@kaktuss Du stellst auf jeden Fall schon mal richtige Fragen. Mein Beitrag wird hier etwas länger sein, also hoffe ich, du nimmst dir die Zeit dir alles sorgfältig durchzulesen und zu verstehen. Bevor wir hier zur Antwort kommen können, müssen wir erst ein paar Dinge klarstellen, die gerne (was Kant auch selbst mitzuverantworten hatte) falsch verstanden werden:
1.) Kant kommt nicht einfach willkürlich zu dem "Ding an sich". Das "Ding an sich" ist eine absolut logische Folge seiner Grundvoraussetzungen seines Systems. Ob die Grundvoraussetzungen sinnvoll sind, darüber kann man tatsächlich streiten (dazu später mehr). Das Ding an sich ist aber so notwendig wie das Kausalgesetz innerhalb des Systems. Ansonsten entstehen die bekannten Kant'schen Antinomien, der Widerstreit transzendentaler Ideen, mit den Philosophen schon Jahrhunderte mit zu kämpfen haben. Jede Erkenntnistheorie, die auf sich was hält und
kritisch-reflexiv funktionieren will, muss diesen Widerstreit in Einklang bringen. D.h. sie muss mit den Naturtatsachen im Einklang stehen.
2.) Das Ding an sich ist nicht unbedingt kontraproduktiv zur Aufklärung. Im Gegenteil kann man das Ding an sich auch als Grenzbegriff betrachten, der eben aufzeigt: Nicht alle unsere Intuitionen sind notwendig wahr. Wie oft erleben wir Menschen, die idealistische Systeme gebrauchen und in der Realität zwanghaft anzuwenden versuchen, obwohl die Realität dem offenbar einen Strich durch die Rechnung macht? Sog. "intellektuelle Luftschlösser". Auf den ersten Blick einleuchtende Apercus, alles schön in der Theorie, aber in der Praxis fatal und mit schlimmen Konsequenzen verbunden, weil man seine eigenen Begriffskünsteleien (sog. "leere Begriffe") für Wahrheiten hält, denen aber nichts sinnliches, greifbares korrespondiert. Und dann wollen leider sich die wenigsten genau das eingestehen, und dann aus diesem Grund diese Fehler gerne schön unter den Teppich kehren und die vermeintlichen minimalsten positiven Resultate in den allerhöchsten Tönen loben. Ich enthalte mich hier praktischer Beispiele, denn ich bin mir sicher, jeder wird zu genüge solche finden und benennen können im Alltag. "
Begriffe ohne Anschauungen sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind"
kaktuss schrieb am 30.04.2025:Will Kant vielleicht aufklären in dem Sinne, dass wir die Realität nicht erkennen können und kein Dogma an ihre Stelle stellen sollen ?
Jein. Zunächst: Kant lehnt eine Dialektik, d.h. eine Scheinlogik, vollkommen ab und damit auch Systeme, die nur aus leeren Begriffen bestehen, in Relation zur Erfahrung gebraucht werden. Die Logik ist zudem
kein Organon, sondern ein Kanon. D.h. sogenannte "intellektuelle Anschauung" (im Vergleich zu sinnlicher Anschauung) existiert (nach Kant) nicht, mit Ausnahme einer nicht-empirischen Anschauung (dies aber selbst
keine intellektuelle Anschauung ist) in der Mathematik, da hier uns Formen zu einer einer solchen Anschauung
gegeben sind (nämlich die reinen Anschauungsformen a priori: Raum und Zeit, innerhalb dieser wir die Begriffe in der Mathematik konstruieren). Wir können unser Wissen mittels Logik allein nicht "erweitern", es braucht immer noch ein synthetisches Element (d.h. Erfahrung bzw. Sinnlichkeit) oder es muss vor aller Erfahrung gegeben sein, d.h. muss für diese bedingend sein (sog. Urteile a priori) und kann notwendigerweise auch nur
gleichzeitig mit der Erfahrung auftreten ("reine" Kategorien benötigen die apriorischen Anschauungsformen von Raum und Zeit um von ihnen Gebrauch machen zu dürfen).
Trotzdem gibt es viele Menschen, die es nicht davon abhält es trotzdem zu versuchen. Aber wurde denn tatsächlich Wissen erweitert mittels Logik allein? Mitnichten. Es ist uns gerade eben nicht gelungen alleine nur aus allgemeiner Logik unser Wissen über die Realität zu erweitern, denn die Logik ist ein Regelwerk zur Überprüfung der formalen Richtigkeit des Denkens innerhalb eines gegebenen Kalküls. Es bestätigt also Kants Beobachtung und es ist nach wie vor alles gleich geblieben, wenn man die Sache ehrlich betrachtet und nicht mit Dialektik verschmutzt (so wie man das gerne mit der Verwischung von allgemeiner Logik und transzendentaler Logik gerne tut).
Diejenigen, die gerne z.B. die M-Theorie oder andere rein mathematisch theoretische (mit fehlender empirischer Grundlage) Modelle verteidigen, vergessen dann hierbei zumindest, dass diese nicht unser "Wissen" durch Logik allein erweitern, sondern nach wie vor auf den empirischen Erkenntnissen bereits bestehender Modelle aufbauen, erläutern und daraus gewisse Vorhersagen für zukünftige empirische Untersuchungen machen. Sie haben also prognostischen Charakter, aber der, im Gegensatz zu apriorischen Erkenntnissen,
nicht apodiktisch gewiss ist. Erweitern tut sich da also ebenfalls nichts
solange das synthetisch aposteriorische Element fehlt. Und sobald dieses dazu kommt, können dabei einzelne Elemente falsifiziert sein, selbst wenn gewisse Grundannahmen sich bestätigt haben. Der Falsifikationismus Poppers löst also das bekannte Induktionsproblem teilweise (teilweise deshalb, weil man mit ad-hoc Hypothesen gerne mal diesem Falsifikationismus entkommen kann bzw. will).
Wir bleiben also notwendig in unseren Kategorien, Schemata des Verstandes und den reinen Anschauungsformen a priori eingeschlossen. Um vielleicht eine gewisse Intuition darüber zu gewinnen, kann ich ein kleines Beispiel vorbringen:
Stell dir ein höheres Wesen vor, das in der Lage wäre, sowohl die Dinge an sich als auch die Wirkungen, die sie in unserem Erkenntnisorganismus (also Erscheinungen) hervorrufen, zu erkennen. Dieses Wesen wäre aufgrund seiner höheren und völlig anderen Erkenntniskraft vielleicht in der Lage, die Erscheinungen aus dem inneren Wesen der Dinge an sich zu erklären, d. h. aus ihrer Beziehung zu diesem (das uns völlig unbekannt bleibt).
Daher wären die Beziehung der Erscheinungen zueinander, ihre Verbindung, ihre gesetzmäßige Abfolge, d. h. ihre Kausalität, für dieses Wesen völlig bedeutungslos. Dass sich diese Erscheinungen an die eigentümliche Form unseres Intellekts, nämlich die kausale Form, anpassen, würde für dieses Wesen also überhaupt keine Rolle spielen.
Wir hingegen sind, sofern wir überhaupt etwas erkennen wollen, aufgrund unserer logischen Organisation darauf angewiesen, die Erscheinungen in einem bestimmten logischen Zusammenhang zu verstehen. Die Tatsache, dass sie (die Erscheinungen) uns den Gefallen tun, auf diese Weise verstanden zu werden, während für anders organisierte Wesen vielleicht ein völlig anderes Verständnis möglich ist, ist eine Tatsache, die uns eventuell nur eine zufällige, vielleicht recht armselige Seite der Wirkungen der Dinge an sich offenbart, vielleicht auch nur eine von unendlich vielen Seiten. Diese Anpassung erzeugt nun aber die Illusion, dass die Kausalität selbst und nicht nur die Anpassung an die kausale Form ursprünglich den Erscheinungen innewohnte (ein "transzendentaler Schein" wie Kant zu sagen pflegt).
Wie es aber kommt, dass die Phänomene diese (für unseren Verstand günstige) Eigenschaft der Anpassung an die kausale Form mit sich bringen und haben, lässt sich
nicht mehr erklären. Wir stehen hier also sozusagen vor einer elementaren Tatsache, die nicht erklärt werden kann und hinter der sich ein Grund zu verbergen scheint, der nur als tiefes und ewig dunkles Geheimnis erahnt werden kann. Unsere Urteilskraft schließt daher den Kausalzusammenhang in den Erscheinungen, nachdem sie festgestellt hat, dass sie der kausalen Kategorie des Verstandes entsprechen. Der Begriff dieses Kausalzusammenhangs (Synthese) läuft also a priori voraus. Zumindest ist es das, was Kant hier festgestellt hat.
Kurzum, nach Kant:
Das "Ding an sich" bleibt letztendlich unergründlich, ganz gleich wie sehr wir es auch versuchen es durchdringen zu wollen. Es ist der gänzlich unbestimmte Gedanke von Etwas überhaupt.
Damit habe ich kurz im Umriss die Erkenntnistheorie Kants benannt. Nun zu deinen letzten beiden Fragen:
kaktuss schrieb am 30.04.2025:Aber wer sagt eigentlich das wir die Realität nicht erkennen können ?
Das hängt ganz davon ab, was man unter Realität versteht und welchen Ausgangspunkt man in der Erkenntnistheorie annimmt.
kaktuss schrieb am 30.04.2025:Ist es nicht Sache eines wahren Aufklärers die wahre Funktionsweise und die wahren Ursachen der Welt zu enthüllen ?
Absolut. Aber mir scheint, dass du hier stillheimlich ein moralisches Urteil versteckst, so als wolle man hier Kant unterstellen, dass er kein wahrer Aufklärer gewesen sei. Zunächst einmal, würde ich dem Kant durchaus zusprechen, dass er absolut genau unter diesem Ideal (Aufklärer) seine Arbeit verrichtet hat: Die wahre Funktionsweise und wahren Ursachen der Welt enthüllen zu wollen, und vielleicht zu schauen, ob es Grenzen gibt oder nicht. Das Ergebnis war nicht das, worauf viele wohl gehofft haben. Und wahrscheinlich auch nicht, worauf Kant selbst gehofft hatte.
Es gab kaum einen Philosophen vor ihm, der den Erkenntnisorganismus so präzise wie mit einem Skalpellmesser in seine Einzelteile zerlegt und untersucht hat, wie Kant es getan hat. Alleine das zeigt doch schon, dass ihm das Thema wohl sehr wichtig war, mehr als nur Wissen, vielleicht auch emotional und aus religiöser, spiritueller Sicht. Kants Ideal, so würde ich behaupten, war es durchaus die wahren Ursachen der Welt zu enthüllen. Und er stellte fest, dass dies selbst mit all seiner intellektuellen Kraft, die er aufwendete, nicht gelingen kann. Er konnte lediglich zu einer praktischen Philosophie kommen, in der das "Ich" sich selbst als praktisch frei handelnd konstituieren darf, aber nicht erkennen kann (und folglich auch nicht darf). Das mag widersprüchlich klingen, aber ist ganz einfach erklärbar: Während die Welt der Erscheinungen für uns immanent kausal ist, d.h. Erscheinungen stets von einer Kette von Ursache-Wirkungsketten begleitet werden (und es keinen Ur-Anfang gibt), so denken wir uns die Idee der Freiheit z.B. oder die transzendentale Kausalität allgemein als spontan, produktiv, schöpferisch bzw. als "Fähigkeit eine Kette von Ursache-Wirkungen zu beginnen" (causa origines).
Das dies sich nicht zeigen lässt durch die reine, theoretische Vernunft, hält uns aber davon nicht ab, dass wir uns praktisch selbst so begreifen als wären wir frei (Kants "als ob"), denn wir haben das Vermögen, unabhängiger von sinnlichen Motiven (Naturmotiven), handeln zu können. Das uns dies nicht immer gelingt, ist natürlich auch Kant klar gewsen (weshalb er vom Menschen auch als "halbvernünftiges Wesen" spricht), aber es geht hier um das primäre praktische Vermögen, das wir unter solchen Vernunftmotiven handeln
können (und demnächst: sollen), die nicht anschaulich (in uns) von Naturmotiven bestimmt sind: Wir können uns also selbst Gesetze geben (=> kategorischer Imperativ). Kant lässt also eine praktische Freiheit zu, und stellt die Idee eines sittlich-höchsten Ideals (das kann Gott, Singularität, oder was auch immer sein) als praktisches Postulat, was aber ebenfalls nicht als Wissen misszuverstehen ist. Es ist sozusagen eine Art "Vorbildsfunktion". All das folgt 1:1 präzise aus seinem Lehrgebäude.
Jetzt zu einer anderen Frage:
Hat Kant denn tatsächlich mit seiner Transzendentalphilosophie die Fragen bzgl. der Erkennbarkeit der Realität endgültig geklärt?Nun, jetzt könnte ja ein schlauer Fuchs gegen Kant folgendes einwenden:
"Naja, Moment! In meiner
unmittelbaren Anschauung nehme ich doch überhaupt
nichts von einem Ding an sich wahr! Ich
gewahre es nicht, wenn ich in meiner unmittelbaren Anschauung stehe! Was also wenn ich mir das Ding an sich nur hinzudenke, abstrakt, und in Wirklichkeit habe ich schon die volle an-sich Realität vor mir?".
Ab hier wird es jetzt interessant: Kant nimmt hier eine Dritte-Person-Perspektive ein, d.h. er reflektiert kritisch über diesen Zustand mittels des Intellekts bzgl. der Bedingungen der Erfahrung. Hier führt dann Kant ein Denkexperiment durch: Wenn die Naturdinge unserer Anschauung so gegeben seien, wie sie wirklich sind ( = Dinge an sich), dann gerät man in einen unlösbaren Widerstreit, die Antinomien. Für Kant kann das also nicht richtig sein, und vermutlich für viele Menschen auch nicht. Die logisch notwendige Konsequenz zur Lösung in Kants System ist also, dass das "Ding an sich" eine für uns unerkennbare Ursache dieser Erscheinungen sein muss bzw. zumindest es gedacht werden muss, ohne je darüber etwas genaueres zu wissen oder behaupten zu dürfen, davon zu wissen, während wir selber durch bestimmte subjektive Charakteristika filtern und damit erst die Erscheinung gewinnen. So lösen sich diese Antinomien auf.
Jetzt kommt aber eine durchaus vielleicht nicht ganz unberechtigte Kritik: Welche der beiden Perspektiven ist denn überhaupt als
Ausgangspunkt für eine Erkenntnistheorie zu nehmen? Die unmittelbare Anschauung (d.h. eine Erste-Person-Perspektive) oder die kritisch-reflexive (d.h. eine Dritte-Person-Perspektive) ? In letzterem Fall ist die Konsequenz der Annahme eines Ding an sichs nur logisch-notwendig, weil erst durch die kritische Reflexion der Widerstreit (Antinomien) entsteht. In der unmittelbaren, erlebten, nicht-reflexiven, Anschauung geschieht dies ja durchaus nicht. Es ist ja nur ein Gewahrsein. Praktisch nur "ins Leere schauen" sozusagen, und die Wahrnehmung vor sich zu haben.
Kant setzt also vielleicht stillschweigend eine Annahme voraus. Aber kann dies als Ausgangspunkt einer Erkenntnistheorie dienen? Wenn nicht, wäre aber dann vielleicht auch ein solcher kognitiver Modus denkbar (z.B. "unmittelbare Anschauung"), der nicht kritisch-reflexiv ist und trotzdem erkenntnistheoretisch brauchbar sein kann, d.h. eine Erkenntnistheorie, in der das Subjekt sich in den Erscheinungen einlebt, und eine Art Monismus annimmt? Dies ist insofern interessant als das Kants praktische Philosophie nämlich durchaus hier eine Erste-Person-Perspektive einnimmt, aber sie stets einschränkt durch sein "Als ob"-Prinzip.
Ich lasse dich mal selbst darüber nachdenken.
MfG,
XKetanX.