Einsamkeit

Ich lebe in der "Idiotie des Landlebens" (Karl Marx) - hier ist man Mitglied in zahlreichen Vereinen, frei nach Wilhelm Busch:

Wirklich, er war unentbehrlich!
Überall, wo was geschah
Zu dem Wohle der Gemeinde,
Er war tätig, er war da.

Schützenfest, Kasinobälle,
Pferderennen, Preisgericht,
Liedertafel, Spritzenprobe,
Ohne ihn, da ging es nicht.

Ohne ihn war nichts zu machen,
Keine Stunde hatt' er frei.
Gestern, als sie ihn begruben,
War er richtig auch dabei.

Landjugend, Feuerwehr, Schützenverein, Chöre, Tanzgruppen, Heimatverein, Kegler, Angler und allerlei Gesportel, Geflügel, Rassekaninchen, Hunde und sonstiges Gezücht, Reiter, Biker, Oldtimerschrauber...
und alle machen sie mindestens einmal im Jahr Party. Wer will, kann sich auf Dorffesten, Scheunenfeten, Osterfeuern, Weihnachtsfeiern das ganze Jahr über Partner erst schöntrinken und dann im Maisfeld vernaschen. Okay, ausser Weihnachten.
Hier oben in Nordfriesland hätten wir dann noch als lokale Spezialitäten Bosseln, Ringreiten, Biikebrennen, Ausspielen, und, wer's dänisch mag, St. Hans-Tag.

Meine Schwiegermutter hat mir neulich am Telefon "gestanden", dass sie in einer ziemlich depressiven Phase ist. Ihr Mann ist vor ein paar Jahren verstorben und vor Kurzem auch noch ihre Katze. Jetzt schlägt ihr die Einsamkeit ziemlich aufs Gemüt.

Wir haben sie am nächsten Tag mit unserem Hund besucht, den sie dann mal ausgiebig knuddeln konnte.
Außerdem nehmen wir sie im Sommer mit nach Bayern.
Und nächstes Jahr fliegen wir mit ihr nach Spanien, sie hat sich soo gefreut, als ich das vorgeschlagen habe.

Kurzzeitig hab ich mich gefragt, on das wirklich die richtige Entscheidung war (eigentlich wollten Mann und ich Romantik-Urlaub zu zweit machen), aber jedes Mal, wenn mir Schwiegermutter erzählt, wie sie begeistert Reiseführer wälzt und YouTube-Videos über Spanien guckt, merke ich, es war die richtige Entscheidung. :)

@RachelCreedII.

Wenn man sich bereit erklärt, einsame Menschen aus ihrer Einsamkeit heraus zu holen, dann ist das einerseits ausgesprochen löblich, kann aber auch zu erheblichen Einschränkungen im eigenen Leben führen. Das ist eine ziemliche Gratwanderung, die man da auf sich nimmt.

Als ich noch, vor Corona, in einer offenen Einrichtung für Menschen mit psychischen Problemen arbeitete, baten mich meine KundInnen sehr oft um meine Telefonnummer, um mich in depressiven Phasen, bei Einsamkeit oder sonstigen Störungen der individuellen Befindlichkeit zu kontaktieren. Ich habe mir dann eigens dafür ein Mobiltelefon angeschafft, dessen Nummer ich weiter gab. So wusste ich: Wenn das Ding klingelt, dann gibt's ein Problem. Oft und gern zu nachtschlafener Zeit. Ich habe dann immer entschieden, ob ich dran gehe oder nicht. Es ist nicht unbedingt schön, morgens um drei von jemandem angerufen zu werden, der/die sich einfach nur ausheulen will.

Bundeskanzleri schrieb:Jeder hat ja seine Kreise und keinen Bedarf an neuen Freunden.

Besonders, wenn diese Kreise aus Ehe und Kindern bestehen.
Man hat bei manchen Freunden den Eindruck, das Freundschaft in späteren Jahren nur ein Lückenbüßer für die Zeit, bis man endlich "den" Traumpartner gefunden hätte. Bis zu einem gewissen Grad verständlich, denn Familienleben ist Zeit aufwändig.

Doors schrieb:Ich lebe in der "Idiotie des Landlebens" (Karl Marx) - hier ist man Mitglied in zahlreichen Vereinen, frei nach Wilhelm Busch:

Wirklich, er war unentbehrlich!
Überall, wo was geschah
Zu dem Wohle der Gemeinde,
Er war tätig, er war da.

Schützenfest, Kasinobälle,
Pferderennen, Preisgericht,
Liedertafel, Spritzenprobe,
Ohne ihn, da ging es nicht.

Ohne ihn war nichts zu machen,
Keine Stunde hatt' er frei.
Gestern, als sie ihn begruben,
War er richtig auch dabei.

Landjugend, Feuerwehr, Schützenverein, Chöre, Tanzgruppen, Heimatverein, Kegler, Angler und allerlei Gesportel, Geflügel, Rassekaninchen, Hunde und sonstiges Gezücht, Reiter, Biker, Oldtimerschrauber...
und alle machen sie mindestens einmal im Jahr Party. Wer will, kann sich auf Dorffesten, Scheunenfeten, Osterfeuern, Weihnachtsfeiern das ganze Jahr über Partner erst schöntrinken und dann im Maisfeld vernaschen. Okay, ausser Weihnachten.

Omg.
Das hört sich so schön an und ich Teile diese Lebensart mit dir.
Mehr geht einfach nicht.
Höchster Lebensstandard erreicht.

off-peak schrieb:wenn diese Kreise aus Ehe und Kindern bestehen.

Familienleben und wenig Zeit ist eine Sache, das kann ich nachvollziehen. Das Leben ändert sich stark mit Kindern, und damit häufig die Vorlieben, die Zeit, die Bekannten.

Was mich aber tatsächlich oft nervt, dass es manche Menschen nur noch zu zweit gibt. Es ist dann selbstverständlich, dass der Partner mitgemeint ist, dass er mitkommt und die traute Zweisamkeit mit der Freundin ist dann perdu.

Und wenn das nicht ist, wird eben tatsächlich auch die freie Zeit für den Partner genutzt. Einerseits verständlich, aber dieses "da kann ich nicht, da ist der Erwin zuhause" finde ich eher bescheiden :D

Bundeskanzleri schrieb:aber dieses "da kann ich nicht, da ist der Erwin zuhause" finde ich eher bescheiden :D

Ich auch. Es interlässt den Eindruck, man ist nicht mehr und war vermutlich auch nie wichtig genug für diesen Menschen.
So, als ob für die meisten außer "Liebe" (sprich: Sex 6 Familie) keine anderen Beziehungen gebe.

Freundschaften gibt es nicht, höchstens noch Bekanntschaften mit anderen Paaren. die auch meistens nur solange halten, solange die Beziehung des Paares hält.

off-peak schrieb:Freundschaften gibt es nicht, höchstens noch Bekanntschaften mit anderen Paaren.

Dabei ist es aber schwierig, dass auch die jeweiligen Partner zusammen passen.
Bei Familien müssen die Kinder was miteinander anfangen können.

Also bleibt nicht wirklich Raum für eine Zweierfreundschaft.

Na ja, man kann natürlich auch Kontakte zu anderen Menschen halten, ohne jedesmal die gesamte Sippe einzubeziehen.
Alles eine Frage der Vereinbarung mit dem eigenen/fremden Anhang.

Doors schrieb: Wenn man sich bereit erklärt, einsame Menschen aus ihrer Einsamkeit heraus zu holen, dann ist das einerseits ausgesprochen löblich, kann aber auch zu erheblichen Einschränkungen im eigenen Leben führen. Das ist eine ziemliche Gratwanderung, die man da auf sich nimmt.

Einige einsame Menschen haben leider einen totalen Tunnelblick, wenn es um sie geht, d.h. sie haben dann ein Thema und hauen das durch und verderben den anderen irgendwie den Spaß. Ich finde, dass zu echten Freundschaften eine win:win Komponente gehört. Früher dachte ich, es gehört zu meinen moralischen Pflichten, mich auch um Leute zu kümmern, die sehr einsam sind - aber es ist auch mega-anstrengend (finde ich).

Doors schrieb:Es ist nicht unbedingt schön, morgens um drei von jemandem angerufen zu werden, der/die sich einfach nur ausheulen will.

Wie oben schon geschrieben - oft haben die Leute einen Tunnelblick bzw. leben in ihrer eigenen Blase. Ich hatte eine Bekannte, die konnte wirklich zwei-drei Stunden am Telefon über ihr Leben berichten, ohne sich ein einziges Mal nach uns zu erkundigen. Da waren wir mehr eine "Problemabladestelle".

Doors schrieb:Oft und gern zu nachtschlafener Zeit. Ich habe dann immer entschieden, ob ich dran gehe oder nicht. Es ist nicht unbedingt schön, morgens um drei von jemandem angerufen zu werden, der/die sich einfach nur ausheulen will.

Das kenne ich auch, ich habe ja im Internat gelebt und war für einige oft der Ansprechpartner für Beziehungsprobleme, Probleme mit Familie oder in der Ausbildung etc... Sie wussten das ich immer ein offenes Ohr hatte und kamen zu unmöglichen Zeiten. Es hat mich natürlich geehrt, da ich diese Anerkennung vorher nie hatte, aber mit der Zeit uferte es aus sodass ich "Öffnungszeiten" gemacht habe. Mit der Zeit merkte ich aber das mich das ausgesaugt hatte und ich mir dann professionell Hilfe holen musste... Das war für mich ein Zeichen, bis hier und nicht mehr weiter ...

MissMary schrieb:aber es ist auch mega-anstrengend (finde ich).

Nicht nur das, sondern man benötigt dazu auch fachliches Wissen. Wer kein Therapeut oder Psychologe ist, kann dann sogar mehr Schaden anrichten als helfen.

MissMary schrieb:Da waren wir mehr eine "Problemabladestelle".

Und dieses einseitige Verhalten macht es auch unmöglich, eine Freundschaft aufzubauen bzw zu halten. Ein Freund ist kein Therapeut.

Wenn ich ehrlich bin, hab ich oft das Gefühl, ich brauch die Einsamkeit, um meine Batterien aufzuladen.

Okay, nun sagen einige sicher, ich verwechsel das mit Allein sein können. Aber ich finde, es ist das Gleiche.

Einsamkeit ist für mich, wenn ich wissentlich allein bin, wenn ich weiß, das niemand da ist. Und dieses Gefühl bringt mich zu mir selber.

Keine Ahnung, war das zu kompliziert?

Miss_Hippie schrieb:wenn ich wissentlich allein bin, wenn ich weiß, das niemand da ist. U

Aber hier hast du die freie Wahl, ob du alleine sein willst oder nicht.

Ich persönlich denke, Einsamkeit ist eher nicht gewählt, kann mich aber auch irren.

Ansonsten verstehe ich dich, ich kann auch nicht dauernd Leute um mich haben.

Miss_Hippie schrieb:Wenn ich ehrlich bin, hab ich oft das Gefühl, ich brauch die Einsamkeit, um meine Batterien aufzuladen.

Ich denke, das hat auch etwas mit dem Job zu tun - ich unterrichte, ich erhole mich auch am besten alleine, wenn ich weder zuhören noch reden muss - weil ich das den gesamten Tag über mache.

Es ist aber etwas anderes als die Einsamkeit, die dich auffrisst. Beispiel: Ich war an einer Uni mit sehr vielen Wochenendheimfahrern (Profs und Studenten), die meisten reisten erst Montagmorgen wieder an - in vielen Semestern leerte sich das Unigebäude am Donnerstag gegen 16 Uhr, die Leute fuhren heim. Mein gesamtes Umfeld rekrutierte sich nur aus Studenten, d.h. Freitag, Samstag und Sonntag war ich unfreiwillig allein allein. Es wurde besser, als ich Samstagabend begann zu arbeiten. Hatte ich das Wochenende aber frei, drückte ich mich schon am Donnerstag ewig an der Uni herum, weil ich nicht in mein kleines Zimmer wollte. Ich wusste schon, dass ich Freitag, Samstag und Sonntag komplett alleine wäre. Ich habe mich immer gezwungen, mir einen fixen Plan zu machen und den einzuhalten, meist gelang es mir auch tagsüber, mich z.B. in ein Lehrbuch oder eine Hausarbeit zu vertiefen, aber abends fehlte mir einfach jemand. Ich hatte nicht einmal ein Radio oder Fernseher (damals konnte man die GEZ Gebühr sparen).

Und ich glaube, unter dieser Art Einsamkeit leiden viele Leute.

MissMary schrieb:weil ich nicht in mein kleines Zimmer wollte.

Es hatte aber möglicherweise auch die Kleinheit das Zimmers damit zu tun. Oder auch die Tatsache, dass man oft erst im Studium mal alleine, getrennt von der Familie ist, und dann quasi unter Entzugserscheinungen leidet.

Als ich meine erste Arbeit Meilen von zu Hause weg hatte, und nur ein Zimmer bewohnte, bin ich auch jedes WE sofort wieder nach Hause gefahren. Egal, wie weit, egal, wie kurz (damals ging meine Arbeit noch bis Samstags 12 Uhr und begann am Montag um 8 Uhr). Ich hatte nur gut und gerne 24 h zu Hause, brauchte das aber.

Erst mit der Entwöhnung bzw größer werdenden Wohnungen verschwand das Bedürfnis. Da fand ich dann in einer größeren Wohnung auch genug zu tun, bzw hatte dann neue Freunde.

Miss_Hippie schrieb:Wenn ich ehrlich bin, hab ich oft das Gefühl, ich brauch die Einsamkeit, um meine Batterien aufzuladen.

Das bedeutet einfach nur, dass du ein introvertierter Mensch bist.
Kurz gesagt, benötigen introvertierte Menschen das Alleinsein, um neue Kraft zu schöpfen und ihre Batterien wieder aufzuladen, während extravertierte Menschen - es heißt tatsächlich extravertiert, das umgangssprachlich verwendete extrOvertiert ist schlicht falsch - ihre inneren Batterien aufladen, indem sie sich unter Menschen begeben und nur schlecht allein sein können.
Es gibt allerdings auch Mischformen aus beidem.

Ein interessanter Artikel zu diesem Thema gibt es hier:

https://www.malteser.de/dabei/information-tipps/wie-sich-einsamkeit-auf-koerper-und-seele-auswirkt.html

Es geht um die körperliche Auswirkungen von Einsamkeit. Einsamkeit wird hier verstanden als soziale Isolation, also fehlende soziale Gefüge, in die man eingebunden ist.

Menschen, die sozial isoliert sind, achten auch deutlich weniger auf sich.
Es scheint so zu sein, dass wir auf andere Menschen angewiesen sind, um Verantwortung für für uns selbst zu übernehmen.

Bundeskanzleri schrieb am 02.02.2023:Jeder hat ja seine Kreise und keinen Bedarf an neuen Freunden.

Genau diese Ansicht ist das Problem.