Schwere-Noether
Es wurde in einem anderen Thread von
@califix angesprochen, da es dort jedoch gerade ziemlich turbulent zugeht, setze ich es lieber hier rein, zumal es auch etwas grundlegender ist. Das Noether-Theorem wird oft als ultimatives Argument für die Erhaltungssätze angeführt, ich fürchte aber, dabei gibt es einige Missverständnisse.
Zunächst einmal handelt es sich bei den dabei genannten Symmetrien um eine stark vereinfachte Wortwahl in der Physik, korrekter wären kontinuierliche Symmetrien oder Translationsinvarianzen. Emmy Noether spricht von "Transformationsgruppen derart, dass zu jeder Transformation eine im System enthaltene Umkehrung existiert".
Es geht aber wesentlich tiefer, das Noether-Theorem ist nämlich lediglich ein mathematisches Tool, das über die Physik keine unmittelbaren Aussagen trifft. Um das Noether-Theorem anzuwenden, muss ich ein physikalisches System zunächst einmal in die Mathematik übersetzen, d.h. ich muss dafür eine geeignete Lagrange-Funktion finden, die dessen Eigenschaften abbildet. Die Lagrange-Funktion muss ich dann in ihre Freiheitsgrade/Richtungen/Dimensionen aufgliedern und dann kann ich mit der Methode des Noether-Theorems für jede dieser Richtungen feststellen, ob eine Translationsinvarianz vorliegt. Falls dem so ist, dann folgt für das physikalische System, dass es in dieser Richtung eine Erhaltungsgröße gibt.
Das Noether-Theorem sagt allerdings nichts darüber aus, ob so eine Translationsinvarianz und damit die Erhaltungsgröße existieren muss. Das liegt an uns, welche Art von physikalischem System wir ausgewählt haben. Beispielsweise kann in der Übungsaufgabe von einem Teilchen in einem homogenen Feld zwar sehr schön die Energieerhaltung hergeleitet werden, aber die Impulserhaltung gilt dort nicht, weil eine Gegenkraft auf das Feld in den Gleichungen nicht berücksichtigt wird. Auch bei Astrodictum werden zur Veranschaulichung des Noether-Theorems gerade solche Beispiele herangezogen, wo jeweils bestimmte Erhaltungsgrößen nicht bestehen ->
https://scienceblogs.de/hier-wohnen-drachen/2011/05/22/der-schonste-satz-der-klassischen-physik/Um das Problem zu verdeutlichen, ich werfe einen Ball nach oben und berechne aufgrund der Anfangsparameter die jeweilige ballistische Flugbahn. Ich stelle dabei fest, dass der Impuls nicht erhalten bleibt. Ich bin dann clever und nehme die Erde und ihre winzige Gegenbewegung in das physikalische System und damit die Impulserhaltung in meine Gleichung hinein. Das Noether-Theorem bestätigt mir jetzt, dass die gewünschten Erhaltungssätze erfüllt werden. Dann bekomme ich genauere Messgeräte und entdecke, dass die tatsächlichen Bahnen in einem Rhythmus von 12h25m von den Berechnungen abweichen. In der realen physikalischen Welt gibt es eben außerdem den Mond und seine Anziehungskraft. Darüber kann mir das Noether-Theorem nichts sagen.
Wenn wir die Erhaltungssätze begründen wollen, brauchen wir dafür stattdessen also eine physikalische Herleitung und da sind wir mit Isaac Newton bereits sehr gut versorgt. Aus dem Prinzip actio = reactio ergibt sich unmittelbar, dass Impuls und Energie nur dann vergrößert werden können, wenn sie woanders um den gleichen Betrag vermindert werden. Und umgekehrt.
Zusätzlich gilt grundsätzlich die Regel, dass das physikalische System abgeschlossen sein muss, damit die Bilanz aufgeht. Da für das Universum als Ganzes die Erhaltungsgrößen nicht definiert werden können, besteht für uns immer die Aufgabe, ein Teilsystem auszuwählen und hinreichend physikalisch zu begründen, warum das für den konkreten Zweck alle notwendigen Eigenschaften enthält.
Im 18. und 19. Jahrhundert wurde dann alternativ zu Newton das Prinzip der kleinsten Wirkung entwickelt. Bei Newton benötige ich für ein Objekt lediglich einen Startpunkt und die Geschwindigkeit und kann dann aufgrund der einwirkenden Kräfte Stück für Stück den weiteren Verlauf der Bahn berechnen. Und das entspricht sehr anschaulich exakt dem Prinzip von Ursache und Wirkung.
Für das Prinzip der kleinsten Wirkung benötige ich für ein Objekt Start- und Zielpunkt, daraus kann ich dann rückwirkend herleiten, dass die zurückgelegte Bahn im mathematischen Sinne ein Optimum darstellt. Das große Problem dieser Herangehensweise ist, dass das Objekt auf irgendeine Weise auch Kenntnis über alle anderen Bahnen besitzen müsste, um darunter auszuwählen und sich dann die Bahn mit der geringsten Wirkung herauszusuchen. Das war ein schwerwiegendes logisches Hindernis und dieses Konzept wurde deshalb lange Zeit für unwissenschaftlich gehalten.
Trotzdem war das Prinzip der kleinsten Wirkung derart verlockend, dass von einigen Wissenschaftlern daran festgehalten wurde. Auf dieser Grundlage entstanden durch Lagrange, Hamilton und Jacobi neue mathematische Formalismen, um physikalische Systeme zu beschreiben. Dabei wurde auch schon das entwickelt, was jetzt Emmy Noether zugeschrieben wird. Wenn man derartige Gleichungen nämlich derart umformen konnte, dass für bestimmte Freiheitsgrade/Richtungen/Dimensionen keine absoluten Koordinaten nötig waren, diese also gegenüber Verschiebungen invariant blieben, so bestand dort eine Erhaltungsgröße. Diese physikalische Größe ergibt sich dadurch, dass sich, platt gesagt, die jeweilige Dimension dieser Koordinaten aus der Wirkung herauskürzen lässt ->
Energie = Wirkung / Zeit
Impuls = Wirkung / Strecke
Drehimpuls = Wirkung / Winkel
elektrische Ladung = Wirkung / (Zeit x Spannung)
Hamilton hatte außerdem nachgewiesen, dass es sich um ein Prinzip der stationären Wirkung handelt. Die Wirkung muss nicht minimal werden, es funktioniert ebenso bei maximaler Wirkung, die Hauptsache ist, dass die Wirkung sich bei kleinen Bahnabweichungen praktisch nicht ändert, also in einem gewissen Bereich stationär bleibt, was dann später in dem Pfadintegral von Richard Feynman seine tiefere Bedeutung entfaltet hat.
Auf der Grundlage von Newton ist es so: ich führe ein Experiment an einem anderen Ort durch und stelle fest, dass Energie und Impuls dabei erhalten bleiben. Und dann führe ich das Experiment zu einem anderen Zeitpunkt durch und stelle gleichermaßen fest, dass Energie und Impuls erhalten bleiben. Kein Unterschied. Ein spezifischer Zusammenhang der Energie mit der Zeit und vom Impuls mit dem Raum ergibt sich erst durch die Verbindung mit der zugehörigen Komponente der Wirkung.
Der Fortschritt gegenüber dem actio = reactio von Newton bestand im 18. und 19. Jahrhundert also darin, dass dieses Prinzip jeweils separat auf alle Freiheitsgrade/Richtungen/Dimensionen einzeln angewendet werden konnte. Die Impulserhaltung kann also in einer Richtung des Raumes gelten, während sie senkrecht dazu verletzt wird, wenn dort das System nicht abgeschlossen ist.
Der Fortschritt durch das Noether-Theorem bestand dann wiederum darin, dass es mathematisch auf Lie-Gruppen aufsetzt, die auch nicht-euklidische Geometrien umfassen. Damit eignete es sich dann auch für die gekrümmte Raumzeit der Allgemeinen Relativitätstheorie. Außerdem gibt es in dem Theorem einen zweiten Satz, der das Ganze für Eichtheorien anwendbar macht. Und, wie schon erwähnt, das alles ist pure Mathematik. Die Begriffe Wirkung oder Symmetrie kommen in der Abhandlung von Emmy Noether von 1918 an keiner einzigen Stelle vor. Man wird auch sonst Schwierigkeiten haben, irgend etwas, das in Physik über das Noether-Theorem gelehrt wird, darin wiederzufinden.
Folgen die Erhaltungsgrößen unmittelbar aus den Symmetrien der Freiheitsgrade/Richtungen/Dimensionen von Raum und Zeit? Nein. Die mussten auch schon bei Newton im mathematischen Sinne stetig und auch stetig differenzierbar sein. Das reicht aber nicht aus. Es geht stattdessen um das, was sich innerhalb dieser Freiheitsgrade/Richtungen/Dimensionen abspielt. Dabei ist die Erhaltungsgröße zunächst einmal das, was in einer spezifischen Richtung überhaupt erst verändert werden kann. Und diese Erhaltungsgrößen bleiben, banal ausgedrückt, genau dann erhalten, wenn es nichts gibt, wodurch sie verändert werden, bzw. sich alle Änderungen gegenseitig aufheben.
Es geht darum, dass für alle Objekte, die sich in Raum und Zeit befinden, alle Kräfte, mit denen sie aufeinander wirken, symmetrisch sind, dass diese sich also in Form von Kraft und Gegenkraft stets zu null addieren. Und das passiert genau dann, wenn wir darauf achten, dass das physikalische System, das wir auswählen, abgeschlossen ist.
Beim Noether-Theorem kann es passieren, dass fundamentale Erhaltungsgrößen nicht angezeigt werden und wir auch keinen Hinweis bekommen, dass da etwas fehlt. Aus actio = reactio von Newton folgt dagegen, dass es solche Erhaltungsgrößen prinzipiell geben MUSS. Der Nutzen des Noether-Theorems besteht darin, dass es uns hilft, die in einem konkreten physialischen System bestehenden Erhaltungsgrößen zu finden. Und das können dann im Gegensatz zu Newton auch solche Erhaltungsgrößen sein, die nicht-trivial oder lokal begrenzt sind.
realradioactiveman