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gestern um 15:15Anna Mitgutsch - Die Züchtigung

Die österreichische Autorin Anna Mitgutsch arbeitete als promovierte Literaturwissenschafterin (Germanistik, Anglistik) an Universitäten in Österreich, Großbritannien, Südkorea und den USA, bis sie nach dem Erfolg ihres ersten Romans Die Züchtigung (1985) mit 37 Jahren den Weg als freie Schriftstellerin einschlug.
In diesem Roman arbeitet sich Mitgutsch vermutlich an ihrer eigenen Biographie, an einer Hassliebe zu ihrer gewalttätigen und folternden Mutter ab, welche die feste Ansicht vertritt, dass Kinder nur mit brutalen Schlägen auf einen "rechten" Weg geführt werden können. Tatwerkzeug: Teppichklopfer. Das Leben ist von Armut geprägt, dennoch wird der Schein nach außen gewahrt, die Mutter ist äußerst gepflegt und trägt geschneiderte Kleidung aus bestem Stoff, auch wenn das Geld nur für ein Bad in der Woche reicht, und die ganze Familie badet im selben Wasser einer Badewanne.
Die Mutter Marie stammt aus einer Bauernfamilie im Norden Österreichs nahe der tschechoslowakischen Grenze und heiratet einen Ostfrontheimkehrer aus dem Zweiten Weltkrieg wegen seiner von Liebe triefenden Briefe. Als Personen werden sie sich nicht lieben. Aus der Sicht ihrer Eltern (auch der Vater ist ein brutaler Züchtiger) heiratet sie unter ihrem Stand, Friedl ist ein Häuslersohn (Besitzer eines kleinen Hauses, aber ohne Felder). Arbeit findet er in der Stadt (wird wohl Linz sein) als Straßenbahnschaffner, und er macht keine Karriere, bleibt zeitlebens Schaffner. Zunächst wohnen sie bei einem Bauern in einer schäbigen Wohnung an dessen Hof, dessen Frau demütigt das Ehepaar durch Boshaftigkeiten. Schließlich kaufen sie sich Blockhaus mit 25 Quadratmetern. Im ersten Stock befinden sich zwei Zimmer mit Dachschrägen, die über eine Hühnerleiter zu erklettern sind. Das Geld leiht ihnen ihr Vater und eine ihrer Schwestern. Zum Haus gehört ein Pachtgrund, auf dem sie Hühner halten und Gemüse anbauen können. In diese Verhältnisse kommt die Tochter Vera zur Welt.
Vera wächst in Armut auf, auch wenn der Hunger der Nachkriegsjahre vorbei ist. Seit sie denken kann, erinnert sie sich an die Züchtigungen ihrer Mutter. Keine Zornestaten im Affekt, sondern geplante Folter aus unterschiedlichesten Anlässen, die zu einem strafwürdigen Vergehen erklärt werden (Schmutz auf der Kleidung, aufgeschundenes Knie, Lachen in der Kirche). In der Schule fällt ihr Verhalten auf, sie wird untersucht, die blauen Flecken werden entdeckt, die Mutter wird ermahnt. Das war es. Das Schlagen geht ungehindert weiter. Vom antriebslosen Vater wird Vera auch nicht geschützt.
Über den weiteren Lebensweg Veras nach der Schule erfahren wir nur aus Eingesprengsel. Sie hat verschiedenste Beziehungen, vor allem mit Künstlern, von denen sie sich immer rasch trennt.
Vera reflektiert über die Zeit danach:
Auch Politik wird immer wieder angesprochen, vor allem die Zeit des Nationalsozialismus, über die die Kriegsgeneration der Mutter ein Schweigen gelegt hat.
Mitgutsch greift thematisch für die damalige Zeit Typisches in der österreichischen Literatur auf: Anti-Idylle des bäuerlichen und dörflichen Lebens, Armut, Familiengewalt und Nationalsozialismus. Sie war aber vermutlich die erste, die keine Vaterabrechnung, sondern eine Mutterabrechnung geschrieben hat.

Die österreichische Autorin Anna Mitgutsch arbeitete als promovierte Literaturwissenschafterin (Germanistik, Anglistik) an Universitäten in Österreich, Großbritannien, Südkorea und den USA, bis sie nach dem Erfolg ihres ersten Romans Die Züchtigung (1985) mit 37 Jahren den Weg als freie Schriftstellerin einschlug.
In diesem Roman arbeitet sich Mitgutsch vermutlich an ihrer eigenen Biographie, an einer Hassliebe zu ihrer gewalttätigen und folternden Mutter ab, welche die feste Ansicht vertritt, dass Kinder nur mit brutalen Schlägen auf einen "rechten" Weg geführt werden können. Tatwerkzeug: Teppichklopfer. Das Leben ist von Armut geprägt, dennoch wird der Schein nach außen gewahrt, die Mutter ist äußerst gepflegt und trägt geschneiderte Kleidung aus bestem Stoff, auch wenn das Geld nur für ein Bad in der Woche reicht, und die ganze Familie badet im selben Wasser einer Badewanne.
Die Mutter Marie stammt aus einer Bauernfamilie im Norden Österreichs nahe der tschechoslowakischen Grenze und heiratet einen Ostfrontheimkehrer aus dem Zweiten Weltkrieg wegen seiner von Liebe triefenden Briefe. Als Personen werden sie sich nicht lieben. Aus der Sicht ihrer Eltern (auch der Vater ist ein brutaler Züchtiger) heiratet sie unter ihrem Stand, Friedl ist ein Häuslersohn (Besitzer eines kleinen Hauses, aber ohne Felder). Arbeit findet er in der Stadt (wird wohl Linz sein) als Straßenbahnschaffner, und er macht keine Karriere, bleibt zeitlebens Schaffner. Zunächst wohnen sie bei einem Bauern in einer schäbigen Wohnung an dessen Hof, dessen Frau demütigt das Ehepaar durch Boshaftigkeiten. Schließlich kaufen sie sich Blockhaus mit 25 Quadratmetern. Im ersten Stock befinden sich zwei Zimmer mit Dachschrägen, die über eine Hühnerleiter zu erklettern sind. Das Geld leiht ihnen ihr Vater und eine ihrer Schwestern. Zum Haus gehört ein Pachtgrund, auf dem sie Hühner halten und Gemüse anbauen können. In diese Verhältnisse kommt die Tochter Vera zur Welt.
Vera wächst in Armut auf, auch wenn der Hunger der Nachkriegsjahre vorbei ist. Seit sie denken kann, erinnert sie sich an die Züchtigungen ihrer Mutter. Keine Zornestaten im Affekt, sondern geplante Folter aus unterschiedlichesten Anlässen, die zu einem strafwürdigen Vergehen erklärt werden (Schmutz auf der Kleidung, aufgeschundenes Knie, Lachen in der Kirche). In der Schule fällt ihr Verhalten auf, sie wird untersucht, die blauen Flecken werden entdeckt, die Mutter wird ermahnt. Das war es. Das Schlagen geht ungehindert weiter. Vom antriebslosen Vater wird Vera auch nicht geschützt.
Nach der Kirche musste ich mich nackt ausziehen und wurde mit dem Teppichklopfer geschlagen, bis ich bewegungslos und lautlos auf dem Boden lag, und mein Vater sagte, da siehst du, was du mit deiner Brutalität ausrichtest, erschlagen tust du das Kind noch. Aber als ich geschrien hatte, Papa, Papa, hilf, war er auf dem Sofa gesessen und hatte nicht gewagt, in die Züchtigung einzugreifen.Veras Leistungen in der Schule sind unterschiedlich. In der Volksschule Klassenbeste, sie geht gegen den Willen der Eltern auf das Gymnasium, obwohl sie sich damit abfinden und sogar eine Privatschule sich leisten. Das ist die andere Seite der Eltern: Sie bringen finanzielle Opfer, um der Tochter (sie ist ein Einzelkind) eine Zukunftschance bieten zu können. Die Mutter hofft, dass Vera ihren eigenen Berufstraum wahr werden lässt: Klosterlehrerin. Erst am Ende der Gymnasialzeit fängt Vera sich wieder und legt die Reifeprüfung mit Vorzug ab. Das durch die häusliche Gewalt begründete psychische Auf und Ab zeigt sich auch körperlich. Bis zur Pubertät isst Vera Unmengen und wird immer dicker, ab der Pubertät verweigert sie Essen, bricht es und wird hager. Abgemagert.
Schlagen war ein Ritual, von Ritualen umgeben.
Über den weiteren Lebensweg Veras nach der Schule erfahren wir nur aus Eingesprengsel. Sie hat verschiedenste Beziehungen, vor allem mit Künstlern, von denen sie sich immer rasch trennt.
Später verliebte ich mich in Künstler, feminine Männer, Träumer, denen irgendwann die Träume zerfallen waren und die mich in ihre Träume hineinziehen wollten, sich von mir ihre Träume bestätigen und realisieren lassen wollten, während ich sie durchschaute, verachtete und enttäuscht weglegte.Vera ist alleinerziehende Mutter einer Tochter und will die Tradition gewalttätiger Erziehung defintiv nicht fortsetzen, was ihr postwendend wegen der Verhaltensauffälligkeit ihres Kindes Tadel eines Psychologen einbringt:
Das eine vor allem wollte ich von Anfang an, das Kind vor dieser Erbschaft der Selbstzerstörung bewahren. Den Zwang wollte ich fernhalten, die Angst vor der Strafe, die Demütigung, der Schwächere zu sein, und die Unfähigkeit, sich dagegen aufzulehnen. Sie ersticken das Kind mit Liebe, sagte der Psychologe, Sie können nicht loslassen, Sie hemmen seine Entwicklung. Das ist nicht wahr, wollte ich rufen, aber ich schwieg und nahm alle Schuld auf mich, ich hatte wieder einmal versagt.Die Mutter stirbt relativ jung. Sie hat über Jahre hinweg an Kopfschmerzen gelitten, und das eher scherzhaft gemeinte Bonmot ihres Mannes, dass da wohl ein Tumor in ihrem Hirn sitze, welcher der Grund für ihr Verhalten sei, stellt sich als korrekte Diagnose heraus. Nur ging Marie selten zum Arzt und dieser hat auch keine Ahnung, wie er diagnostizieren sollte. Es sei wohl psychisch. Als Marie verfällt, im Krankenhaus künstlich ernährt wird, Morphium gegen ihre Schmerzen erhält und schließlich stirbt, wird im Krankenhaus die wahre Diagnose gegeben: Ihr gesamter Körper war bereits von Metastasen zerfressen.
Vera reflektiert über die Zeit danach:
Ich trat ihr Erbe an, in den Trauerkleidern, die sie vom Spitalsbett aus für mich bestimmt hatte, mit der Frisur, die sie für richtig befunden hatte, kein Haar hing aus der Frisur. Ich wurde fromm, streng, unnahbar, misstrauisch und ehrgeizig. Ich glänzte in den Seminaren und biss vor Einsamkeit schreiend in die Polster. Mein Vater heiratete übers Jahr und wurde glücklich. Er konnte sich endlich erlauben, seinen Hass auszusprechen, seine zwanzigjährige Demütigung abzugrenzen, sie war ein Abschnitt seiner Vergangenheit geworden. Ich liebte sie und wollte werden wie sie, bis ich ihr Gegenteil wurde und sie hasste.Einblick bekommen wir auch in die Schwestern von Veras Mutter Marie. Rosi heiratet einen Lehrer, der Gedichte schreibt, sie jedoch permanent grün und blau schlägt und sich dabei befriedigt. Sie lässt sich scheiden. Ein Familienskandal. Die Scheidung, nicht die sadistische Perversion ihres Mannes. Angela wird Bäuerin und hat neben ihrer schweren Arbeit sechs Geburten in acht Jahren. Ihr Mann schlägt sie. Heidi heiratet ebenso wie Marie einen Häuslersohn (sogar einen unehelich geborenen). Dieser geht zur Zollwache an der tschechoslowakischen Grenze und sie können sich einen gewissen kleinbürgerlichen Wohlstand leisten. Auch ist er nicht gewalttätig, das Kind ist ein Wunschkind und sie können sich ein Motorrad leisten.
Auch Politik wird immer wieder angesprochen, vor allem die Zeit des Nationalsozialismus, über die die Kriegsgeneration der Mutter ein Schweigen gelegt hat.
Mitgutsch greift thematisch für die damalige Zeit Typisches in der österreichischen Literatur auf: Anti-Idylle des bäuerlichen und dörflichen Lebens, Armut, Familiengewalt und Nationalsozialismus. Sie war aber vermutlich die erste, die keine Vaterabrechnung, sondern eine Mutterabrechnung geschrieben hat.
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gestern um 18:33Vea Kaiser - Makaronissi

2015 erschien der zweite Roman der österreichschen Schriftstellerin Vea Kaiser, in der die ausgebildete Altphilologin die Zeit ab 1945 in einer Mehrgenerationengesichte einer griechischen Familie aus dem fiktiven nordgriechischen Bergdorf Varitsi spiegelt.
Die Kernfigur ist Eleni. Sie ist wild, beißt auch schon mal in einen Arm und heiratet ihren Cousin Lefti (Cousinenehen sind im Innzuchts-Varitsi normal), um mit ihm in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre als Gastarbeiterfrau nach Hildesheim in Deutschland zu ziehen. Varitsi ist wie ganz Griechenland politisch zerrissen. Für Kaiser gibt es nur zwei Seiten, die sich bekämpfen: die Königstreuen, die zuvor Faschisten waren, und die Kommunisten. Leftis Vater ist Kommunist, wird nach der Niederschlagung im Bürgerkrieg aufgegriffen und verschleppt. Er taucht nie wieder auf. Elenis Vater ist Königstreuer, sie selbst wird jedoch zu einer Parolen-Kommunisten (aktiv wird sie nicht tätig), während Lefti Politik verachtet, da sie nur Unglück über die Menschen bringe. Eleni wird nach dem Militärputsch 1967 verhaftet, in ein Gefängnis gebracht, gefoltert (Kaiser erspart uns Details) und nur unter der Bedingung freigelassen, dass sie Lefti heiratet. Ihre Großmutter hat im Hintergrund intrigiert.
Obwohl Eleni und Lefti als Kinder fast unzertrennlich waren, funktioniert ihre Ehe nicht. Sie lieben sich nicht und ihre Charaktere passen nicht zusammen. Eleni ist aufbrausend, durchaus jähzornig und Lefti ist sehr phlegmatisch. So verlieben sich beide in andere. Lefti in seine aus Österreich stammende einige Jahre ältere Deutschlehrerin, die er nach der Scheidung von Eleni ehelicht und mit der er nach St. Pölten zieht, wo sie ein griechisches Restaurant eröffnen, nachdem Lefti keinen Job gefunden hat (die Firma will keinen Griechen, obwohl er Fachmann ist, da bei ihr Türken arbeiten und sie sich einen Zypernkomflikt auf Betriebsgelände sparen will).
Eleni ist in einem Hildesheimer Verein der Exilgriechen aktiv, der gegen die Militärjunta agitiert, und verliebt sich in Otto (Ottmar Müller), einen Hippie-Liedermacher, den sie jedoch fluchtartig nach einer Indienreise (sie ist sauer, weil sie den Sturz der Junta nicht mitverfolgen konnte) verlässt, als er will, dass sie ihr gemeinsames Kind abtreiben lässt. Sie geht zurück nach Varitsi, tischt der Familie auf, dass Lefti der Vater sei, und bringt ein Mädchen zur Welt. Nicht so richtig wissend, was sie tun soll, fliegt sie ohne Kind zu einer Verwandten einer Bekannten nach Chicago, arbeitet in deren Brautmodengeschäft im griechischen Viertel, lässt ihre Tochter Aspasia nachkommen und heiratet einen viel älteren griechischen Restaurant- und Konditoreibesitzer, Milton. Dieser scheint so reich zu sein, dass er auf seiner Heimatinsel Makarionissi im Westen Griechenlands (auch diese Insel ist fiktiv) ein riesiges Hotel errichten lässt (dürfte wohl ein Fünf-Sterne-Ding sein).
Zeitsprung. Aspasias Söhne Iannis und Manolis sind nun Jünglinge um die 16, Iannis liebt es zu kochen und soll das Hotel übernehmen, Manolis ist Athlet und Handwerker, arbeitet in der Schaumstoffzuschneidefabrik und ist als Radikalkommunist in der Gewerkschaft aktiv. Doch als Iannis am Hochzeitstag von seiner Verlobten versetzt wird (Manolis und Eleni haben noch am Tag der Hochzeit auf sie eingewirkt, nicht zu heiraten), packt er wutentbrannt seine Sachen und fährt nach St. Pölten zu Lefti und seiner Frau, wo er als Koch zu arbeiten beginnt.
Iannis ist Experimentalkoch mit einheimischen Kräutern und Insekten. Seine Kreationen werden auf einer Spezialkarte angeboten und ein wegen eines Zugunglücks gestrandeter Lokalkritiker aus Zürich betritt das Restaurant, ist begeistert und lädt ihn nach Zürich ein. Nachdem Leftis Restaurant wegen einer Gasexplosion durch einen Rohrschaden zerstört ist und Lefti mit seiner Frau sich mit den Versicherungsgeldern ein Wohnmobil kaufen und auf Reisen gehen, zieht Iannis nach Zürich und wird Jungstar in einem der angesagtesten Haubenlokale.
Noch zuvor kommt auch Otto auf seiner Tournee nach St. Pölten. Er ist Schlagerstar geworden und in jeder Stadt geht er in ein griechisches Restaurant und fragt, ob sie eine Eleni kennten. In St. Pölten wird er fündig, erkennt Lefti wieder und erfährt, wo Eleni nun lebt. Er steuert seinen Tourbus nach Makarionissi, wo er eine Bucht auf Lebenszeit pachtet und in seinem Tourbus lebt. Das Wiedersehen mit Eleni und das Bekanntwerden mit seiner Tochter ist zunächst nicht friktionsrei, aber alles löst sich in Wohlgefallen auf. Aspasia liebt ihren verrückten Vater, und dieser trinkt und kifft mit seiner großen Liebe Eleni auch noch im hohen Alter.
Am Ende fallen Tragik und Kitsch einander in die Arme. Die Frau von Manolis wird von einem maroden Baukran, den die Baufirma aus Geldmangel während der Finanzkrise nicht mehr abbauen kann, erschlagen. Sie liegt im Koma, die Ärzte wollen die lebenserhaltenden Geräte ausschalten. Manolis verschanzt sich im Krankenhaus. Doch Iannis ist mittlerweile zurück auf die Insel gekommen, da er von dem Unglück gelesen hat, und kann ihn zum "Loslassen" bewegen. Manolis, der auf Bewährung freikommt, wird wunderlich und sucht die ganze Zeit mit einem Metalldetektor seinen verlorenen Ehering.
Doch auch Lefti und seine Frau Trude sowie Iannis' Schweizer Freundin kommen auf die Insel und bei ihrer Ankunft werden sie von allen empfangen. Es findet eine große Vesöhnung der nun alten Leute statt, die sich in ihrer Lebenszeit gegenseitig doch oft sehr verletzt haben.
Der Roman ist lange, fast 500 Seiten, seine Stärken liegen zu Beginn über das verarmte Randlagendorf im Norden Griechenlands an der albanischen Grenze, die Beschreibung der Lebensverhältnisse, der Armut, der Beziehungsgeflechte und der politischen Kluft, die Menschen zu Feinden werden lässt.
Nur mehr schwer nachzuvollziehen ist der zweite Teil. Woher nimmt ein Restaurant- und Konditoreibesitzer das Geld, um ein Fünfsterne-Hotel mit dreihundert Betten aufzuziehen? Das kann sich wohl auch in Chicago nicht abgespart werden. Woher kommt das Geld für den logistischen Aufbau und für die Angestellten, die ja vorhanden sein müssen, bevor die ersten Gäste kommen? Wie wird das Hotel beworben? In welche Reiseveranstalter-Netzwerke wird das Hotel integriert? Dies sind alles weiße Löcher im Roman. Und als während der Finanzkrise etwa 50 Prozent der Inselbewohner arbeitslos sind, stellt sich auch die Frage, warum Eleni die Stellen, es sind ja Saisonstellen, noch immer mit Arbeitskräften aus Albanien besetzt und nicht mit Leuten von der Insel wie zu Beginn.
Auch familienintern erscheint mir Einiges nicht stringent. Die Tochter einer reichen Hotelbesitzerin arbeitet als angestellte Friseuse in einem kleinen Laden auf der Insel und ruiniert sich dabei ihre Gesundheit. Warum? Der Enkelsohn einer reichen Hotelbesitzerin ist Arbeiter (!) in einer Schaumstoffzuschneidefabrik. Warum?
Für einen realistisch gehaltenen Roman mit sehr realen Einsprengseln (Weltkrieg, Bürgerkrieg, Militärdiktatur, Zypernkrieg, Finanzkrise) gleitet das Ende zu sehr ins Märchenhafte. Dass die Alten nun unsterblich auf einer Insel der Seligen (Untertitel) sind, passt nicht. Das ist ein kitschiger Cop-Out über ein Familien- und Freundschaftsnetzwerk, das über alle Widrigkeiten und Zwistigkeiten hinweg miteinander verbunden sein soll. Darüber helfen weder Kaisers Liebe zu Märchen (es werden im Roman sehr viele erzählt) und die Kapitelbenennung "Gesang" sowie die Bezeichnung der Hauptfiguren als Heldinnen und Helden (Mythenbezug) hinweg.
Etwas weniger an Zeitspanne und an Hauptfiguren hätte dem Roman gut getan. Denn eines kann Vea Kaiser exzeptionell: erzählen.

2015 erschien der zweite Roman der österreichschen Schriftstellerin Vea Kaiser, in der die ausgebildete Altphilologin die Zeit ab 1945 in einer Mehrgenerationengesichte einer griechischen Familie aus dem fiktiven nordgriechischen Bergdorf Varitsi spiegelt.
Die Kernfigur ist Eleni. Sie ist wild, beißt auch schon mal in einen Arm und heiratet ihren Cousin Lefti (Cousinenehen sind im Innzuchts-Varitsi normal), um mit ihm in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre als Gastarbeiterfrau nach Hildesheim in Deutschland zu ziehen. Varitsi ist wie ganz Griechenland politisch zerrissen. Für Kaiser gibt es nur zwei Seiten, die sich bekämpfen: die Königstreuen, die zuvor Faschisten waren, und die Kommunisten. Leftis Vater ist Kommunist, wird nach der Niederschlagung im Bürgerkrieg aufgegriffen und verschleppt. Er taucht nie wieder auf. Elenis Vater ist Königstreuer, sie selbst wird jedoch zu einer Parolen-Kommunisten (aktiv wird sie nicht tätig), während Lefti Politik verachtet, da sie nur Unglück über die Menschen bringe. Eleni wird nach dem Militärputsch 1967 verhaftet, in ein Gefängnis gebracht, gefoltert (Kaiser erspart uns Details) und nur unter der Bedingung freigelassen, dass sie Lefti heiratet. Ihre Großmutter hat im Hintergrund intrigiert.
Obwohl Eleni und Lefti als Kinder fast unzertrennlich waren, funktioniert ihre Ehe nicht. Sie lieben sich nicht und ihre Charaktere passen nicht zusammen. Eleni ist aufbrausend, durchaus jähzornig und Lefti ist sehr phlegmatisch. So verlieben sich beide in andere. Lefti in seine aus Österreich stammende einige Jahre ältere Deutschlehrerin, die er nach der Scheidung von Eleni ehelicht und mit der er nach St. Pölten zieht, wo sie ein griechisches Restaurant eröffnen, nachdem Lefti keinen Job gefunden hat (die Firma will keinen Griechen, obwohl er Fachmann ist, da bei ihr Türken arbeiten und sie sich einen Zypernkomflikt auf Betriebsgelände sparen will).
Eleni ist in einem Hildesheimer Verein der Exilgriechen aktiv, der gegen die Militärjunta agitiert, und verliebt sich in Otto (Ottmar Müller), einen Hippie-Liedermacher, den sie jedoch fluchtartig nach einer Indienreise (sie ist sauer, weil sie den Sturz der Junta nicht mitverfolgen konnte) verlässt, als er will, dass sie ihr gemeinsames Kind abtreiben lässt. Sie geht zurück nach Varitsi, tischt der Familie auf, dass Lefti der Vater sei, und bringt ein Mädchen zur Welt. Nicht so richtig wissend, was sie tun soll, fliegt sie ohne Kind zu einer Verwandten einer Bekannten nach Chicago, arbeitet in deren Brautmodengeschäft im griechischen Viertel, lässt ihre Tochter Aspasia nachkommen und heiratet einen viel älteren griechischen Restaurant- und Konditoreibesitzer, Milton. Dieser scheint so reich zu sein, dass er auf seiner Heimatinsel Makarionissi im Westen Griechenlands (auch diese Insel ist fiktiv) ein riesiges Hotel errichten lässt (dürfte wohl ein Fünf-Sterne-Ding sein).
achtzigtausend Quadratmeter, zweihundertsiebenundachtzig Zimmer, drei Restaurants, ein großer Süßwasserpool, zwei Kinderbecken, Haupthaus, einige Bungalows und Vierundzwanzigstunden-Roomservice wie in amerikanischen Nobelressorts ... Die Balkone, die das Hotel sowohl zum Meer als auch zum Binnenland hin umgaben, waren in leuchtendem Weiß gestrichen. Die Oleanderhecken, Palmen, Bananenstauden, die die Einfahrt säumten und die große Sonnenterrasse von der Inselseite abschirmten, mussten zwar noch wachsen, doch ihr sattes Grün ließ schon jetzt erahnen, was Milton mit dem »paradiesischen Garten« meinte, den er zwischen den Swimmingpools und der mit Marmor gepflasterten Promenade hinunter zum Strand anlegen wollte.Nachdem ihr Mann Milton im Schlaf gestorben ist, führt Eleni das Hotel allein weiter. Die ortsansässigen Arbeitskräfte sind längst durch solche aus Albanien ersetzt worden. Angeblich, weil alle sich im Tourismusbereich, den das Hotel angekurbelt hat, selbständig gemacht hätten. Dass vielleicht ihre Löhne niedriger sein konnten, davon schreibt Kaiser nichts. Auch hält sie Yogakurse für die Hotelgäste. Elenis Tochter Aspasia wird als Teen von einem Ingenieur schwanger und gebiert Zwillinge. Zwei Söhne. Sie werden alleine aufgezogen.
Zeitsprung. Aspasias Söhne Iannis und Manolis sind nun Jünglinge um die 16, Iannis liebt es zu kochen und soll das Hotel übernehmen, Manolis ist Athlet und Handwerker, arbeitet in der Schaumstoffzuschneidefabrik und ist als Radikalkommunist in der Gewerkschaft aktiv. Doch als Iannis am Hochzeitstag von seiner Verlobten versetzt wird (Manolis und Eleni haben noch am Tag der Hochzeit auf sie eingewirkt, nicht zu heiraten), packt er wutentbrannt seine Sachen und fährt nach St. Pölten zu Lefti und seiner Frau, wo er als Koch zu arbeiten beginnt.
Iannis ist Experimentalkoch mit einheimischen Kräutern und Insekten. Seine Kreationen werden auf einer Spezialkarte angeboten und ein wegen eines Zugunglücks gestrandeter Lokalkritiker aus Zürich betritt das Restaurant, ist begeistert und lädt ihn nach Zürich ein. Nachdem Leftis Restaurant wegen einer Gasexplosion durch einen Rohrschaden zerstört ist und Lefti mit seiner Frau sich mit den Versicherungsgeldern ein Wohnmobil kaufen und auf Reisen gehen, zieht Iannis nach Zürich und wird Jungstar in einem der angesagtesten Haubenlokale.
Noch zuvor kommt auch Otto auf seiner Tournee nach St. Pölten. Er ist Schlagerstar geworden und in jeder Stadt geht er in ein griechisches Restaurant und fragt, ob sie eine Eleni kennten. In St. Pölten wird er fündig, erkennt Lefti wieder und erfährt, wo Eleni nun lebt. Er steuert seinen Tourbus nach Makarionissi, wo er eine Bucht auf Lebenszeit pachtet und in seinem Tourbus lebt. Das Wiedersehen mit Eleni und das Bekanntwerden mit seiner Tochter ist zunächst nicht friktionsrei, aber alles löst sich in Wohlgefallen auf. Aspasia liebt ihren verrückten Vater, und dieser trinkt und kifft mit seiner großen Liebe Eleni auch noch im hohen Alter.
Am Ende fallen Tragik und Kitsch einander in die Arme. Die Frau von Manolis wird von einem maroden Baukran, den die Baufirma aus Geldmangel während der Finanzkrise nicht mehr abbauen kann, erschlagen. Sie liegt im Koma, die Ärzte wollen die lebenserhaltenden Geräte ausschalten. Manolis verschanzt sich im Krankenhaus. Doch Iannis ist mittlerweile zurück auf die Insel gekommen, da er von dem Unglück gelesen hat, und kann ihn zum "Loslassen" bewegen. Manolis, der auf Bewährung freikommt, wird wunderlich und sucht die ganze Zeit mit einem Metalldetektor seinen verlorenen Ehering.
Doch auch Lefti und seine Frau Trude sowie Iannis' Schweizer Freundin kommen auf die Insel und bei ihrer Ankunft werden sie von allen empfangen. Es findet eine große Vesöhnung der nun alten Leute statt, die sich in ihrer Lebenszeit gegenseitig doch oft sehr verletzt haben.
Der Roman ist lange, fast 500 Seiten, seine Stärken liegen zu Beginn über das verarmte Randlagendorf im Norden Griechenlands an der albanischen Grenze, die Beschreibung der Lebensverhältnisse, der Armut, der Beziehungsgeflechte und der politischen Kluft, die Menschen zu Feinden werden lässt.
Nur mehr schwer nachzuvollziehen ist der zweite Teil. Woher nimmt ein Restaurant- und Konditoreibesitzer das Geld, um ein Fünfsterne-Hotel mit dreihundert Betten aufzuziehen? Das kann sich wohl auch in Chicago nicht abgespart werden. Woher kommt das Geld für den logistischen Aufbau und für die Angestellten, die ja vorhanden sein müssen, bevor die ersten Gäste kommen? Wie wird das Hotel beworben? In welche Reiseveranstalter-Netzwerke wird das Hotel integriert? Dies sind alles weiße Löcher im Roman. Und als während der Finanzkrise etwa 50 Prozent der Inselbewohner arbeitslos sind, stellt sich auch die Frage, warum Eleni die Stellen, es sind ja Saisonstellen, noch immer mit Arbeitskräften aus Albanien besetzt und nicht mit Leuten von der Insel wie zu Beginn.
Auch familienintern erscheint mir Einiges nicht stringent. Die Tochter einer reichen Hotelbesitzerin arbeitet als angestellte Friseuse in einem kleinen Laden auf der Insel und ruiniert sich dabei ihre Gesundheit. Warum? Der Enkelsohn einer reichen Hotelbesitzerin ist Arbeiter (!) in einer Schaumstoffzuschneidefabrik. Warum?
Für einen realistisch gehaltenen Roman mit sehr realen Einsprengseln (Weltkrieg, Bürgerkrieg, Militärdiktatur, Zypernkrieg, Finanzkrise) gleitet das Ende zu sehr ins Märchenhafte. Dass die Alten nun unsterblich auf einer Insel der Seligen (Untertitel) sind, passt nicht. Das ist ein kitschiger Cop-Out über ein Familien- und Freundschaftsnetzwerk, das über alle Widrigkeiten und Zwistigkeiten hinweg miteinander verbunden sein soll. Darüber helfen weder Kaisers Liebe zu Märchen (es werden im Roman sehr viele erzählt) und die Kapitelbenennung "Gesang" sowie die Bezeichnung der Hauptfiguren als Heldinnen und Helden (Mythenbezug) hinweg.
Etwas weniger an Zeitspanne und an Hauptfiguren hätte dem Roman gut getan. Denn eines kann Vea Kaiser exzeptionell: erzählen.
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