingriffen in das Buchwesen. So konstatiert er, dass nach der Zensur bis zur Märzrevolution 1848 sich ein juristisches System durchsetzte, das nicht das Buch, sondern Personen angriff: Verbreitung und/oder Verfassen von Schriften, die gegen ein Gesetz verstießen. Besonders perfide sei dies im Nationalsozialismus gewesen, wo es keine Vorzensur gab, aber wenn eine Veröffentlichung dem NS-System sauer aufstieß, konnte dies das Leben der Beteiligten kosten. Wer noch blieb und schrieb (also in der Reichsschrifttumskammer Mitglied war), lebte in permanenter Angst und dauernder Selbstzensur.

Das Verlagssystem wurde während des Nationalsozialismus in seiner Eigentümerstruktur radikal verändert: Jüdische Verlage wurden arisiert, verschwanden oder schafften es, durch nichtjüdische Treuhänder zu überleben. In der DDR mussten Verlage in den Westen gehen, um nicht verstaatlicht oder scheinverstaatlicht (Parteieigentum) zu werden.

In der Bundesrepublik, in der Verlage praktisch ungehindert tätig sein konnten, steigerte sich die Zahl der jährlichen Neuerscheinungen von 14.000 (1951) auf 67.000 (1980). Auch wurde der Preis von Büchern erschwinglicher:
Insgesamt sind die Durchschnittsladenpreise für Bücher weit weniger gestiegen als die allgemeinen Lebenshaltungskosten, nämlich von 6,84 DM im Jahr 1951 auf 40,46 DM im Jahr 1997. Ein Roman, der damals zehn Mark kostete, müßte (nach Stundenlöhnen berechnet) heute für 185 Mark verkauft werden.
Beobachtbar ist eine Eigentümerkonzentration sowohl bei Verlagen als auch beim Buchhandel. Die Verlage werden von zwei Eigentümergruppen dominiert: Bertelsmann und Holtzbrinck. Von den bedeutenden Verlagen waren 1999 Suhrkamp, Hanser, Aufbau und Luchterhand unabhängig. Letzterer wurde 2001 von Random House (Bertelsmann) übernommen.

Diese Auflage endet wohl zu einer Sattelzeit: Am Beginn des elektronischen Zeitalters, das sowohl den Vertrieb (Internet; Amazon wird genannt) wie auch die Welt der Trägermedien (elektronisches Buch) ändern wird. Wohin die Reise geht, wagt Wittmann nicht zu prognostizieren, denkt jedoch, dass aufgrund der Unsicherheit bezüglich Langlebigkeit von Speichersystemen das Papierbuch nicht untergehen werde.


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07.06.2025 um 23:06
The Perfect Parents
J.A. Baker

202219952

Jackson and Lydia Hemsworth are pillars of the community, feted for having the perfect marriage and three wonderful children – Florence, Jessica and Ezra.

But appearances can be deceptive.

Because behind closed doors Jackson Hemsworth rules his family with cruelty and control. His marriage is a sham; his children for years have cowed in fear.

Until the day that Jackson and Lydia throw themselves off Newport Bridge in a joint suicide pact – the final cruel blow by Jackson to control his wife and torture his adult children.

As the Hemsworth siblings return to their family home, they must try to make sense of their parents’ last act. But there are many dark secrets waiting to be unearthed at Armett House.

Like, why are the townsfolk so suddenly hostile towards them? And who are the strangers who arrive at Armett House unannounced? And why has their mother’s body still not been found?

In the aftermath of their parents’ death, it becomes clear that something terrible is about to be exposed about the Hemsworths’ perfect parents.

A secret they may all wish had stayed hidden...


Quelle: https://www.goodreads.com/book/show/202219952-the-perfect-parents

Jackson und Lydia Hemsworth galten in ihrer Stadt als Vorzeigepaar — angesehen, mit einer scheinbar perfekten Ehe und drei erfolgreichen Kindern: Florence, Jessica und Ezra. Doch hinter verschlossenen Türen herrschten Missbrauch und Kontrolle. Jackson tyrannisierte seine Familie über Jahre hinweg, stellte jungen, minderjährigen Mädchen nach.

Eines Tages stürzen sich Jackson und Lydia in einem gemeinsamen Suizid von der Newport Bridge. Für die Kinder ist das ein Schock. Als die Geschwister ins Elternhaus, Armett House, zurückkehren, versuchen sie, den Grund für die Tragödie herauszufinden.

Doch mit ihrer Rückkehr tauchen neue Fragen auf: Warum begegnen ihnen die Menschen im Ort plötzlich mit offener Feindseligkeit? Warum blieb Lydia bis zum Ende bei Jackson und ließ sich nicht einfach scheiden?
Und warum bleibt Lydias Leiche verschwunden?

Je tiefer die Geschwister in die Vergangenheit eintauchen, desto deutlicher wird, dass ihre "perfekten" Eltern dunkle Geheimnisse verbargen — und dass etwas Schreckliches kurz davorsteht, ans Licht zu kommen.

Das Ende des Buches ist relativ vorhersehbar, da im Verlauf der Handlung zahlreiche Hinweise auf die spätere Auflösung gestreut werden. Gleichzeitig ist die Erzählweise teils verwirrend: Die Perspektiven von Florence und Jessica werden in der Ich-Form erzählt, während Jackson und Lydia in der dritten Person dargestellt werden. Ezra hingegen bleibt stumm und entwickelt sich kaum über eine Nebenfigur hinaus. Insgesamt wirken die Charaktere wenig ausgearbeitet und bleiben recht blass. Statt eines spannungsgeladenen Thrillers entwickelt sich die Geschichte eher zu einem klassischen Familiendrama.


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10.06.2025 um 10:53
Ljuba Arnautovic - Im Verborgenen

Arnautovic-Im Verborgenen

Die österreichischen Autorin Ljuba Arnautovic zeichnet in diesem 2019 erschienenen ersten Band ihrer Familientrilogie das Leben ihrer Großmutter mütterlicherseits nach, wobei sie nicht chronologisch erzählt, sondern zwischen den Zeiten und Figuren hin und her springt.

Genovefa wächst in einem Arbeiterhaushalt auf, heiratet zunächst einen Bosnier, deren Ehe schließlich geschieden wird, mit einem Lebensgefährten (Karl), den sie nicht mehr heiraten kann, hat sie einen zweiten Sohn (auch Karl). Sie ist aktiv in der Sozialdemokratie tätig, nähert sich den Kommunisten an und wird nach dem Februaraufstand 1934 immer wieder verhaftet und gefoltert. Nach einer Wasserfolter (Zelle wird bis zum Bauch unter kaltes Wasser gesetzt) entzünden sich Gebärmutter und Eierstöcke, ihr wird durch eine Notoperation das Leben gerettet. Sie versucht sich mit Tabletten zu töten, ihr muss ein Stück Darm herausgeschnitten werden. Bei einem weiteren Verhör wird sie während der Vernehmung stundenlang auf den Kopf geschlagen, was zu einer Gehirnblutung führt, was immer wiederkehrende Lähmungeserscheinungen zu Folge hat. Da sie ihre beiden Söhne mit Hilfe tschechischer Kommunisten in die Sowjetunion schickt, wird sie des Landes vewiesen. Sie lebt in Buchlovice bei ihrer Mutter und in Prag in Wohnungen von Kommunisten. Anträge für ein Exil in der Sowjetunion werden zurückgewiesen. 1939 flieht ihr Lebensgefährte nach London, wird mit der HMT Dunera 1940 nach Australien verfrachtet, kehrt 1942 nach England zurück und heiratet.

Bei einer Inkognito-Fahrt nach Wien trifft sie ihren ehemaligen evangelischen Gefängnispfarrer Hans Rieger, zu dem der Kontakt nie abgebrochen ist, und er erwirkt für Genofeva/Eva von den Nationalsozialisten eine Arbeitsgenehmigung als Kanzleikraft im evangelischen Zentrum. Sie bekommt eine kleine Wohnung in der Kanzlei, wo auch jüdische Menschen versteckt werden. Beklemmend ist, wie die Leiche einer an Lungenentzündung verstorbenen alten Frau von Fleischern im Bad zertückelt, in Bücherkisten aus dem Haus geschmuggelt wird und die Leichenteile in die Donau geworfen werden. Mit dem U-Boot Walter Baumgarten, der wegen seiner getauften jüdischen Großeltern zum "Juden" abgestempelt worden ist, geht sie eine Beziehung ein und heiratet ihn. Doch als Baumgarten die ihm nach Kriegsende zugewiesen Drogerie nicht erhalten kann, da ein Käsehändler dieselbe Räumlichkeit besetzt, erhängt er sich.

Anhand der beiden Söhne zeichnet Arnautovic das Leben in der Sowjetunion nach. Zunächst leben die Kinder, abgeschirmt von der sowjetischen Armut, in besten Verhältnissen: Privatschulen, Sommer in Jalta. Ab 1939 verlieren sie ihre Privilegien. Der ältere Sohn Slavoljub/Slavko wird aus seinem Studentenheim abgeholt, da er ein Gesetz kritisiert und mit Kommiltonen in einer Geheimschrift kommuniziert hat. Wegen antisowjetischer Propaganda wird er zu Lagerhaft verurteilt, wo er 1942 offiziell an avitaminoser Kolitis (Darmentzündung wegen Vitaminmangels) stirbt. Der jüngere Bruder Karl reißt aus und schließt sich kriminellen Banden an. Nach seiner Verhaftung wird er nach Sibirien verbannt.

Arnautovic schiebt mehrfach Dokumente ein, für die sie Echtheit reklamiert. Unfassbar die Nüchternheit des Dokuments, das Walter Baumgarten zum "Juden" stempelt. Ein Todesurteil. Nach dessen Erhalt fingiert Baumgarten einen Selbstmord und taucht unter.
Gauleitung Wien – Amt für Sippenforschung
Wien 1, Josef-Bürckel-Ring 3, GauhausAn Walter Israel Baumgarten, Wien V, Christophg. 4
An die Geheime Staatspolizei, Stapoleitstelle Wien I, Morzinplatz 4
An den Herrn Polizeipräsidenten in Wien, Abt. II, Dez. 1b Wien I, Bräunerstr. 5

Unser Zeichen: Sippe WSch/Fi 01260/18

Wien, am 16. Oktober 1944

Betrifft: Prüfungsergebnis

In Ihrer Abstammungssache gelangte ich auf Grund der zur Verfügung gestellten Urkunden, des von meiner Dienststelle beschafften Materials und der durchgeführten Erhebungen zu folgendem

P r ü f u n g s e r g e b n i s

Der Prüfling Walter Israel B a u m g a r t e n, geboren am 19. Februar 1896 in Wien, wohnhaft in Wien V, Christophgasse 4, Stand: ledig, ist
J U D E
mit vier der Rasse nach volljüdischen Großelternteilen im Sinne der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14.11.1935 (RGBl. Teil I, Seite 1333).
Gründe: Der Prüfling, wie oben, wurde geboren und ausw. seines Geburts- und Taufscheines am 12.3.1896 röm-kath. getauft, als ehelicher Sohn des Wirts Ludwig Baumgarten und der Eleonore (Lea) geb. Richter (beide Eltern vorverstorben).
Der Vater des Prüflings, wie vorher, geboren am 16.5.1848 in Wien, ist der eheliche Sohn der Juden Leopold (isr. Geburtsname Simon) Baumgarten, geboren am 7.5.1798 in Aschau/Böhmen, Israelitische Kultusgemeinde, röm-kath. getauft am 23.7.1846 in der Schottenpfarre zu Wien (Sohn des Handelsmannes Herrmann Baumgarten und der Barbara Popper) und der am 16.2.1831 in Neuzedlisch, Israelitische Kultusgemeinde geheirateten Theresia Steinhart, geboren am 1.12.1812 in Neuzedlisch, röm-kath. getauft am 23.7.1846 in Wien (Tochter des Maierbeer Steinhart und der Barbara Abeles). Seine volljüdische Abstammung ist auf Grund der h.a. beschafften Unterlagen eindeutig nachgewiesen.
Die Mutter des Prüflings, wie vorher, geboren am 10.9.1859 in Lemberg, kath., ist als eheliche Tochter des Samuel Richter und Fanny Zuckerberg ebenfalls zweifellos volljüdischer Abstammung.
Der Prüfling verstand es bisher, seine volljüdische Abstammung, die ihm selbst keinesfalls unbekannt geblieben sein kann, zu verschleiern und sich bei allen Dienststellen als Mischling I. (ersten) Grades auszugeben.
Der Prüfling, selbst niemals dem Judentum angehörig, war auf Grund der oben angeführten Beweise als
J u d e
rassisch einzuordnen.
Dem Prüfling wird aufgetragen, sich unverzüglich nach Erhalt dieses Schreibens in der Stapo-Leitstelle Wien I., Morzinplatz 4, Eingang Salztorgasse, einzufinden. Gegenständliches Schreiben ist mitzuführen und gilt gleichzeitig als Passierschein.
Auch das Gerichtsprotokoll, das Slavko in der Sowjetunion unterzeichnen muss, ist zitiert:
Tschistopol, 12. Dezember 1941

Der Ermittlungsbeamte hat dem Beschuldigten seine Rechte erklärt, sich mit dem gesamten Material der Untersuchung bekannt zu machen, worauf dem Beschuldigten zur Einsichtnahme der gesamte Akt in abgehefteter und durchnummerierter Form auf 40 Seiten zur Verfügung gestellt wurde.

Der Beschuldigte hat im Verlauf von einer Stunde und 30 Minuten Einsicht genommen und nach der Einsichtnahme erklärt, dass ihm gemäß Artikel 206 der StPO »das gesamte Ermittlungsverfahren in meiner Sache, bestehend aus einer Akte von 40 Seiten, vollständig bekannt gegeben und erklärt wurde. Die von mir gegebene Aussagen über meine antisowjetischen Äußerungen werden von mir bestätigt. Dem Ermittlungsmaterial kann ich nichts mehr hinzufügen. Ich habe keinerlei Ansuchen an die Untersuchung.«
Drei weitere Aktenstücke sind von Slavko vorhanden:
Aktennotiz vom 15. Jänner 1942

Der Beschuldigte befindet sich im Gefängnis Nr. 4 der Stadt Tschistopol, Gesundheitszustand: gesund. Beweisstücke zur Sache: nicht vorhanden.

Aktennotiz vom 27. Mai 1942

Wir, die ärztliche Leiterin der Sanitätsabteilung des Gefängnisses Nr. 4 Mjatshina, die diensthabenden Arzthelfer Buljaewa und Djatshin, haben die Leiche des Strafgefangenen Arnautović Slavoljub besichtigt. Geb 1921 in Wien (Österreich), wohnhaft in Moskau, Fräserstraße 16/8, beschuldigt gemäß § 58/10/I, Zuständigkeit Gebietsabteilung des NKWD, überstellt in das Gefängnis Nr. 4 aus der Stadt Kasan, ist am heutigen Tag um 12 Uhr in der Einzelhaftzelle Nr. 8 verstorben. Die Leiche ist mittleren Wuchses, der Zustand ist schlecht und blass, zeigt Leichenflecken.
Die Todesursache: Kolitis avitaminosen Ursprungs.

Aktennotiz vom 16. Juli 1942

Während der Haft in Tschistopoler Gefängnis Nr. 4 ist Arnautović Slavoljub am 27. Mai 1942 verstorben.
Aufgrund des Dargelegten wird beschlossen, die strafrechtliche Verfolgung gemäß Artikel 4 Punkt 1 des Strafgesetzbuches einzustellen. Die Akte Nr. 1095 ist zur Aufbewahrung im Archiv der 1. Spezialabteilung des NKWD Moskau abzulegen.
Von Karl ist eine Aufzeichnung angeführt, die er nach Rückkehr nach Österreich über seine Haft in Sibirien verfasst hat und in der er offen zugibt, dass er einen Mord begangen hat, um an der Seite der Kriminellen zu sein und überleben zu können:
»Die tägliche Ration bei 100-prozentiger Normerfüllung: 800 g Brot, 20 g Fett, 120 g Hafer, 30 g Fleisch oder Fisch, 27 g Zucker. Es dürfen Ersatzstoffe verwendet werden.« Bei uns gibt es nur Ersatz: Innereien, Fischköpfe, Knorpel, Sehnen und Haut von Tieren. Brot wird mit Kleie und Sägespänen vermischt, wird feucht, lässt sich auswinden.

Nach der Brotverteilung um vier Uhr Früh geht der Brigadier (einer, der schon länger als zwanzig Jahre einsitzt) zum Lagertor, um nach dem Thermometer zu sehen. Unter vierzig Grad müssten die Sträflinge nicht zur Außenarbeit. Heute hat der Tatare Stepan Dienst, da ist nichts Gutes zu erwarten. Der arbeitet für die Lagerverwaltung, die einen Plan zu erfüllen hat. Moskau zählt auf die Arbeitsleistung der Lager überall im Land, und die tiefen Temperaturen stören diesen Plan. Stepan tränkt einen Wattebausch mit Spiritus, stopft ihn ans untere Ende des Thermometers, zündet ein Streichholz an. Ob ich heute als Arbeitsverweigerer in den Isolator geh? Ein gemauertes Erdloch, wenigstens kein Wind. Andererseits: seit über sechs Monaten kein Zucker, und das Gerücht, heute gibt es eine Verteilung. Im Isolator kriegt man nichts ab.

… Doch kein Zucker. Einige haben Erfrierungen an Nasen, Fingern und Zehen. Wunden im Gesicht von Eisteilchen, die der scharfe Wind in die Haut schießt, einige werden eitern. Manchmal stehle ich eine Wollmütze mit Löchern für die Augen, in der Nacht wird sie dann mir wieder gestohlen.

… Deutsche, Polen, Balten, Russen, Mongolen, Kaukasier.
Neider, Intriganten, Mitleidige, Diebe, Barmherzige, Hinterhältige.
Duckmäuser und Wortführer, Machtgierige und Speichellecker, ehrenhafte Diebe und miese Verräter, Jammernde und ewige Optimisten.
Der Hölle Entstiegene und biblische Gestalten: Luzifer, Judas, Hure, Heiliger, Prophet, Märtyrer.

Viele Selbstmorde. Als Erste sterben die Intellektuellen, die Politischen, die Religiösen und die mit den kurzen Strafen – die vertragen Willkür und Erniedrigung noch nicht. Wer vier Monate überlebt, hat kapiert, verbraucht seine Kräfte nicht mehr fürs Gekränktsein. Alle Kraft brauchst du fürs Überleben. Du ersinnst Tricks und Methoden. Der Mensch ist des Menschen Wolf. Als Einzelner hast du keine Chance. Du musst dich einem Rudel anschließen.

Wer sich keiner Gruppe anschließt, bleibt ohne Schutz, der hat schon verloren. Für mich, den physisch Schwachen, kommen nur die Stärksten infrage. Das Aufnahmeritual bei den Kriminellen: ein Mord. Das Opfer wird bestimmt. Ich betrinke mich gemeinsam mit ihm, dann gehen wir zur Latrine und ich schneide ihm die Kehle durch.



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10.06.2025 um 13:38
Cixin Liu - Die wandernde Erde

Liu-Wandernde Erde

Dies ist ein Band mit Erzählungen des chinesischen Science-Fiction-Autors Cixin Liu aus verschiedenen Schaffensepochen, aus dem ich in den letzten Monaten immer wieder mal eine Erzählung gelesen habe. Liu ist ursprünglich Softwareentwickler im Kraftwerksbereich gewesen, hat sich aber für eine Karriere als Schriftsteller entschieden.

Sein britischer Verleger Nicolas Cheetham schreibt im Nachwort, dass die chinesische SF-Szene sich nicht über Verlage, sondern das Internet entwickelt hat, und die begeisterten Leser:innen wurden immer mehr, dass auch kommerzieller und internationaler Erfolg nicht ausgeblieben ist. Warum dies so sein könnte, wird Liu zitiert:
Am Ende des neunzehnten und zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts überquerte die westliche Zivilisation den Ozean und machte das uralte chinesische Reich mit neuen Ideen bekannt, die es dramatisch veränderten und immer noch verändern: die moderne Technologie, der Marxismus, der Kapitalismus mit seinen freien Märkten, die Demokratie. Im Vergleich zu den westlichen Gesellschaften haben die Chinesen eine viel unmittelbarere und konkretere Vorstellung davon, wie es ist, wenn der Kontakt mit einer anderen Zivilisation die eigene verändert. In diesem Sinne kann man meine Trilogie auch als Ausdruck dieses nationalen Traumas verstehen.
Cheetham ergänzt, dass sich die aktuelle Industrialisierung Chinas innerhalb von zwei Generationen vollzogen hat, während der Westen dafür drei Jahrhunderte gebraucht habe.

Und über die Ursachen des internationalen Erfolgs mutmaßt Liu:
Science-Fiction ist das globale und universelle Medium, um Geschichten zu erzählen. Sie wird von allen Kulturen verstanden. Die SF beschäftigt sich mit Problemen, denen die ganze Menschheit gegenübersteht, und die Gefahren, die sie heraufbeschwört, betreffen üblicherweise die Menschheit als Ganzes. Dieses Genre hat also eine einzigartige und sehr wertvolle Sichtweise auf die Menschheit – es betrachtet sie stets als eine unteilbare Einheit.
Ergänzt wird dieser Band durch Informationen zur chinesischen Sprache, der Schreibweise sowie der Aussprache.

Ausführlich zu den einzelnen Erzählungen in meinem Blog: Cixin Liu - Die wandernde Erde


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10.06.2025 um 14:37
Gore Vidal - Ewiger Krieg für ewigen Frieden

Vidal-Ewiger Krieg

Gore Vidal war linksliberaler (?) freier Journalist und Schriftsteller mit Hang zu Verschwörungsthesen und lässt gerne heraushängen, dass sein Großvater Oklahoma 1937 in die Union geführt hat sowie dessen erster Senator war und dass er mit John F. Kennedy bekannt war. Der Verdacht bleibt nicht aus, dass er dadurch seinen Ideen mehr Gewicht verleihen wollte. Seine politischen Ambitionen blieben glücklos.

Dieser Band präsentiert Artikel, die hauptsächlich für Vanity Fair geschrieben wurden, und gehen der Frage nach, warum Terroristen wie Timothy McVeigh, der Oklahoma-Attentäter, mit dem Vidal während dessen Gefangenschaft bis zur Hinrichtung in Kontakt war, und Osama bin Laden die USA attackieren woll(t)en.

Vidals Antwort folgt dem Schema Actio-Reactio. Die Terroranschläge von McVeigh und bin Laden waren Reaktionen auf die US-Politik. McVeighs Kontext ist die Verarmung bäuerlicher Familienbetriebe mittels Enteignung durch politisch geförderte Konglomerate, und Vidal ergänzt noch den ans Totalitäre grenzenden Abbau der Bill of Rights wie der US-Verfassung. Bin Ladens Kontext ist die Anwesenheit von US-Einheiten in Saudi Arabien sowie der Antiarabismus in US-amerikanischer Politik wie in den Medien. Und manchmal schießt Vidal meiner Ansicht nach übers Ziel:
Wenn man sich einmal klarmacht, dass die Vereinigten Staaten die übrige Welt unablässig mit Gewalt überziehen und hierzu Vorwände benutzen, die so durch und durch fadenscheinig sind, dass wohl selbst Hitler gezögert hätte, sie zur Rechtfertigung seiner dreistesten Lügen zu verwenden, begreift man allmählich, weshalb uns Osama Bin Laden aus der Ferne und im Namen von einer Milliarde Muslimen angegriffen hat.
Die meisten Artikel handeln von McVeigh. Vidal lässt definitv durchblicken, dass er nicht an eine Alleintäterschaft McVeighs glaubt, sondern dass er Mittäter gedeckt, aber auch einen schlechten Verteidiger gehabt hat. Dessen Tat sieht er in einem "übersteigerten Gerechtigkeitssinn", und mehrfach weist er auf den behördlichen, extrem mörderischen Überfall auf die friedlichen Branch Davidians in Waco hin. Selbst dass FBI und das Bureau of Alcohol, Tobacco, Firearms and Explosives (ATF) am Oklahoma-Anschlag beteiligt waren, schließt Vidal nicht aus. Für ihn ist ein Indiz, dass es im ATF-Büro des Murrah Federal Building keine Opfer gegeben habe.

Vidal veröffentlicht auch aus Kommunikationen mit McVeigh, so dessen 10 Ergänzungspunkte zur US-Verfassung: Tim's Bill of Rights, in denen er eine radikale Föderalisierung der USA fordert. Beispiele: Keine direkte Bundesbesteuerung, keine Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen durch Bundesbehörden, Straftaten werden vor örtlichen Gerichten verhandelt. Ferner fordert er, dass sich jeder Bürger auf die gleiche Art und Weise bewaffnen darf wie Bundesbehörden, dass Geld jederzeit in einen international anerkannten Wert wie Silber eingetauscht werden kann und dass Angehörige der Legislative nicht mehr als das Doppelte der Armutsgrenze verdienen dürfen. Ob Letzteres wirklich ein geeignetes Mittel ist, Korruption von Gesetzgebern einzudämmen, bleibt dahingestellt.

Der letzte Beitrag ist ein offener Brief an den designierten Präsidenten George W. Bush vom 11. Januar 2001. Bush hat für ihn die Wahlen nicht gewonnen, sondern ist durch einen Trick, Auszählungen stoppen zu lassen, an die Macht gekommen. Er wünscht sich von ihm, dass er zum Pentagon auf Distanz geht und die Militärausgaben für Bildungsausgaben (was ja auch Bush' Ziel sei) und ein staatliches Krankenkassensystem umwidmet. Von 1949 bis 1999 habe der Staat 7,1 Billionen USD für Militär ausgegeben, der aktuelle Schuldenstand betrage 5,6 Billionen. Ohne Militärausgaben wären die USA schuldenfrei. Auch fordert Vidal höhere Unternehmenssteuern. Diese seien von 25 % im Jahr 1950 auf 10,1 % im Jahr 1999 gesunken.

Insgesamt eine interessante Zeitreise mit wichtigen Problematiken, die angeschnitten sind. Der süffisante, lakonische und nicht nur einmal selbstgerechte Stil mit Hang zu Verschwörungsthesen erhöht für mich das Lesevergnügen eher nicht.


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11.06.2025 um 17:28
Ich bin gerade halbwegs durch Das Parfum (ich hab eigentlich damit letztes Jahr angefangen haha).

Gleichzeitig lese ich auch:

Cradles of Eminence, in dem es um die Erziehung erfolgreicher Menschen gibt;

The 4-Hour Workweek, hauptsächlich weil ich die Zeitverwaltung zwischen Arbeit und Leben schwierig finde;

und

The Angels of Perversity. Das habe ich wegen des Films Nosferatu entdeckt. Der Regisseur hat der Hauptdarstellerin eine Geschichte (Péhor) aus diesem Buch empfohlen. Das hatte ich schon vor paar Monaten gelesen, nun will ich das ganze Buch lesen.


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11.06.2025 um 17:44
Zitat von Nebel94Nebel94 schrieb:Ich bin gerade halbwegs durch Das Parfum
Gut ,:Y: wie auch das Hörbuch!


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11.06.2025 um 19:29
Zitat von FlamingOFlamingO schrieb:Gut ,:Y: wie auch das Hörbuch!
Oha es gibt auch ein Hörbuch dazu? Das wusste ich nicht! :D


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11.06.2025 um 23:43
Joachim Zelter - untertan

zelter-untertan

Der Freiburger Schriftsteller Joachim Zelter legte 2012 eine streckenweise bitterböse, aber nicht immer stimmige Satire auf das deutsche Bildungswesen wie die Politiklandschaft vor.

Friederich Ostertag ist Sohn eines Spielwarenhändlers aus Lindau und Enkel des Erfinders des Spiels Fang den Hut. Sein Vater ist von seinem riesigen Talent überzeugt und lässt ihn als Fünfjähriger einschulen, womit die Karriere eines eher minderbemittelten Schülers beginnt, der als lernunfähig charakterisiert ist. Er kann weder mit Buchstaben noch mit Zahlen umgehen. Trotz einer Nachhilfelehrerin, die zeitweise im Haus wohnt, und Helikopterbetteleien durch seinen Vater geht auch am Gymnasium nicht weiter: Friederich ist unfähig, Texte zu verstehen. Ergo: ab ins Internat Mochenwald.

Dieses ist nicht wegen seines Niveaus bekannt, sondern dafür, dass reiche Erbensöhne ohne Leistung das Abitur bestehen können. Internatsklassiker: Gewalt. Dazu saufen. Und als Schulklamauk: Den Schülern gelingt es mit Hilfe ihrer Eltern, permanent Klausuren zu vertagen. Lehrer werden gewechselt wie Unterhosen, da es dort niemand mit Verstand lange aushält.

Doch dann der Bruch: Friederich entpuppt sich als exzellenter Briefeschreiber. Woher diese Kompetenz plötzlich kommt, bleibt im Dunkel. Er schreibt für seine Mitschüler in deren Namen permanent Briefe an reiche Verwandte, worüber die so glücklich sind, dass sie ihren Cousins Unmengen an Geld schicken. Das Abi schafft Frederik (siehe oben).

Danach geht Friederich an die Uni Konstanz und studiert Politologie und Soziologie (permanente Seitenhiebe gegen diese Blümchenfächer sind aufgelegt). Doch auch dort entwickelt sich seine Schreibkunst weiter, er wird Ghost-Writer für Diplomarbeiten, so auch für einen jungen reichen Lebemann und Frauenhelden namens von Conti (mit Unmengen Vornamen). Für diesen schreibt er in kurzer Zeit dessen Magiserarbeit und im Anschluss über mehrere Jahre dessen Doktorarbeit (mit Unmengen an Zitaten aus Werken, die es gar nicht gibt - also ein Vorläufer einer halluzinierenden KI). Für sich selbst schafft er keine Abschlussarbeit (keine Diplomarbeit und schon gar keine Dissertation).

Von Conti macht Karriere und zieht Friederich als Berater und Ghostwriter mit: als Assistent seiner wissenschaftlichen Assistenz, als Ideengeber für seine Partei, für seine Tätigkeit als Bundestagsabgeordneter, für seine Tätigkeit als Minister. Selbst kann von Conti ja nichts, er ist nur adelig, reich und beliebt. So richtig blüht Friederich auf, als er Bewerbungsgespräche für von Conti führt und die Bewerber:innen, meist weiblich, auflaufen lässt. Eine hingebrabbelte Frage des extrem schüchternen Friederich an eine junge Frau, ob sie ihn heiraten wolle, wird bejaht. Er kann sich auch nicht auf das Rollenspiel Bewerbungsgespräch ausreden, es wird geheiratet. Doch im Laufe der Geschichte verschwindet diese Karla wieder (mir wäre kein Exitszenario aufgefallen).

Als während der Finanzkrise von 2008/09 im Zuge der Sparmaßnahmen Friederich nicht nur den Verkauf mehr oder weniger allen Staatseigentums vorschlägt, sondern auch die Lizenzierung von Sprachen (Menschen sollten nur mehr einen sehr eingeschränkten Wortschatz kostenfrei verwenden dürfen), trennt sich von Conti von seinem Berater.

Friederich fällt ohne Studienabschluss ins Leere. Das Spielwarengeschäft seines Vaters ist geschrumpft und kämpft ums Überleben, seine Mutter ist bettlägrig. Seine Frau ist aus dem Roman verschwunden. Also bleibt ihm nur mehr eine Option: Er ertränkt sich im Bodensee.

Phasenweise witzig, das sprachliche Spektrum ist groß, aber die Geschichte hat so ihre Logikfehler. Die Seitenhiebe aufs Bildungswesen sind gelungen, auch wenn die Namen von Internatsschüler wie Suhrkamp dann schon ein zu übertriebener Seitenhieb auf Deutschlands Kulturlandschaft sind, und dass von Conti ein Alter Ego von Guttenberg sein könnte, ist Kritikern bereits bei Erscheinen aufgefallen. Der Bezug im Titel zu Heinrich Manns gleichnamigen Roman ist dann aber doch etwas zu hoch gegriffen.


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12.06.2025 um 15:42
Zitat von Nebel94Nebel94 schrieb:Oha es gibt auch ein Hörbuch dazu? Das wusste ich nicht! :D
Youtube: Hörbuch: Das Parfum – Patrick Süskind Hörbuch
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15.06.2025 um 14:27
Zitat von NarrenschifferNarrenschiffer schrieb am 10.06.2025:Der süffisante, lakonische und nicht nur einmal selbstgerechte Stil
Ich habe mal ein Buch von Gore Vidal gelesen, der Stil war deutlich anders als bei einem typischen politischen Essay,
der Stil war "dandyhaft", ich fand das ganz lustig, inhaltlich war es aber mir zu Russland freundlich.


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17.06.2025 um 22:15
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18.06.2025 um 12:40
Dennis E. Taylor - Ich bin viele (Bobiverse 1)

Taylor-Bobiverse1

Der Programmierer Dennis E. Taylor stieg in den 2010er Jahren in die SF-Autorenwelt ein und schuf mit Bobiverse eine erfolgreiche SF-Serie, in der die Erde durch einen Krieg mehr oder weniger zerstört wird und Replikanten (Backup von menschlichen Gehirnmustern bzw. Persönlichkeiten als Software), die sich selbst vermehren können und mit Hilfe von Virtueller Realtiät menschliche Empfindungen haben können.

Ausgangspunkt: Der SF-Fan und Programmierer Bob Johansson hat einen Vertrag unterzeichnet, dass er nach seinem Tod wieder erweckt werden kann. Sein Tod geschieht rasch, er wird in Las Vegas von einem Auto überfahren. Nach seinem Aufwachen ist er nur mehr ein Computerprogramm in einer Schachtel, wird aber nach Wiedererwachen angeleitet, Hardware als Extention zu verwenden: Kameras, Greifarme etc.

Johannson erfährt, dass die USA nun im Jahr 2133 ein christlich-fundamentalistischer, faschistischer Staat sind, der sich in permanentem Konflikt mit den Vereinigten Staaten von Europa, China, Australien und vor allem den neuen Supermächten Argentinien und Brasilien befindet. Besonders Brasilien ist ein sehr aggressiver Staat.

Der Replikant Johannson ist geschaffen worden, um mit einer Raumsonde ins System Epsilon Eridani zu fliegen, sich selbst zu replizieren (Maschinen sollen Metalle ausbeuten und 3D-Drucker Maschinen, Stationen, Hardware, Raumschiffe bauen). Somit wird Bob bzw. seine Kopien zu einer Art Von-Neumann-Sonden. Einen netten Kick ergibt, dass die Bob-Klone alle eine eigene Persönlichkeit entwickeln, die offenbar Teilaspekte der Psyche des menschlichen Robert Johannson übernehmen, sie also charakterlich unterschiedlich sind.

Die Bob-Klone reisen weiter im näheren Sternenbereich und in Delta Eridani wird ein belebter Planet mit intelligenten Zweibeinern auf altsteinzeitlichem Niveau (sie kennen Feuer und haben eine Sprache) entdeckt (Deltaner), deren Zahl mit etwa 400 Expemplaren am Rande des Aussterbens liegt. Gefährdet werden sie von gorillaähnlichen Tieren, die sie jagen. Die beiden dort befindlichen Bob-Klone entscheiden einzugreifen, nehmen Kontakt auf und geben ihne Möglickeiten, Waffen zu erzeugen (Feuersteine werden zur Verfügung gestellt), fördern einen intelligenten Jungen und greifen in die Überfälle ein, indem die Gorillaähnlichen zum Teil durch Kamikazedrohnen abgewehrt werden. Am Ende führen die Bob-Klonen die Deltaner zu einem infrasturkurell besseren, aber wegen der Gorillaähnlichen gefährlicheren Gebiet, aus dem sie vor drei Generationen geflohen sind.

Einer der Klone fliegt zurück zur Erde, die vor einem atomaren Winter steht und aufgrund des Krieges von einer auf 15 Mio Menschen reduzierten Bevölkerung bewohnt wird. Nachdem es gelungen ist, die Streitigkeiten auf ein Minimum zu reduzieren, wird beschlossen, die Menschen ins Doppelplanetensystem von Omicron2 Eridani zu evakuieren.

Für meinen Geschmack bilden die vielen Kämpfe mit brasilianischen Replikanten in unterschiedlichen Sonnensystemen einen etwas zu martialischen Aspekt (eher Trash), das dem zum Teil hochphilosophischem Werk eher nicht zur Ehre gereicht. Viel interessanter sind für mich die ethischen Implikationen bei der Entdeckung nicht industriellen intelligenten Lebens oder die Definition unterschiedlicher KIs auf Basis des Gedankenexperiments des chinesischen Zimmers (Wikipedia) von John Searle (KIs, die nur Zeichen zusammensetzen, ohne sie zu verstehen, bzw. starke KIs, die auch verstehen und eigenständig handeln können).

Letzeres macht mich neugierig auf den zweiten Teil, die Kampfszenen tun das eher nicht.


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19.06.2025 um 07:22
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Ich könnte ihn Erwürgen von Martin Wehrle
Vom einfachen Umgang mit schwierigen Menschen. Mit Weißglut-Test!

Schwierige Menschen können einen zur Weißglut treiben. Sie schwätzen dumm und klug, motzen und nörgeln, intrigieren und lästern. Ihre Maßstäbe sind nicht gerecht, nur selbstgerecht!
Ein interessantes Buch über schwierige Menschen.


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21.06.2025 um 14:00
Zitat von duvalduval schrieb:Ich könnte ihn Erwürgen von Martin Wehrle
Martin Wehrle ist super, gibt auch viel von ihm auf youtube.


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28.06.2025 um 22:56
Tobias Schneebaum - Der Fluss zu deiner Rechten

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Schneebaum war ein amerikanischer Anthropologe, Abenteurer und später ein homosexueller Aktivist.
In den 50ern reiste er in den peruanischen Dschungel und lebte dort längere Zeit bei den Kannibalen,
die es damals noch gab.
In "Der Fluss zu deiner Rechten" beschreibt er seine Reise und die intensiven Erfahrungen mit den Kannibalen...

durch den Dschungel:

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Überfall auf ein Dorf:

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06.07.2025 um 13:06
Hans-Peter Schwarz - Helmut Kohl

schwarz-kohl

Mit fast 80 Jahren hat der Historiker Hans-Peter Schwarz 2012 eine tausendseitige Biographie von Helmut Kohl vorgelegt, die keine Hagiographie, also keine Heiligenbeschreibung, ist, sondern sprachmächtig ein halbes Jahrhundert deutsche und europäische Politik vor Augen führt. Der komplette Lebensweg Kohls ist in die nationale wie internationale politische Lage eingebettet, was dieses Buch zu einer faszinierenden Lektüre macht.

Schwarz betont, dass Kohl aufgrund seiner Herkunft schon früh von Adenauer geprägt war, obwohl er noch als Kind die Hitlerjugend "durchgemacht" hat. Seine Grundprinzipien waren durchgehend: Freundschaft mit Frankreich, europäische Integration mit dem Ziel eines europäischen Bundesstaats, transatlantisches Sicherheitsbündnis, freundschaftliche Beziehungen zur Sowjetunion bzw. zu Russland, Kontakt zu China, soziale Marktwirtschaft mit Fokus auf Sozialem. Und wie ein Damoklesschwert hängt die Angst, dass Deutschland Kampfzone bei einem Dritten Weltkrieg werden könnte, über seinem Kopf, was viele Entscheidungen der 1980er Jahre bezüglich Sicherheitspolitik beeinflusst.

Kohls Ideen bezüglich der Entwicklung der EG/EU: Am Herzen liege ihm
ein von allen Bürgern zu wählendes Parlament, das umfassende parlamentarische Gesetzgebungs- und Kontrollrechte hat, eine europäische Regierung, die allein diesem Parlament verantwortlich ist, eine europäische Staatenkammer, die den Mitgliedstaaten die Beteiligung an der Gesetzgebung des Bundes ermöglicht, ein europäischer Gerichtshof, der die Auslegung und Anwendung der europäischen Rechtsprechung überwacht.
Kohl zum Thatcherismus:
Ich bin kein Anhänger der Marktwirtschaft, sondern der Sozialen Marktwirtschaft! Ich glaube nicht an jenes Stück Vorstellung von Liberalismus – ich will jetzt nicht das Wort Manchester-Liberalismus sagen –, daß der Reichtum einer ganzen Gruppe automatisch übergreift und immer weiter übergreift und dadurch die Schwachen hochzieht.
Sein Lebensweg sei typisch für viele Kanzler der Bundesrepublik: Abstammung aus einfachen familiären Verhältnissen, Parteikarriere. Als Kind und Jugendlicher sei Kohl laut gewesen und habe auch vor Prügeleien nicht zurückgeschreckt. So werde er sich in der CDU auf vielen Parteiebenen durchsetzen (Rheinland-Pfalz, das unter ihm modernisiert wird, schließlich im Bund). Und das alles liest sich wie ein Polit-Thriller, wobei ich seinen Parteiaufstieg bzw. die Ränke um die Koalition mit der FDP nicht nachzeichnen möchte. Auf jeden Fall riskiert er bei der Durchsetzung des politischen Willens, aber auch seiner Machtposition auch Freundschaften.

Ein Thriller der Sonderklasse ist der Zusammenbruch der DDR. Ausgangspunkt für Kohls Politik dürfte sein Treffen mit Gorbatschow im Juni 1989 gewesen sein (Ungarn baut schon Grenzzäune zu Österreich ab und hat im Februar 1989 beschlossen, ein pluralistisches System einzuführen). Im gemeinsamen Protokoll des Treffens steht zu lesen:
Das Recht aller Völker und Staaten, ihr Schicksal frei zu bestimmen und ihre Beziehungen auf der Grundlage des Völkerrechts souverän zu bestimmen, muß sichergestellt werden.
Das Zeitfenster einer sowjetischen Nichteinmischung ist geöffnet. Dies ist mit ein Grund, warum Kohl Gorbatschow nicht nur umhätschelt, sondern die marode sowjetische Wirtschaft mit Milliardenbeträgen unterstützt. Ein Sturz des in der Sowjetunion nicht unumstrittenen Gorbatschow könnte das Zeitfenster schließen, und in der DDR sind Hunderttausende Sowjetsoldaten stationiert.

Bezüglich Kohls Grundsätzen zu einer Vereinigung schreibt Schwarz:
keine Einheit um den Preis der Neutralität, keine Einheit um den Preis der europäischen Integration und keine Einheit um den Preis der Zugehörigkeit zur NATO
Auf Basis dieser Grundsätze ist Kohl nach dem Fall der Berliner Mauer klar, dass ein Beitritt der Länder der DDR nach Artikel 23 des Grundgesetzes und nicht über eine neue Verfassung gemäß Artikel 146 zu erfolgen habe. Durch ein Beitrittsansuchen wäre auch Gorbatschows Bedingung, dass der Wille "der Deutschen in beiden deutschen Staaten" zu berücksichtigen ist, respektiert. Bezüglich NATO-Mitgliedschaft sichert Kohl zu, dass keine der NATO unterstellten Einheiten auf dem Territorium der ehemaligen DDR stationiert würden.

Auf eine mögliche Vergrößerung Deutschlands reagieren vor allem Frankreich und Großbritannien heftig. Mitterand, zu dem Kohl ein freundschaftliches Verhältnis pflegt, droht mit dem Wiedererstehen der Entente des Ersten Weltkriegs und Krieg, wenn die deutsche Einigung vor einer Einigung Europas stattfinde:
Falls sich die deutsche Vereinigung in einem Europa vollziehen sollte, das letztlich nicht entscheidend weitergekommen sei, dann würden die europäischen Partner, die sich in Zukunft achtzig Millionen Deutschen gegenübersähen, wohl nach einem Gegengewicht suchen. Entweder erfolgt die deutsche Einheit nach der europäischen Einheit, oder Ihr werdet Euch einer Tripelallianz (Frankreich, Großbritannien, Rußland) gegenübersehen, und das wird mit einem Krieg enden. Wenn sich aber die deutsche Einheit nach der von Europa vollzieht, werden wir Euch helfen.
Mitterand und Gorbatschow setzen sich bei einem Treffen in Kiew am 6. Dezember 1989 für eine Stabilisierung der DDR ein, um das Vereinigungsprojekt Kohls zu durchkreuzen. Eine Währungsunion in Europa und die Stärkung der KSZE seien zu fördern, die Grenzen der DDR sollen bestätigt werden.

Margaret Thatcher hat weniger in die Waagschale zu werfen als Mitterand, aber ihr Ausruf beim Straßburger EG-Gipfel am 8. Dezember 1989 ist von einer ihr typischen Prägnanz:
Zweimal haben wir die Deutschen geschlagen! Jetzt sind sie wieder da!
Thatcher und Mitterand setzen sich bei diesem Gipfel mehrfach zusammen und wollen den alliierten Kontrollrat reaktivieren. Doch da spielen die USA unter George H. Bush nicht mit, für den ein vergrößertes Deutschland kein Problem ist.

Am 20. Januar 1990 setzen sich Thatcher und Mitterand wieder zusammen und wollen wegen der offenen Grenzfrage zu Polen die Entente Cordiale wiederbeleben. Doch mittlerweile hat Gorbatschow zu 2+4-Verhandlungen eingelenkt, auf deren Zug nun Thatcher und Mitterand aufspringen (müssen). Mitterand fordert die Einbeziehung Polens in diese Verhandlungen, und eine Zusage der Respektierung der Oder-Neiße-Linie seitens Kohl und Genscher reicht ihm nicht. Nun schwebt ihm auch die Wiedererrichtung der Kleinen Entente zwischen Frankreich und Polen vor.

Auch in dieser Frage läuft sich Mitterand fest. Bush sieht das alles nicht so kritisch und Gorbatschow setzt auf eine Wirtschaftshilfe seitens der USA und Deutschlands. Dem kann Frankreich nichts entgegensetzen.

Die Volkskammerwahl in der DDR am 18. März 1990 setzt einen Schlussstrich. Die DDR wird nach einer Währungs- und Wirtschaftsunion der Bundesrepublik beitreten (Beschluss am 22./23. August 1990). Mitterand ändert seine Politik und forciert nun den Umbau der EG zu einer politischen Union mit einer gemeinsamen Währung. EU und Euro sind auf dem Weg, denn:

Kohl ist seit seiner Jugend Internationalist und Europäer im Sinne eines Richard Coudenhove-Kalergi sowie von einer ewigen Partnerschaft Deutschlands mit Frankreich überzeugt, denn nur so könne der Frieden in Europa gesichert sein. Deutsche Machtpolitik wie im Kaiserreich oder gar im NS-Reich ist ihm zutiefst ein Gräuel. So ist es zu verstehen, dass er in den 1990er Jahren gegen Widerstände in Politik (auch in CDU/CSU), Wirtschaftswissenschaft und Bevölkerung die Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung forciert.

Hintergrund: Mitterand drängt seit Langem auf eine Politisierung der EG und sein Hauptziel sei die Brechung der Stärke der D-Mark durch Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung. Kohls Wunsch, dass es auch eine Verteidigungspartnerschaft geben solle, bei der Frankreich Deutschland unter den Schutz der französischen Atomwaffen stellt, wird von Mitterand abgeschmettert.

Zwar syntaktisch durch eine Frage abgemildert, aber deutlich stellt Schwarz fest,
daß der bislang gleichfalls europäische, in Maßen deutschfreundliche Mitterrand zwischen Oktober 1989 und April 1990 förmlich von der Rolle geraten ist und ziemlich orientierungslos viele Hacken geschlagen hat – Absprung vom deutsch-französischen Tandem, zeitweiliges, zugleich aber perspektivloses Zusammengehen mit Gorbatschow, Aufwertung des moribunden SED-Regimes in der DDR, nicht voll durchdachtes Insistieren auf dem Datum einer Regierungskonferenz, unerwartete Bemühung um Wiederbelebung der Entente cordiale ausgerechnet mit der bisherigen Gegnerin Margaret Thatcher, Traum von einer paneuropäischen Konföderation und schließlich Rückkehr aufs deutsch-französische Tandem, allerdings mit dauerhaft geschwächter Position
Tiefergehend fährt er fort:
Über Mitterrands Außen- und Europapolitik in dieser Umbruchperiode wird auch künftig noch viel gerätselt und gestritten werden. In mancherlei Hinsicht weist sie in diesem Zeitraum vielleicht doch eine gewisse Konsistenz auf. Sein Verhältnis zu Deutschland ist durchgehend von Ambivalenz gekennzeichnet. Das Europäertum dieses opportunistischen Sozialisten ist viel gaullistischer eingefärbt, als er zugeben möchte. Er wünscht eine enge Entente mit Deutschland, wie sie einstmals de Gaulle zu Zeiten der Kanzlerschaft Adenauers betrieben hat, allerdings unter freundschaftlicher Führung Frankreichs, um den Einfluß der USA zu reduzieren. Gaullistisch bei Mitterrand ist auch das Insistieren auf dem überlegenen Status Frankreichs als Kernwaffenmacht, als eine der vier Siegermächte, als Großmacht in Afrika und im Nahen und Mittleren Osten, auch als Führungsmacht Westeuropas gegenüber der Sowjetunion. Das gedankliche Spiel, notfalls mit der Sowjetunion gegen eine unruhige Bundesrepublik zusammenzugehen, ist Mitterrand genauso wenig fremd wie de Gaulle. Nur war dieser noch nicht auf die Idee verfallen, die wirtschaftliche Überlegenheit der Bundesrepublik durch Europäisierung der D-Mark zu reduzieren. Auch de Gaulle hat wie Mitterrand die Wiedervereinigung Deutschlands für das natürliche Geschick des deutschen Volkes gehalten, jedoch irgendwann in einer fernen Zukunft, zu französischen Bedingungen und unter strikter Respektierung der Oder-Neiße-Grenze.
Dass Kohl die Wiedervereinigung durchgezogen hat, interpretiert Schwarz folgendermaßen:
ohne den Rückhalt der USA hätte Kohl seine improvisierte Wiedervereinigungspolitik nicht riskieren und in kürzester Zeit durchziehen können.

Die meisten der großen Wendepunkte während der berühmten 329 Tage zwischen dem 9. November 1989 und dem 3. Oktober 1990 lassen dies erkennen. Es ist kaum vorstellbar, daß der prinzipiell eher vorsichtige, methodisch vorgehende Helmut Kohl die Kühnheit aufgebracht hätte, kurz vor dem Gipfel zwischen Bush und Gorbatschow in Malta sein Zehn-Punkte-Programm mit dem Endziel der staatlichen Einheit vorzulegen, wäre er sich der Zustimmung Bushs nicht sicher gewesen. Gorbatschow seinerseits protestiert zwar sehr verärgert, aber doch nicht mit letzter Entschiedenheit gegen die Einmischung Kohls in die inneren Angelegenheiten der DDR, weil er bei diesem ersten Treffen nach Bushs Amtsantritt die jahrelange Entspannungspolitik mit den USA nicht gefährden will.
Auch Bush haut nun auf den Tisch und lässt Mitterand, Thatcher, zum Teil auch Gorbatschow auflaufen. Am 10. Februar 1990 fliegen Kohl und Genscher nach Moskau.
Kurz bevor Kohl zu den Verhandlungen nach Moskau fliegt, wo ihm Generalsekretär Gorbatschow »grünes Licht« für die Einigung Deutschlands geben wird, erhält er ein Schreiben des Präsidenten Bush, in dem sich dieser ausdrücklich verpflichtet, jedem Verzögerungsmanöver der Sowjetunion unter Berufung auf die Rechte der Vier Mächte entgegenzutreten.

Als Kohl auf dem Flughafen Scheremetjewo eintrifft, überbringt Botschafter Klaus Blech einen Brief Bakers. Gorbatschow und Schewardnadse, so Baker, akzeptierten nun die Wiedervereinigung als »unvermeidlich«. Baker skizziert dann die Erwartungen für die »äußeren Aspekte« der deutschen Einheit und teilt mit, er habe die im State Department ersonnene und mit Genscher schon vorerörterte Formel der »2+4-Gespräche« entriert und auf der Mitgliedschaft Deutschlands in der NATO insistiert.
Kohl und Genscher wissen jedoch auch mittlerweile, dass sowohl die DDR (Arbeitsproduktivität bei 20 Prozent der BRD), aber auch die Sowjetunion wirtschaftlich am Ende sind.
Am 8. Januar 1990 klopft Botschafter Kwizinskij bei Teltschik [Ministerialdirektor im Bundeskanzleramt - Anm. Narrenschiffer] erstmals auf den Busch und bringt gewisse Versorgungsengpässe in der Sowjetunion zur Sprache. Fleisch, Fette, Pflanzenöl und Käse würden gebraucht.
Die Lebensmittellieferungen der nächsten zwei Monate werden mit 220 Mio. DM gestützt und Kohl lässt Gorbatschow zu Beginn des Treffens im Februar zunächst mal recht herzlich danken.
Als sich Kohl am 10. Februar bei Gorbatschow einfindet, um über die Einheit zu verhandeln, läßt er es sich nicht nehmen, ganz zu Beginn der Unterredung auf die Lebensmittelaktion als Zeichen des deutschen goodwill hinzuweisen, worauf sich Gorbatschow erst einmal zu bedanken hat.
Kohl legt nach und verknüpft Wirtschaftshilfe mit der NATO-Frage.
Kohl und Teltschik sind jedoch fest davon überzeugt, daß Gorbatschows wirtschaftlich bedrängte Lage bei seinem Nachgeben in der Frage einer NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands von größter Bedeutung ist.

Offenbar setzt die Führungsrunde um Gorbatschow nunmehr auf das Konzept einer denkbar engen wirtschaftlichen Zusammenarbeit der Sowjetunion mit dem potenten Deutschland, um das ins Schleudern gekommene Experiment der »Perestroika« doch noch zu retten.
Gorbatschow wiederum verknüpft Wirtschaftshilfe mit Zusagen bezüglich des 2+4-Vertrags.
Der »Große Vertrag« und weitere Finanz- und Wirtschaftshilfen bilden eine wesentliche Komponente des Deals zur deutschen Einheit. Spöttisch, wie er sich manchmal auch gerne gibt, hat Kohl das schon Ende Februar beim Gespräch mit Bush in Camp David prognostiziert, als die NATO-Mitgliedschaft Deutschlands zur Diskussion stand. »Was die Sowjets jetzt sagten«, meinte er damals wegwerfend, »gehöre zum Verhandlungspoker: Am Ende werde die Frage nach Bargeld stehen.«14 Und tatsächlich unternimmt Gorbatschow im allerletzten Moment, nur eine Woche vor Unterzeichnung des 2+4-Vertrags in Moskau, höchstpersönlich einen Vorstoß, um weitere Milliarden herauszuhandeln.15 Zwei Tage vor der Vertragsunterzeichnung am 12. September erhöht Kohl in einem langen Telefonat den zinslosen Kredit im Rahmen des Überleitungsvertrags auf insgesamt fünfzehn Milliarden DM.
Valentin Falin, der sowjetische Botschafter in der Bundesrepublik von 1971 bis 1978, formuliert süffisant:
Für 4 ½ Milliarden konnte man alles bekommen. Ich habe gesehen, daß Gorbatschow alles in den Morast führt.
Der Morast ist die 1990 beginnende Auflösung der Sowjetunion (Aufstände in den baltischen Republiken und in Azerbajdschan). Die "Satellitenstaaten" Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, DDR brechen weg. Kohl und Genscher erachten den Verbleib sowjetischer Truppen in der DDR für weitere vier Jahre als kalkulierbares Risiko. Auch um internationalen Gegenwind abzudämmen stimmt schließlich der Bundestag im Dezember 1990 für den Verzicht auf die ehemaligen "Ostprovinzen", sprich: für die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie.

Bereits 1991 überwirft sich Kohl durch die deutsche Nicht-Teilnahme am Golfkrieg mit den USA, auch wenn Militärbasen, Logistik und Geldmittel zur Verfügung gestellt werden. Seine Begründung ist beinahe prophetisch:
Ein Krieg gegen den Irak sei »nicht zu gewinnen. Bei einer militärischen Auseinandersetzung würden zwar die USA – vor allem durch Einsatz ihrer Luftwaffe – die ersten Runden gewinnen. Sollten sie es jedoch unternehmen, den Irak militärisch zu besetzen, würden sie Opfer eines gnadenlosen Kleinkriegs, dessen Ende nicht abzusehen sei. Gegen einen national und religiös gespeisten Widerstand sei nichts auszurichten.«
Die 1990er Jahre sind geprägt durch die Kosten der Wiedervereinigung (wirtschaftlich, human, psychologisch), durch Arbeitslosigkeit und durch einen zerrütteten Staatshaushalt. Auch die Umfragewerte sind beinahe durchgehend kritisch. 1994 schafft Kohl nochmal eine Wiederwahl, 1998 unterliegt er hoffnungslos Gerhard Schröder von der SPD. Unvergesslich sein Streetfight am 10. Mai 1991 in Halle.

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Bild: Peter Kneffel/dpa/lvz (LVZ-Artikel hinter Paywall, aber das Bild mit Quelle ist zugänglich)

International wird es mit dem Putschversuch gegen Gorbatschow nochmal heikel, auch bezüglich der sowjetischen Truppen auf deutschem Gebiet, doch nach Niederschlagung wird Kohl gut Freund mit Boris Jelzin, den er während seiner Amtszeit genauso unterstützt wie zuvor Gorbatschow, vor allem mit Hinblick auf eine stabile Lage in Deutschland.

Heikel ist auch der Jugoslawienkrieg, bei dem sich Kriegsallianzen bilden wie zuvor in den Weltkriegen. Frankreich eher pro-serbisch (zumindest bis zum Genozid von Srebrenica), Österreich, Italien und Ungarn wollen eine rasche Anerkennung von Slowenien und Kroatien. Kohl als Anti-Nationalist ist zögerlich, auch kann er mit dem nationalistischen kroatischen Premier Franjo Tudman nicht. Auch ist er sich dessen bewusst, dass jede Seite im Konflikt Kriegsverbrechen begeht. Die Wende war die Beschießung Dubrovniks im Juni 1991, am 23. Dezember 1991 anerkennt Deutschland Slowenien und Kroatien als unabhängige Staaten, im April 1992 wird Bosnien-Herzegowina anerkannt. Eine Beteiligung deutscher Soldaten im Jugoslawienkrieg lehnt Kohl ab:
»Kein Mensch geht in den Krieg. Dafür brauche man Hunderttausende von Soldaten.« Mit 500000 erfahrenen und gut ausgebildeten Soldaten, so erläutert er seine Position, konnte sich Deutschland 1941 bis 1945 in dieser Region militärisch nicht durchsetzen. Er halte es für ausgeschlossen, »jemals dorthin Soldaten zu schicken, die einen Krieg führen. Nach den ersten 1000 Toten würde die Stimmung in allen Ländern kippen.«
Für die Nachkanzlerzeit sind die Spendenaffäre, der Freitod seiner Frau Hannelore und schließlich sein gesundheitlicher Zusammenbruch im Zentrum neben einer kritischen Würdigung seiner Leistungen.

Wie oben geschrieben, ist es ein faszinierendes Buch, da Schwarz nicht nur gut schreiben kann/konnte, sondern eine Unmenge an Dokumenten (Sitzungs- und Gesprächsprotokolle mit einbegriffen) verwendet hat und präsentiert. Aus einem raschen Durchblättern wurde nichts.


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07.07.2025 um 13:04
Robert Schneider - Schlafes Bruder

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Der Debutroman des Vorarlberger Schriftstellers Robert Schneider aus dem Jahr 1992 war und ist sein erfolgreichster. Die Geschichte spielt zu Beginn des 19. Jahrhunderts in einem Vorarlberger Bergbauerndorf und umfasst mehrere Aussageebenen:


  1. Die Lebensgeschichte des Johannes Elias Alder
  2. Inzucht
  3. Gewalt
  4. Der Untergang des Dorfes


Johannes Elias Alder ist 1803 geboren, sein leiblicher Vater ist vermutlich nicht Seff, der Mann seiner Mutter, sondern der Kurat (Hilfspriester) der Gemeinde. Er ist kein gewöhnliches Kind, sondern entwickelt sich mit übernatürlichen Eigenschaften, die jedoch nicht transzendent (religiös) gestaltet sind, sondern etwas Dämonisches an sich haben. So hört er bei einem Stein am Bach als Fünfjähriger einen lauten Knall in den Ohren, entwickelt in Trance ein feines Gehör, mit dem er selbst weit entfernte Herzschläge hören kann, seine Stimme erhält einen riesigen Umfang von Bass bis Ultraschall (er kann mit Tieren kommunizieren), seine Iris verfärbt sich von Grün zu Gelb und er wird früh zu einem Kindmann pubertieren. Hier Schneiders Beschreibung dieser Metamorphose:
Der kleine Körper fing an, sich zu verändern. Jäh traten die Augäpfel aus ihren Höhlen, ja stülpten sich über die Lider und dehnten sich bis unter die Augenbrauen. Und der Flaum seiner Brauen verklebte sich auf der tränenden Netzhaut. Die Pupillen flossen auseinander und quollen über das gesamte Weiß der Iris. Ihre natürliche Farbe, das melancholische Regengrün verschwand, und es trat ein gleißend ekelhaftes Gelb an ihre Stelle. Der Nacken des Kindes versteifte, und sein Hinterkopf bohrte sich schmerzlich in den harten Schnee. Dann bäumte sich das Rückgrat, der Bauch blähte auf, der Nabel wurde hart wie Horn, und Blut sickerte aus der längst verwachsenen Haut des Nabels. Das Gesicht des Kindes aber bot einen derart entsetzlichen Anblick, als lägen alle je gehörten Wehschreie des Menschen und der Kreatur in ihm eingegraben. Die Kiefer traten hervor, die Lippen verkümmerten auf zwei dünne, blutleere Striche. Nach der Reihe fielen dem Kind die Zähne ein, denn das Zahnfleisch schwand, und es ist unerklärlich, weshalb Elias nicht daran erstickt ist. Dann, ungeheuerlich, wurde ihm das Gliedchen stämmig, und das frühe Sperma rann mit Urin und dem Blut des Nabels in einem dünnen Rinnsal warm die Leistenbeugen hinab. Während des ganzen Geschehens verlor das Kind alle Exkremente des Körpers, vom Schweiß bis zum Kot in ungewöhnlich großen Mengen.
...
Geräusche, Laute, Klänge und Töne taten sich auf, die er bis dahin in dieser Klarheit noch nie gehört hatte. Elias hörte nicht bloß, er sah das Tönen.
...
In Strömen unvorstellbaren Ausmaßes prasselten die Wetter des Klanges und der Geräusche auf die Ohren des Elias nieder. Ein irres Durcheinander von Hunderten von Herzen hub an, ein Splittern von Knochen, ein Singen und Summen vom Blut ungezählter Adern, ein trockenes sprödes Kratzen, wenn sich Lippen schlossen, ein Brechen und Krachen zwischen den Zähnen, ein unglaubliches Getöne vom Schlucken, Gurgeln, Husten, Speuzen, Rotzen und Rülpsen, ein Glucksen von gallertigen Magensäften, ein lautes Platschen von Urin, ein Rauschen von Haupthaar und das noch wildere Rauschen vom Haar der Tierfelle, ein dumpfes Schaben von Textilien auf Menschenhäuten, ein dünnes Singen, wenn Schweißtropfen verdampften, ein Gewetze von Muskeln, ein Geschrei von Blut, wenn Glieder von Tieren und Menschen stämmig wurden. Nicht zu reden vom wahnhaften Chaos der Stimmen und Laute des Menschen und aller Kreatur auf und unter der Erde.
...
Und er sah noch tiefer und noch weiter. Sah das Getier des Meeres, den Gesang von Delphinen, den gigantischen Wehklang sterbender Wale, die Akkorde riesiger Fischschwärme, das Klicken des Planktons, das Zirbeln, wenn Fische ihren Laich absetzen, sah das Hallen von Wasserfluten, das Zerschellen unterirdischen Gebirgs, das gleißende Gellen der Lavaströme, den Gesang der Gezeiten, die Meeresgischt, das Surren der tausend Zentner Wassers, das die Sonne aufsog, das Raunen, Krachen und Bersten gigantischer Wolkenchöre, den Schall des Lichtes ... Was sind Worte! Von einem letzten Klang ist zu berichten, einem Klang von so filigraner Gestalt, daß er doch in all dem Rumor des Universums hätte untergehen müssen. Aber der Klang blieb und ging nicht unter. Er drang her von Eschberg. Es war das weiche Herzschlagen eines ungeborenen Kindes, eines Fötus, eines weiblichen Menschen. Was Elias gehört und geschaut hatte, vergaß er, aber den Klang des ungeborenen Herzens nicht mehr. Denn es war das Herzschlagen jenes Menschen, der ihm seit Ewigkeit vorbestimmt war. Es war das Herz seiner Geliebten. Unglaublich ist es, daß Elias diesen Gewaltakt überlebt hat und unglaublich, daß er nicht irrsinnig geworden ist davon.
...
Nach dem furchtbaren Hörerlebnis traten die Deformationen am Leib des Kindes zurück.
Was bleibt, ist das absolute Gehör und seine Musikalität. Seine Liebe zu Elsbeth, der Cousine, deren Herzschlag er in Trance vernommen hat, wird nicht erfüllt. Er arbeitet am Hof seines Vaters, bringt sich in der Kirche selbst das Orgelspiel bei und beglückt das Kirchenvolk mit seinem Spiel und Gesang, beginnt in der Dorfschule Musik zu lehren. Eine Vision eines Kindes in der Kirche bringt ihm seine grüne Iris zurück (warum eigentlich? ganz motiviert ist die Irisverfärbung nicht):
Unsäglich sehnte es ihn nach der Schönheit, welche aus den geheimnisvollen Kindsaugen strahlte, und er wollte wenigstens die bloßen Füßchen berühren dürfen. Als er aber die Hand ausstreckte, riß der Körper des Kindes auf. Der Mund öffnete sich qualvoll, wollte sprechen und vermochte es nicht. Da mußte Elias sehen, wie der schwarze Flecken an der Schläfe zu glitzern anfing, wie sich um den Flecken ein nasser Hof ausbreitete. Die Wunde hatte zu bluten begonnen. Das Kind quälte sich noch immer, suchte zu sprechen, allein, es gelang ihm nicht. Und als es endlich den Mund wieder geschlossen hatte, drang ihm Blut zwischen den Lippen hervor. Elias streckte die Hand noch einmal nach dem Kind, langsam und mit ungemein zärtlicher Geste. Wieder riß der Kindskörper auf, und wieder suchte sein Mund zu sprechen.

Da ahnte Johannes Elias Alder, daß er das Kind nicht berühren durfte. Dann schwanden ihm plötzlich die Kräfte des Körpers, und ohnmächtig vor Sehnsucht brach er zusammen.

Er blieb zwischen den Bänken liegen, bis ihn am Morgen der Köhler Michel wachrüttelte. Als Elias die Augen öffnete, entglitt dem Michel ein gellender Schrei. Elias hatte die Farbe seiner Pupillen verloren. An die Stelle des grellen Gelbes war ein dunkles Grün gekommen, ein Grün, wie es die Bündten tragen, wenn es aus schwarzverhangenen Himmeln regnet. In Wahrheit jedoch hatte Elias Alder die Farbe seiner Pupillen wiedererlangt.
In der Stadt Feldberg (die reale Stadt Feldkirch ist zu erkennen) gewinnt er einen Orgelimprovisationswettbewerb, dass er ein Stipendium zum Studium erhalten kann, obwohl er keine Noten lesen kann, erfährt er nicht mehr. Denn er beschließt nicht mehr ins Dorf zurückzukehren, sondern setzt sich am Rückweg auf "seinen" Stein und beschließt nach der Lehre eines Wanderpredigers nicht mehr zu schlafen. Sein Cousin und Freund Peter (der Bruder von Elsbeth) bindet ihn an einem Baum fest und Johannes Elias wirft Unmengen an Tollkirschen, Blättern des Stechapfels und psychoaktiven Pilzen ("Narrenpilzen") ein, bis er nach sechs Tagen stirbt. Anders als in der Einleitung, ist nicht die Erschöpfung aus Schlafmangel Todesursache, sondern eine Tollkirschenvergiftung.
Um die Zeit des vormittäglichen Angelusläutens, am 9. September des Jahres 1825, verschied Johannes Elias Alder, unehelicher Sohn des Kuraten Elias Benzer und der Agathe Alder, genannt Seffin. Er starb an Atemlähmung, welche aufgrund des überdosierten Genusses der Tollkirsche eingetreten war.
Eigentlich wäre dies eine Geschichte mit vielen losen Enden. Interpretiert wird sie jedoch bereits über einen sehr geschwätzigen Erzähler, dass es um ein musikalisches Genie gehe, das - wie viele - aufgrund ihres abgeschiedenen, ungebildeten Lebens nie Berühmtheit erlangt habe wie zum Beispiel ein Mozart. Warum jedoch in die Trickkiste des magischen Realismus gegriffen wird? Vielleicht war es dem literarischen Zeitgeist des späten 20. Jahrhunderts geschuldet. Erfolgreich war der Roman und er wurde von Joseph Vilsmaier verfilmt.

Aber zurück zum Text. Eindrücklich wird die Enge eines Vorarlberger Bergbauerndorfs geschildert, deren Menschen durch härteste Arbeit ihr Überleben sichern müssen, was auch zu einer charakterlichen Härte führt. Die Geschichte ist durchsetzt von Brutalitäten.

So wird die Episode des eigentlich "nicht strengen" Lehrers erzählt, in der er ein Schulkind beinahe erschlägt:
Nun war Oskar Alder keineswegs ein strenger Lehrer. Die Rute pfiff selten. Dennoch hatte er einmal ein Lampartersches Kind so grausam zugerichtet, daß es bleibenden Schaden davontrug. Es hatte ihn ohne Arg einen Stierseckel geheißen, worauf er es zu Boden getreten und dort zu einem blutigstummen Häuflein zusammengeschlagen hatte. Hernach lasen die Mitschüler das Haupthaar von den Dielen und verschlossen die Trophäe stolz in einem tönernden Flacon. Wenn immer der Lehrer das Lampartersche jetzt ansah, es antworten sollte, fing es an zu stottern, und das Stottern blieb ihm zeit seines Lebens.
Der erste Brand im Dorf ist von Peter, dem Cousin von Johannes Elias, gelegt worden, um seinen Vater zu rächen, der ihm im Zorn seinen Arm gebrochen und verstümmelt hat. Verdächtigt wird der Holzschnitzer Roman Lamparter, der von einer Gruppe Erwachsener um dem "Vater" von Johannes Elias, Seff Alder, gelyncht wird. Dieser Mord wird wie folgt beschrieben:
Am Morgen des Stephanustages zerbrachen sie ihm mit gewaltigen Stiefeltritten die Tür, donnerten hinauf in den Gaden, ohrfeigten ihn aus den tiefsten Träumen, wollten ihm schon den Holzpfahl ins Gesicht rammen, hätte nicht einer Halt geboten und gerufen, der gottverreckte Hund solle bei lebendigem Leibe verbrennen. Zwei derer, die gekommen waren, schrenzten ihm das Nachtgewand weg, schlugen ihn aus der Bettstatt, rissen ihm ein Ohr ab, während der dritte wie der Teufel den ganzen Zierat des Gadens, das Schnitzwerk und den Hausrat mit Hammerschlägen zertrümmerte. Die Augen des dritten fielen auf eine Blechkanne, und auf der Kanne stand das Wort Leuchtöl geschrieben.

Dann warfen sie ihn nackt die Stiege hinab, doch er fiel glücklich und konnte entwischen. Sie setzten ihm nach, waren schneller, denn sie hatten die Kräfte von Mördern.
...
Dann vernahm er ihre Stimmen dicht vor seinen Augen, ging rückwärts, wandte sich nach allen Seiten, stieß plötzlich gegen einen Baumstrunk, schrie gellend auf; eine rußige Faust schoß aus dem Nebel, und er war gefangen.

Wo er denn heute sein gottverrecktes Sonntagsgewand gelassen habe, lachte es höhnisch. Er wußte nicht, sollte er die Hand gegen den blutstürzenden Kiefer stemmen, oder das Geschlecht verdecken. Ja und ob er denn heute sein Binokel verlegt habe. Er solle ihnen doch noch einmal wie die größte Studiertheit daherreden, vom Bergbauerndasein und dergleichen, solle in den steifen Kragen greifen, weibisch herumstolzieren, wie er solches meistenteils zu tun pflegte. Sie demütigten und quälten ihn mehr als zwei Stunden. Dann banden sie ihn mit Hanfseilen an einen Baumstumpen, sammelten halbverkohltes Holz, schlichteten es um seinen Körper, übergossen ihn mit Petroleum, brüllten vor Genugtuung und zündeten ihn an.
Das Haus des Schnitzers wird vom Bürgermeister zur Plünderung freigegeben.

Aber auch der Cousin Peter Alder, der Johannes Elias ein guter Freund ist, hat seine ganz dunklen Seiten. Als er mit 20 Jahren den Hof erbt, schickt er seine Eltern ins Ausgedinge, und gegenüber dem Vieh lebt er einen abgründigen Sadismus aus.
Peters Leben war wie das seines Freundes vorgezeichnet, und er durfte nicht erwarten, daß sich jemals eine Möglichkeit bieten möchte, der unerträglichen Langeweile des Bauerndaseins zu entkommen. An seinem zwanzigsten Geburtstag wanderte Nuif mit ihm nach Feldberg zu einem Advokaten, dem Sohn Hof, Wald und Bündten zu übertragen. Man wunderte sich damals in Eschberg sehr über Nuif, weshalb er dem Sohn ein so grenzenloses Vertrauen entgegenbringen konnte, erbten doch die Söhne erst beim Tod der Väter. Aber bald mußte auch Nuif einsehen, daß er sich in Peter getäuscht hatte. Zwei Wochen nach Inkrafttretung des Erbkontrakts quartierte Peter die Eltern ins Bubengaden, die Wohnstube durften sie ohne seine Erlaubnis nicht mehr betreten. Seit diesem Mißgeschick sah man den Nuif wieder fromm zur Kirche gehen, und das machte ihn zum noch größeren Gespött im Dorf.

Wie unverhohlen Peters Neigungen zu der Zeit schon waren, zeigte sich an dem, wie er sein Vieh behandelte. Unter dem Vorwand des guten Haushaltens studierte er an mehreren Rindern, wie lange sie ohne Wasser auskommen möchten. Einem Kalb hackte er einmal den Schwanz ab, nur weil es munter gebockt hatte. Einer frisch geferkelten Sau stach er die Augen aus, nachdem sie zwei ihrer Ferkel zu Tode gebissen hatte. Als er sich am offensichtlich Grausamen satt gesehen hatte, sann er auf Methoden und Wege, wie die Kreatur zu quälen sei, ohne daß sie das Zutrauen zum Herrn verlöre. Und war ihm das gelungen, sah er mit offenem Mund und geilen Augen in die Augen des irre gewordenen Tieres.
Psychologisiert wird sein Charakter durch eine schwach ausgeprägte Pubertät und seine Physiognomie.
Peter war kein Mann. Er hatte keinen Bartwuchs, war klein von Gestalt, im Gesicht die Spuren der Blattern, am Körper drahtig. Er hatte krauses Haar, und das unverkennbare Mal war sein verkrüppelter Unterarm. Seine Augen glänzten nußbraun. Es waren schöne Augen, wenn nicht das Licht des Abgründigen in ihnen flackerte.
Auch unterdrückte Sexualität, die zu skurrilen Brutalitäten führt, wird thematisiert. Gemeinsam mit Johannes Elias, dem begnadeten Stimmenimitator, treibt Peter einen "Scherz" mit der Abtreiberin und als Dorfhure verschrieenen Burga, die sich außerhalb mit einen Holzarbeiter befreundet hat, der bei einem Unfall seine Hoden verloren hat. Durch einen Brief locken sie Burga in den Wald, um sich mit ihm zu treffen. Mit der Stimme ihres Gottfrieds wird sie aufgefordert, sich auszuziehen, ihre Haare abzuschneiden und sich im Schlamm zu wälzen, dann würde er sie ehelichen.

Und als Johannes Elias im Wald war, um dem Tod entgegenzugehen, wird er Zeuge einer Bruder-Schwester-Vergewaltigung.

Nach einem zweiten Brand verlassen bis auf 13 Menschen das Dorf, und 1892 brennt es zum dritten Mal. Zwölf von ihnen verbrennen, nur Cosmas Alders, Elsbeths Sohn, überlebt, ist danach jedoch komplett antriebslos und verhungert 1912.

Mehrfach ist in diesem Text die Frage der Theodizee, also des Verhaltens Gottes gegenüber dem Leiden, gestellt, und die Antwort ist niederschmetternd.
Gott ist stärker, denn er liebt alles Unrecht unter der Sonne.



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