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Gedichte: Tragik

2.709 Beiträge ▪ Schlüsselwörter: Gedichte, Lyrik, Poesie ▪ Abonnieren: Feed E-Mail

Gedichte: Tragik

17.01.2021 um 16:43
Erinnerung an die Marie A.
Bertolt Brecht

1
An jenem Tag im blauen Mond September
Still unter einem jungen Pflaumenbaum
Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe
In meinem Arm wie einen holden Traum.
Und über uns im schönen Sommerhimmel
War eine Wolke, die ich lange sah
Sie war sehr weiß und ungeheuer oben
Und als ich aufsah, war sie nimmer da.

2
Seit jenem Tag sind viele, viele Monde
Geschwommen still hinunter und vorbei
Die Pflaumenbäume sind wohl abgehauen
Und fragst du mich, was mit der Liebe sei?
So sag ich dir: Ich kann mich nicht erinnern.
Und doch, gewiß, ich weiß schon, was du meinst
Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer
Ich weiß nur mehr: Ich küsste es dereinst.

3
Und auch den Kuss, ich hätt' ihn längst vergessen
Wenn nicht die Wolke da gewesen wär
Die weiß ich noch und werd ich immer wissen
Sie war sehr weiß und kam von oben her.
Die Pflaumenbäume blühn vielleicht noch immer
Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind
Doch jene Wolke blühte nur Minuten
Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.

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Gedichte: Tragik

18.01.2021 um 10:43
MAX HERRMANN-NEISSE (1886 – 1941)

Seine Bücher wurden von den Nazis verbrannt, er musste aus Deutschland fliehen und ist im Exil gestorben.

Wenn die grossen Dichter deutscher Sprache aufgezählt werden, dann ist er meistens nicht mit dabei, der kleine, verwachsene, unscheinbare Mann mit dem grossen poetischen Herzen, dem starken sinnlichen Empfinden, das sich in der überwältigenden, dichterischen Kraft seiner Werke manifestiert.

Ich bin schon seit vielen Jahrzehnten eine grosse Verehrerin seines Schaffens. Seine Gedichte gehören für mich mit zu den aller schönsten die ich je kennen gelernt habe. Viele seiner Gedichte sind auch geprägt durch seine körperliche Gebrechlichkeit und von der Trauer um die verlorene Heimat.



Dein Haar hat Lieder, die ich liebe

Dein Haar hat Lieder, die ich liebe,
und sanfte Abende am Meer –
O glückte mir die Welt! O bliebe
mein Tag nicht stets unselig leer!

So kann ich nichts, als matt verlegen
vertrösten oder wehe tun,
und von den wundersamsten Wegen
bleibt mir der Staub nur auf den Schuhn.

Und meine Träume sind wie Diebe,
und meine Freuden frieren sehr –
Dein Haar hat Lieder, die ich liebe,
und sanfte Abende am Meer.



Psalm für Leni

Deine Ohren sind Glocken, darin meine Zunge schwingt,
Blühende Lauben, in die meine Lippen schlüpfen,
Darin meine Zähne wie Vögel hüpfen,
Muscheln, in die mein Mund sich singt,
In ihnen nistet alles, was aus meinem Blut sich ringt:
Alle Klänge, die Romeos Strickleiter knüpfen,
Jeder Wind, der unsere Wege weiter winkt - - -

Dann blühn die Knospen deiner Brust in meinem Mund wie Klee,
Ich werde weit wie eine Welt und schmelze hin wie Schnee,
Und plötzlich sind wir eines Sommersüdens stiller See - - -

Du gibst mir Erde, Licht und Regen, welcher reift,
Du bist die Hand, die Früchte von den Zweigen streift,
Du bist des Schnitters Krug, des Bettlers Brot,
Des Pilgers Morgentrunk und Abendrot,
Du bist der Turm, von dem man Länder übersieht
Du bist des Heiligen Gebet, der Hure Lied,
Alles, was tröstet und in Himmel hebt,
Das Wort, in welchem Wert und Wesen lebt,
Alles, was geliebt wird und wieder liebt,
Was dem Fisch Flossen und dem Vogel Gefieder gibt,
Kinder, die nicht mehr weinen - Greise, die sicher sind,
Abende, die schön und voller Gekicher sind,
Reisen mit der Geliebten, in Hotelzimmern wonnige Nächte,
Melodie der Steppen, der Städte, der Bergwerksschächte,
Veranden am Wasser mit Lampions, schmale Raine,
Wo zwei sich küssen, Wangen erhitzt vom Weine,
Genesung in Krankensälen, der erste Gang in den Garten,
Nelken, früh ans Bett gebracht - bei einem Stelldichein Warten,
Gedichte, die man nie vergißt und leis' vor sich hinsagt im Wandeln,
Süße von Pfirsich und Erdbeer, Duft von Myrrhe und Mandeln,
Feste in Fahnen, Freudenfeuer, Böllergeknall -
Des Menschen Glück, Mutter, Schwester, Ewigkeit und All!



Konfession

Ich aber bin der Kleinsten Einer
Und der Geringste unter ihnen,
Und bin nicht wert, dir scheu zu dienen,
Denn so verscheucht, als ich, ist keiner,
Und jeder hat in seinen Mienen
Doch noch ein: Keuscher Ich und Reiner!

Ich aber bin ein Ding voll schlechten,
Verpfuschten Schatten und Gerümpel
Und jeder Wollust toter Tümpel -
Der niedrigste von deinen Knechten
Ist neben mir ein stolzer Wimpel
Und prangt als Sonne der Gerechten!

Denn ich bin so vermorscht und kleiner
Als der verlorne Wurm im Staube,
Ich bin der Rest von deinem Raube,
Ich bin der Ausgestoßnen Einer
Und hab nur dies: Ich weiß und glaube
Und liebe dich so sehr, wie Keiner! ...



Litanei der Bitternis

Bitter ist es, das Brot der Fremde zu essen,
bittrer noch das Gnadenbrot,
und dem Nächsten eine Last zu sein.
Meine bessren Jahre kann ich nicht vergessen;
doch nun sind sie tot,
und getrunken ist der letzte Wein.


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Gedichte: Tragik

18.01.2021 um 15:34
Zitat von Marianne48Marianne48 schrieb:Wenn die grossen Dichter deutscher Sprache aufgezählt werden, dann ist er meistens nicht mit dabei, der kleine, verwachsene, unscheinbare Mann mit dem grossen poetischen Herzen, dem starken sinnlichen Empfinden, das sich in der überwältigenden, dichterischen Kraft seiner Werke manifestiert.
Ein persönliches Danke für das einstellen seiner Gedichte. Ich finde sie großartig!
So richtig schön Schmachtseuftz. Konfession gefällt mir am Besten.


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Gedichte: Tragik

18.01.2021 um 22:51
@Streuselchen

Das freut mich, dass auch Dir die Gedichte von Max Herrmann-Neisse gefallen und es würde auch den Dichter freuen, wenn er wüsste, dass sein lyrisches Schaffen sogar junge Menschen des 21. Jahrhunderts anzusprechen vermag.

Ich habe das gerne gemacht, diese kleine Auswahl seiner Gedichte hier vorzustellen, um ihn wenigstens für einen klitzekleinen Moment aus der Vergessenheit ins Rampenlicht zu holen.


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Gedichte: Tragik

25.01.2021 um 20:32
Das ist das Verhängnis:
zwischen Empfängnis
und Leichenbegängnis
nichts als Bedrängnis.

Doktor Erich Kästners lyrische Hausapotheke :merle:


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Gedichte: Tragik

28.01.2021 um 01:47
Fenster wo ich einst mit dir
Abends in die landschaft sah
Sind nun hell mit fremdem licht.

Pfad noch läuft vom tor wo du
Standest ohne umzuschaun
Dann ins tal hinunterbogst.

Bei der kehr warf nochmals auf
Mond dein bleiches angesicht . . .
Doch es war zu spät zum ruf.

Dunkel – schweigen – starre luft
Sinkt wie damals um das haus.
Alle freude nahmst du mit.

Stefan George (1868 - 1933)


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Gedichte: Tragik

29.01.2021 um 10:32
Eigene Normen

Ich leb gern zurückgezogen,
hab mich nie dabei verbogen,
ein klein wenig distanzieren,
heißt doch nicht, Gesicht verlieren.

Auch mein verzerrtes Pflichtgefühl
erscheint gewissen Menschen kühl,
es kommt auch nicht in ihren Sinn,
dass ich vielleicht nur einsam bin.

Trotz allem hab ich Fantasie
und bin bestückt mit Empathie,
hab keine Wut, die in mir schleicht,
bin etwas launenhaft vielleicht.

Beim allerersten Augenschein,
mag ich etwas verschroben sein,
leb trotz aller Umgangsformen
liebend gern – in eignen Normen.

© Horst Rehmann


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Gedichte: Tragik

31.01.2021 um 22:40
Trauermarsch

Was bin ich immer in den Leichenzügen,
vom Regen hin gepeitscht, von Rabenflügen
umweht, und schaue alte irre Witwen tanzen,
und Nonnen beten still, und Knaben halten lachend die Monstranzen.
Was bin ich immer bei den Zweifelhaften,
bei Toten und Verwünschten, die am Krame haften,
im kalten Regenwind der Einsamkeiten!
Was hör ich immer dumpfe Särge in die Erde gleiten,
Kirchtürme rasen wie gegeißelt um den Himmel immer,
in jeder Gasse hockt ein bettelndes Gewimmer:
Mein Leben ist ein Regnen und ein Klagen,
ein langes Sterben von Novembertagen.

(Yvan Goll 1891-1950)


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Gedichte: Tragik

31.01.2021 um 22:44
Tänzerin

Dir ist als ob ich schon gezeichnet wäre
Und auf der Totenliste stünde.
Es hält mich ab von mancher Sünde.
Wie langsam ich am Leben zehre.
Und ängstlich sind oft meine Schritte,
Mein Herz hat einen kranken Schlag
Und schwächer wird's mit jedem Tag.
Ein Todesengel steht in meines Zimmers Mitte.
Doch tanz ich bis zur Atemnot.
Bald werde ich im Grabe liegen
Und niemand wird sich an mich schmiegen.
Ach, küssen will ich bis zum Tod.

(Emmy Ball-Hennings 1885-1948)


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Gedichte: Tragik

02.02.2021 um 22:34
Ich bin so vielfach

Ich bin so vielfach in den Nächten.
Ich steige aus den dunklen Schächten.
Wie bunt entfaltet sich mein Anderssein.

So selbstverloren in dem Grunde,
Nachtwache ich, bin Traumesrunde
Und Wunder aus dem Heiligenschrein.

Es öffnen sich mir viele Pforten.
Bin ich nicht da? Bin ich nicht dorten?
Bin ich entstiegen einem Märchenbuch?

Vielleicht geht ein Gedicht in ferne Weiten.
Vielleicht verwehen meine Vielfachheiten,
Ein einsam flatternd, blasses Fahnentuch.

(Emmy Ball-Hennings 1885-1948)


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Gedichte: Tragik

16.02.2021 um 22:40
An den Mond


Füllest wieder Busch und Tal
Still mit Nebelglanz,
Lösest endlich auch einmal
Meine Seele ganz;

Breitest über mein Gefild
Lindernd deinen Blick,
Wie des Freundes Auge mild
Über mein Geschick.

Jeden Nachklang fühlt mein Herz
Froh und trüber Zeit
Wandle zwischen Freud und Schmerz
In der Einsamkeit.

Fließe, fließe, lieber Fluß!
Nimmer werd ich froh,
So verrauschte Scherz und Kuß,
Und die Treue so.

Ich besaß es doch einmal,
Was so köstlich ist!
Daß man doch zu seiner Qual
Nimmer es vergißt!

Rausche, Fluß, das Tal entlang,
Ohne Rast und Ruh,
Rausche, flüstre meinem Sang
Melodien zu.

Wenn du in der Winternacht
Wütend überschwillst,
Oder um die Frühlingspracht
Junger Knospen quillst.

Selig, wer sich vor der Welt
Ohne Haß verschließt,
Einen Freund am Busen hält
Und mit dem genießt

Was, von Menschen nicht gewußt
Oder nicht bedacht,
Durch das Labyrinth der Brust
Wandelt in der Nacht.

(Johann Wolfgang von Goethe, 1749-1832)


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Gedichte: Tragik

28.02.2021 um 07:58
Abschied 

Ich wollte dir immerzu
Viele Liebesworte sagen;

Nun suchst du ruhlos
Nach verlorenen Wundern.

Aber wenn meine Spieluhren spielen,
Feiern wir Hochzeit.

– O deine süßen Augen
Sind meine Lieblingsblumen;

Und dein Herz ist mein Himmelreich;
Laß mich hineinschau’n.

Du bist ganz aus glitzernder Minze
Und so weich versonnen .....

Ich wollte dir immerzu
Viele Liebesworte sagen, –

Warum tat ich das nicht?


(Else Lasker-Schüler)


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Gedichte: Tragik

04.03.2021 um 00:50
Warten

Alles verraten verkauft
die Braut
kaut auf den Fingernägeln.
Blut im Schuh tropft
in Ramboisses primeur.
Noch ein Glas bitte. Danke
es lässt der Europaton grüßen. Die
Leitung ist frei.

Ulla Hahn (1981 erschienen in Herz über Kopf, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt)


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Gedichte: Tragik

13.03.2021 um 20:34
Meine Tränen sind nicht echter als mein Lachen,
Ich Weine grad weil ich grad nicht Lachen kann.
Ich bin ein Mann und kein Drache,
Es stimmt schon, ich besitze nicht gerade viel Stand.

Meine Liebe ist kein Fernes und Exutisches Land,
Meine Triebe sind nicht wie dein letzter Tag am Strand,
In deinem Gehirngetriebe ist viel zu viel Sand,
Deinen Augen fehlt im Gegensatz zu meinen der Glanz.


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Gedichte: Tragik

16.03.2021 um 21:58
Mein Tanzlied

Aus mir braust finstre Tanzmusik,
Meine Seele kracht in tausend Stücken;
Der Teufel holt sich mein Missgeschick,
Um es ans brandige Herz zu drücken.
Die Rosen fliegen mir aus dem Haar
Und mein Leben saust nach allen Seiten,
So tanz ich schon seit tausend Jahr,
Seit meiner ersten Ewigkeiten.

(Else Lasker-Schüler)


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Gedichte: Tragik

16.03.2021 um 22:04
Ein grandioses Gedicht von Joachim Ringelnatz


Ich habe dich so lieb

Ich habe dich so lieb!
Ich würde dir ohne Bedenken
Eine Kachel aus meinem Ofen
Schenken.

Ich habe dir nichts getan.
Nun ist mir traurig zu Mut.
An den Hängen der Eisenbahn
Leuchtet der Ginster so gut.

Vorbei – verjährt –
Doch nimmer vergessen.
Ich reise.
Alles, was lange währt,
Ist leise.

Die Zeit entstellt
Alle Lebewesen.
Ein Hund bellt.
Er kann nicht lesen.
Er kann nicht schreiben.
Wir können nicht bleiben.

Ich lache.
Die Löcher sind die Hauptsache
An einem Sieb.

Ich habe dich so lieb.


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Gedichte: Tragik

20.03.2021 um 09:46
Mein blaues Klavier

Ich habe zu Hause ein blaues Klavier
Und kenne doch keine Note.

Es steht im Dunkel der Kellertür,
Seitdem die Welt verrohte.

Es spielten Sternenhände vier –
Die Mondfrau sang im Boote.
– Nun tanzen die Ratten im Geklirr.

Zerbrochen ist die Klaviatur.
Ich beweine die blaue Tote.

Ach liebe Engel öffnet mir
– Ich aß vom bitteren Brote –
Mir lebend schon die Himmelstür,
Auch wider dem Verbote.

(Else Lasker-Schüler)


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Gedichte: Tragik

23.04.2021 um 15:03
Und einmal lös ich in der Dämmerung
der Pinien von Schulter und vom Schoß
mein dunkles Kleid wie eine Lüge los
und tauche in die Sonne bleich und bloß
und zeige meinem Meere: ich bin jung.
Dann wird die Brandung sein wie ein Empfang,
den mir die Wogen festlich vorbereiten.
Und eine jede zittert nach der zweiten, –
wie soll ich ganz allein entgegenschreiten:
das macht mich bang...
Ich weiß: die hellgesellten Wellen weben
mir einen Wind;
und der erst beginnt,
so wird er wieder meine Arme heben ...

- Rilke -


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Gedichte: Tragik

18.09.2021 um 21:26
Ich will nicht mehr allein sein,
Warum fühle ich mich schwer wie ein Stein,
Niemand kennt mich,
Messen kann man nur die Tiefe vom Herzensstich,
Alles kann mal enden,
Soll ich mein Leid beenden?

Ich werd noch mehr allein sein,
Warum fühl ich mich dabei nicht klein,
Niemand nennt meinen Namen,
Man kann den schmerz nicht messen als sie kamen,
Am Anfang ahnte ich nichts vom Finale,
Soll dass das ende sein von der Spirale?


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Gedichte: Tragik

20.09.2021 um 22:41
Fragmente aus verlorenen Tagen

Wie Vögel, welche sich gewöhnt ans Gehn
und immer schwerer werden, wie im Fallen:
die Erde saugt aus ihren langen Krallen
die mutige Erinnerung von allen
den großen Dingen, welche hoch geschehn,
und macht sie fast zu Blättern, die sich dicht
am Boden halten, -
wie Gewächse, die,
kaum aufwärts wachsend, in die Erde kriechen,
in schwarzen Schollen unlebendig licht
und weich und feucht versinken und versiechen,
wie irre Kinder, - wie ein Angesicht
in einem Sarg, - wie frohe Hände, welche
unschlüssig werden, weil im vollen Kelche
sich Dinge spiegeln, die nicht nahe sind, -
wie Hülferufe, die im Abendwind
begegnen vielen dunklen großen Glocken, -
wie Zimmerblumen, die seit Tagen trocken,
wie Gassen, die verrufen sind, - wie Locken,
darinnen Edelsteine blind geworden sind, -
wie Morgen im April
vor allen vielen Fenstern des Spitales:
die Kranken drängen sich am Saum des Saales
und schaun: die Gnade eines frühen Strahles
macht alle Gassen frühlinglich und weit;
sie sehen nur die helle Herrlichkeit,
welche die Häuser jung und lachend macht,
und wissen nicht, daß schon die ganze Nacht
ein Sturm die Kleider von den Himmeln reißt,
ein Sturm von Wassern, wo die Welt noch eist,
ein Sturm, der jetzt noch durch die Gassen braust
und der den Dingen alle Bürde
von ihren Schultern nimmt, -
daß Etwas draußen groß ist und ergrimmt,
daß draußen die Gewalt geht, eine Faust,
die jeden von den Kranken würgen würde
inmitten dieses Glanzes, dem sie glauben. -
... Wie lange Nächte in verwelkten Lauben,
die schon zerrissen sind auf allen Seiten
und viel zu weit, um noch mit einem Zweiten,
den man sehr liebt, zusammen drin zu weinen, -
wie nackte Mädchen, kommend über Steine,
wie Trunkene in einem Birkenhaine, -
wie Worte, welche nichts Bestimmtes meinen
und dennoch gehn, ins Ohr hineingehn, weiter
ins Hirn und heimlich auf der Nervenleiter
durch alle Glieder Sprung um Sprung versuchen, -
wie Greise, welche ihr Geschlecht verfluchen
und dann versterben, so daß keiner je
abwenden könnte das verhängte Weh,
wie volle Rosen, künstlich aufgezogen
im blauen Treibhaus, wo die Lüfte logen,
und dann vom Übermut in großem Bogen
hinausgestreut in den verwehten Schnee, -
wie eine Erde, die nicht kreisen kann,
weil zuviel Tote ihr Gefühl beschweren,
wie ein erschlagener verscharrter Mann,
dem sich die Hände gegen Wurzeln wehren, -
wie eine von den hohen, schlanken, roten
Hochsommerblumen, welche unerlöst
ganz plötzlich stirbt im Lieblingswind der Wiesen,
weil ihre Wurzel unten an Türkisen
im Ohrgehänge einer Toten
stößt....

Und mancher Tage Stunden waren so.
Als formte wer mein Abbild irgendwo,
um es mit Nadeln langsam zu mißhandeln.
Ich spürte jede Spitze seiner Spiele,
und war, als ob ein Regen auf mich fiele,
in welchem alle Dinge sich verwandeln.

Rainer Maria Rilke


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