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Welches Buch lest ihr gerade?

7.166 Beiträge ▪ Schlüsselwörter: Bücher, Lesen, Literatur ▪ Abonnieren: Feed E-Mail

Welches Buch lest ihr gerade?

27.02.2018 um 22:25
Zitat von cellospielercellospieler schrieb:Oft ist es ja das Ergreifende an diesen Geschichten, dass es mehr oder weniger gut sichtbare Parallelen zu der realen Welt in der wir leben gibt...
So ist es, diese Gedankengänge hatte ich auch.
Zitat von cellospielercellospieler schrieb:Ich bin sowieso fasziniert von Büchern, in denen solche Dystopien beschrieben werden, oder eben, wie in diesem Fall, die Gegenwart verzerrt wird
Dann gefällt dir evt. auch das, was ich letzte Woche ausgelesen habe. Auch wieder sehr beeindruckend. Die Charaktere sind vielschichtig, Ängste werden geschürt und auch die Emotionen sehr authentisch geschildert. Dennoch ist "Die Verlassenen" kein Endzeitroman. Als besonders schlimm habe ich die bohrende Frage empfunden, was mit den Verschwundenen passiert ist... Das steht zwar ständig im Raum, aber mir gefiel es sehr gut, daß auch einige Fragen offen blieben und es mehr darum geht, wie unterschiedlich Menschen in extremen Situationen reagieren.


Tom Perrotta - Die Verlassenen
Ein Rätsel, so groß wie der Tod

Zwei Prozent der Weltbevölkerung verschwinden und niemand weiß warum: Tom Perrotta hat die Romanvorlage zur gefeierten TV-Serie "The Leftovers" verfasst.

In jenem Moment, als Jen Sussman einfach verschwindet, sitzt ihre Freundin Jill auf dem Sofa neben ihr und schaut auf den Bildschirm des Computers. Dann schaut sie auf. Und Jen ist weg. Nicht auf der Toilette. Nicht in der Küche. Nirgendwo sonst. Wirklich weg. Genauso wie viele andere beste Freundinnen, Mütter, Väter, Nachbarn in diesem Moment verschwinden. Zwei Prozent der Weltbevölkerung insgesamt, die nichts miteinander gemeinsam haben. Niemand kann sagen, warum gerade sie verschwunden sind, denn es gibt keinerlei Auswahlkriterien. Die Menschen sind einfach weg.

Was passiert, wenn die Apokalypse plötzlich eintritt und Millionen von der Erde verschwinden? Wie gehen die Zurückgelassenen mit der veränderten Welt um, in der plötzlich Nachbarn, Freunde, Verwandte und Geliebte fehlen, ihr Leben aber gnadenlos weitergeht? Die eigentliche Geschichte beginnt drei Jahre nach dem rätselhaften Verschwinden. Die Menschen sind immer noch erschüttert und jeder versucht bestmöglich damit zurechtzukommen. Was ist passiert, wie ist das möglich? Ob sich eine christliche Prophezeiung erfüllt hat? Ob Aliens damit zu tun hatten? Sich schwarze Löcher aufgetan haben?

Perrotta erzählt seine Geschichte in dichten Szenen und aus wechselnden Perspektiven entlang einer Familie. Dem Bürgermeister Kevin, der sich zurück in den Alltag rettet und lieber mit seinen Freunden in den Pub geht als zur Therapie. Seiner Frau dagegen erscheint jeder Alltag auf einmal komplett sinnlos. Sie schließt sich einer Sekte an, dem "schuldigen Rest", der nie spricht, immer raucht, nur weiß trägt und die Bewohner der beschaulichen Vorstadt durch seine anklagende Anwesenheit daran hindern will, so weiterzuleben als sei nichts geschehen. Ihr Sohn flüchtet zu einem Guru mit einer Fähigkeit zu schmerzlindernden Umarmungen und einer Vorliebe für minderjährige Asiatinnen. Und ihre Tochter rasiert sich in einem Britney-Spears-haften Verzweiflungsakt die Haare ab.

"Die Verlassenen" ist kein effekthascherischer Fantasy-Roman, sondern ein großen Roman über die Trauer. Der plötzliche Fortgang funktioniert dabei lediglich als der Moment, der verhindert, die Fassungslosigkeit mit Floskeln abzutun. Kein "das ist der Lauf des Lebens", kein "das ist doch etwas ganz Natürliches", kein "er war doch schon alt". Das Verschwinden all dieser Menschen ist tatsächlich so unbegreiflich und plötzlich und unerklärlich wie sich jeder Todesfall für die Hinterbliebenen immer anfühlen wird.
ver


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28.02.2018 um 10:54
@Photographer73

Danke für die Empfehlung, hört sich auf jeden Fall lesenswert an!

Was mir beim Stichwort Dystopie auch einfällt: The Handmaid‘s Tale (Der Report der Magd), von Margaret Atwood.
Muss sagen, ich wurde durch die gleichnamige Serie auf das Buch aufmerksam, und fand es wahnsinnig gut. Und eben auch sehr beklemmend, wenn man sich eine Welt oder auch nur ein Land wie das im Buch beschriebene vorstellt...

http://m.spiegel.de/spiegel/print/d-13522893.html

Kann ich auch sehr empfehlen, falls du es nicht schon gelesen hast! :)
Atwood zu lesen lohnt sich sowieso, wie ich bald feststellte, sie hat eine grosse Auswahl an guten Werken.


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28.02.2018 um 19:49
Zitat von bredulinobredulino schrieb:Da fällt mir ein:
Der alte Norman Spinrad hat diese Tendenzen in den Fantasy-und SF-Genres zu einer Satire verarbeitet. In der Rahmenhandlung hat Adolf Hitler 1919 seine politischen Ambitionen aufgegeben, ist in die USA immigriert und Illustrator und später Autor erfolgreicher Pulp-SF-Romane. Die eigentliche Erzählung ist dann Hitlers posthum veröffentlichte Lebenswerk "Der Herr des Hakenkreuzes". Mehr zu dem Buch hier:
Von diesem Roman höre ich jetzt zum ersten Mal. Wenn man dem Text auf Wiki Glauben schenken kann, dann muss man diesen Roman aber nicht unbedingt gelesen haben.

Aber wie auch immer, die Variation von geschichtlichen Ereignissen oder Parrallelwelten, in denen die Geschichte komplett anders abläuft, das sind natürlich schon wichtige Elemente des SF-Genres. Vor allem Heinlein und auch Asimov kann man in dieser Hinsicht sicher uneingeschränkt empfehlen.

emodul

Damit das hier noch einen Themenbezug hat: Aktuell lese ich gerade die Dunkle Turm Reihe von Stephen King.


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28.02.2018 um 20:53
Zitat von emodulemodul schrieb:Aber wie auch immer, die Variation von geschichtlichen Ereignissen oder Parrallelwelten, in denen die Geschichte komplett anders abläuft, das sind natürlich schon wichtige Elemente des SF-Genres. Vor allem Heinlein und auch Asimov kann man in dieser Hinsicht sicher uneingeschränkt empfehlen.
Dass jemand bewusst faschistische und rassistische Tendenzen in der SF-/Fantasy-Literatur aufzeigt und sie zu einer Satire überspitzt ist aber aber eher selten.
Zitat von emodulemodul schrieb:Damit das hier noch einen Themenbezug hat: Aktuell lese ich gerade die Dunkle Turm Reihe von Stephen King.
Ich lese gerade "Der Zauberberg" von Thomas Mann, besser gesagt ich quäle mich. Es zieht sich dahin.


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28.02.2018 um 21:45
Julius Margolin - Reise in das Land der Lager

42406Original anzeigen (0,2 MB)

Das 1946/1947 geschriebene Buch ist vermutlich das erste über die stalinistischen Lager, und es brauchte bis 2010, als es zum ersten Mal auf Französisch in voller Länge veröffentlicht wurde, und auf dieser Edition beruht die deutsche Ausgabe des Suhrkamp-Verlags.

Der Grund, warum es dieser Text so schwer hatte, war ganz einfach, dass die Sowjetunion nach dem 2. Weltkrieg zu den "Guten" zählte, da sie mit dazu beitrug, den Wahnsinn von Hitlerdeutschland zu besiegen, womit sich keine Verleger fanden, dieses vor Solschenizyn wohl wichtigste Werk über den Stalin'schen GULAG zur Gänze zu veröffentlichen. Eine hebräische Gesamtausgabe fehlt immer noch.

Dabei ist, was Margolin zu erzählen hat, unglaublichst. Er ist in Pinsk (heute in Belorus) im Jahr 1900 in eine jüdische Familie geboren, flieht im Ersten Weltkrieg mit seiner Familie ins heutige Dnjepopetrowsk, promoviert in Berlin, heiratet in Lodz und zieht 1936 mit Frau und Kind nach Tel Aviv, wo er legal mit Visum der britischen Mandatshoheit in seinem polnischen Pass lebt.

Margolin pendelt zwischen Tel Aviv und Lodz, wo ihn der 1. September 1939 kalt erwischt. Er flieht vor den Deutschen nach Osten, will über Rumänien ans Schwarze Meer, um nach Tel Aviv zurückzureisen, darf aber nicht mehr nach Rumänien einreisen. Somit flieht er nach Pinsk (damals polnisch) zu seinen Eltern und wird am 17. September 1939 vom sowjetischen Einmarsch wiederum kalt erwischt. Eine Ausreise nach Palästina wird ihm trotz gültigem Visum von den sowjetischen Behördern verweigert.

Am 19. Juni 1940 werden alle Polen, welche keinen sowjetischen Pass bereit sind anzunehmen, von der NKWD verhaftet, ohne Gerichtsverfahren wegen "Passvergehen" zu fünf Jahren Lager verdonnert, und Margolin wird in ein Arbeitslager am Onegasee verschleppt, wo er zunächst als Intellektueller einen Schreibposten einnehmen kann, den er aber wegen Unangepasstheit verliert. Somit muss er in den Wald Bäume fällen. Und das als Kurzsichtiger mit neun Dioptrien.

Sehr ausführlich beschreibt er, wie die Essensrationen zugeteilt werden, und dass letztlich alle - auch die Stachanow-Arbeiter - eine Ernährung erhalten, die mittelfristig nicht zum Überleben ausreicht. Margolin verfällt immer mehr und wird schließlich mit 24 Krankheiten, darunter Skorbut und Herzerweiterung, invalide geschrieben. Er wiegt nur mehr 45 kg.

Von der Amnestie für polnische Lagerhäftlinge im Jahr 1941 wird Margolin ausgenommen, da er "nicht polnischer Nationalität" ist. Sprich: er ist Jude. Keine Amnestie für Juden.

Vom Onegasee geht es in das Krankenlager Krugliza, wo er als Invalide kleine Arbeiten erledigen kann, welche seine Ration erhöhen. Aber sehr ausführlich beschreibt er, wie es nur mehr darum geht, so wenig Energie aufzuwenden und so viel Kalorien wie möglich zu sich zu nehmen, um überleben zu können. Zusätzliches Essen wird erbettelt und gestohlen, und Margolin beobachtet an sich selbst einen Werteverfall: es geht nur mehr ums Überleben. Auch sieht er, wie vormals kräftige Männer, die Stachanowisten waren, in Krugliza verfallen und verhungern: sie haben haben ihren Körper ausgemergelt, weil sie Höchstleistungen erbrachten, um mehr zu essen zu bekommen, nur hat der Körper dies nicht mitgemacht.

Lebensrettend für Margolin war vermutlich, dass sein Transfer in das Bergbaulager Workuta von einem Arzt im Durchgangslager Kotlas (bereits nördlich des Polarkreises) gestoppt wurde und er als Invalider in Kotlas verbleiben konnte, wo er als Krankenpfleger tätig sein konnte.

Sein Ausländerstatus nach Ende des Zweiten Weltkriegs war vermutlich der Grund, warum Margolin am 21. Juni 1945 entlassen wurde, zu einem Bekannten eines Lagerarztes ins Altai-Gebiet fahren durfte. Von dort konnte er schließlich nach einem sowjetisch-polnischen Abkommen nach Polen ausreisen, und über Frankreich gelangte er schließlich zurück zu seiner Familie in Tel Aviv.

Nicht nur die Beschreibungen des Lagerlebens sind herzzerreißend, sondern auch seine Reflexionen über den Verfall der Moral, die menschlichen Beziehungen im Lager mit Kunstliebhabern und über die drei Formen des Hasses (den affektiven Hass gegen Menschen aus dem eigenen Umfeld, den intellektuellen Hass gegen Abstrakta wie zum Beispiel das Böse sowie den rationalen Hass gegen unmenschliche Systeme, welcher einen zur Waffe greifen lässt).

Margolin hat nach der Rückkehr nach Tel Aviv versucht, die Weltöffentlichkeit auf das Stalin'sche Lagersystem aufmerksam zu machen und hat sogar eine Rede vor der UNO gehalten, aber vor der Chrustschow'schen Tauwetterperiode stieß er mehr oder weniger auf taube Ohren.

Diese Ausgabe nun macht die deutschsprachige Öffentlichkeit mit einem Zeitdokument allerersten Ranges bekannt. Auch Übersetzung wie die Edition des Suhrkamp-Verlags mit einem Anmerkungsapparat sind von höchster Güte.

Infolinks im Spoiler
Verlagsinfo mit Leseprobe:
http://www.suhrkamp.de/buecher/reise_in_das_land_der_lager-julius_margolin_42406.html

Leseprobe mit neun Kapiteln:
https://books.google.at/books?id=tMQ7CgAAQBAJ

Rezensionen:
http://www.spiegel.de/kultur/literatur/julius-margolins-bericht-von-der-reise-ins-land-der-lager-a-938750.html
http://www.deutschlandfunk.de/russische-lager-erinnerung-von-julius-margolin.1310.de.html?dram:article_id=280393
http://www.deutschlandfunkkultur.de/augenzeugenbericht-opfergemeinschaft-sowjetischer-willkuer.950.de.html?dram:article_id=276508
https://www.nzz.ch/die-wahrheit-von-workuta-1.18264768



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01.03.2018 um 02:27
@cellospieler

Ah.. Report der Magd, den hab ich auch auf meinem Reader und schon wieder nicht mehr dran gedacht, den wollte ich letztens schon lesen. Danke, daß Du mich wieder dran erinnert hast, das werde ich jetzt mal in Angriff nehmen. :D :Y:


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02.03.2018 um 01:26
@Photographer73
Bitte, gerne :)
Na dann viel Spass damit!


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03.03.2018 um 22:41
Karoline Kuhla - Fake News

9783551317315

Ein durchaus ansprechendes Jugendbuch von der ZEIT-Redakteurin Karoline Kuhla, welches jungen Menschen die Arbeitsweise von Medien bzw. Journalisten nahebringt und auch die Kernproblematik der Diskussion der letzten Jahre an Beispielen aufzeigt.

Das Buch ist "ab 13" empfohlen und für Kinder sicherlich fordernd, aber nicht unwichtig. Durchaus als Geschenk für junge Menschen keine schlechte Idee, da viele Aspekte angesprochen sind: die Debatte über die "Lügenpresse", die Trennung von Fakten und Meinungen, der Pressekodex, der gezielte Einsatz von "Fake News" zu Manipulationszwecken wie auch der propagandistische Einsatz des "Fake News"-Vorwurfs an die etablierte Presse von denjenigen, die gezielt Falschmeldungen in Umlauf bringen, sowie konkrete Anleitungen, wie selbst Falschmeldungen aufgedeckt werden können.

Infolinks im Spoiler

Verlagsinfo:
https://www.carlsen.de/epub/carlsen-klartext-fake-news/90444 (Archiv-Version vom 19.09.2020)

Interview:
http://www.deutschlandfunk.de/buch-fake-news-dem-bauchgefuehl-vertrauen.2907.de.html?dram:article_id=402568

Leseprobe:
https://books.google.hu/books/about/Carlsen_Klartext_Fake_News.html?id=wWopDwAAQBAJ

Rezension:
http://www.sueddeutsche.de/kultur/fake-news-bullshitter-im-parallelweltkrieg-1.3807400




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10.03.2018 um 23:22
Heinrich Harrer - Sieben Jahre in Tibet

tibet

Ich habe Harrers Bericht seines Aufenthalts in Tibet von 1944 bis 1951 in der Ausgabe von 1992 mit zwei anhängenden Kapiteln aus den 60er und Anfang 90er Jahre gelesen. Ein sehr beeindruckendes Bild aus den letzten Jahren des theokratischen Tibet bis zum Einmarsch der kommunistischen chinesischen Armee.

Die Öserreicher Heinrich Harrer (Erstbesteiger der Eiger Nordwand) und sein Partner Peter Aufschneiter waren Teil der deutschen Nanga-Parbat-Expedition 1939 und wurden nach Kriegsbeginn von den Briten in Indien interniert.

Mit fünf weiteren Gefangenen gelang ihnen 1944 die zweite Flucht aus dem Kriegsgefangenenlager Dehradun in Nordwestindien. Ihr Ziel war es, über Tibet sich zu den japanischen Linien durchzuschlagen.

Tibet war damals ein dem Ausland gegenüber verschlossenes Land, ohne jedoch über eine großartige Infrastruktur zu verfügen. 21 Monate brauchten Harrer und Aufschnaiter, um bis nach Lhasa zu gelangen. Der Weg führte über etwa 50 Pässe (alle über 5000 Meter), welche auch im Winter überquert wurden, und das Brahmaputra-Tal entlang. Immer wieder gelang es ihnen, sich von Ort zu Ort weiterzuhanteln und auch von örtlichen Beamten unterstützt zu werden (weiße Lügen und auch Kenntnis der Landessprache halfen ihnen dabei sehr), was sie letztlich vor einer Rückausweisung nach Indien bewahrte.

Die Beschreibung dieses hauptsächlich zu Fuß zurückgelegten Weges in einem für Europäer unbekannten Territorium auf den ersten zweihundert Seiten ist atemberaubend.

Hier eine Darstellung dieser unglaublichen Marschroute:

harrer-routeOriginal anzeigen (0,2 MB)

Schließlich waren sie in Tibet so bekannt, dass es ihnen gelang, schließlich in Lhasa Fuß zu fassen. Aufschnaiter wurde als Techniker beim Bau von Dämmen und der Wartung eines Elektrizitätwerkes eingesetzt, Harrer unterrichtete Kinder und wurde schließlich Lehrer und Freund des damals 14-jährigen Dalai Lama.

Die genaue Kenntnis, die Harrer sich über das theokratische Tibet erworben hat, ermöglicht einen Einblick in die feudale Gesellschaft Tibets, in der Steuern durch Fronarbeit abgeliefert wurden und der Reichtum der streng hierarchisch gegliederten Adels- und Mönchsgesellschaft durch Opfergaben gewährleistet wurde. Die Menschen sind zutiefst religiös und glauben an die Inkarnationen des "Lebenden Buddha" in ihren Lamas, wobei der Dalai Lama die höchste Inkarnation ist und Schutzgott Tibets.

Aufgrund der Größe und der Unwegbarkeit des Landes herrschen Klöster wie auch weltliche Feudalherren mehr oder weniger unbelästigt. Bei den seltenen Besuchen von Gesandten des Dalai Lama oder gar des Dalai Lama selbst ist deren Oberherrschaft anerkannt.

Eigenständig und sich nicht Lhasa unterwerfend sind einzig die Khampa, eine Ethnie im östlichen Tibet. Sie sind bewaffnet, scheuen aber auch nicht vor Plünderungen zurück. In Tibet sind sie gefürchtet und auf dem Weg nach Lhasa hatten Harrer und Aufschnaiter auch eine unangenehme Begegnung mit dieser Volksgruppe, deren Stolz sie jedoch sehr schätzten.

Mitte der 50er Jahre führten die Khampas einen Aufstand gegen die chinesischen Truppen und boten schließlich dem 1959 aus Tibet flüchtenden Dalai Lama bewaffneten Schutz, damit dieser nach Indien fliehen kann, bevor die Lhasa mit Artillerie beschießenden chinesischen Truppen ihn in Gefangenschaft nehmen konnten.

Harrer verließ 1951 schließlich Lhasa mit dem Dalai Lama nach Indien. Letzterer ging nach einem 17-Punkte-Abkommen mit China zurück, um Tibet 1959 schließlich endgültig zu verlassen, bevor er in chinesische Gefangenschaft geraten konnte. Aufschnaiter blieb bis knapp vor den Einmarsch chinesischer Truppen in Lhasa.

In den letzten Jahrzehnten war Harrers Zugehörigkeit zur NSDAP wie SS Gegenstand kontroverser Diskussionen. Ich möchte zu dieser Diskussion auf einen Beitrag in der WELT verweisen und mit den Worten des von mir hoch geschätzten Claude Lanzmann schließen:
„Für mich ist Harrer in erster Linie der Bezwinger der Eiger-Nordwand. Okay? Ich erinnere mich an einen ausgesprochen sympathischen Mann, der Präzeptor des Dalai Lama war. Er lehrte ihn, wie mir scheint, auch nichts Barbarisches. Außer Sie denken, dass der Dalai Lama ein Barbar ist.“
https://www.welt.de/geschichte/article150718663/Freund-des-Dalai-Lama-SS-Mitglied-CIA-Lieferant.html



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10.03.2018 um 23:53
Angela Sommer-Bodenburg - Der kleine Vampir verreist

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Zum Drüberstreuen der dritte Band des "Kleinen Vampirs", diesmal mit Cliffhanger.

Anton muss mit seinen Eltern auf einen langweiligen Urlaub auf einen Bauernhof fahren, also nimmt er seinen Vampirfreund Rüdiger mit. Im Zug fahren sie abends mit Sarg an den den Ort des Bauernhofs. Anton fliegt mit seinem Vampirumhang zurück in die Wohnung seiner Eltern, um am nächsten Tag normal anreisen zu können.

Am Bauernhof scheinen aber zwei Damen sich einquartiert zu haben, welche die beiden bei der Zugreise gesehen haben ...

Irgendwann schnappe ich mir dann die Fortsetzung ;)


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11.03.2018 um 23:34
Conrad Ferdinand Meyer - Das Amulett

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Dies ist die erste Novelle Meyers, welche er unter dem Eindruck des zeitgenössischen Kulturkampfes in der Schweiz, durch den staatlicherseits der Einfluss der katholischen Kirche zurückgedrängt werden sollte, verfasst hat. Historische Studien bildeten die Grundlage dieses Textes, welcher in den Massenmorden an den Hugenotten während der Bartholomäusnacht in Paris 1588 kulminierte.

Obwohl Meyer durch eine doppelte Rahmung eine extrem neutrale Erzählhaltung einnimmt und jegliche Kommentare vermeidet, ist alleine durch die Handlung die vermittelte Ansicht leicht zu dechifrieren: Katholiken und Calvinisten sollen tolerant und in Freundschaft miteinander leben können.

Interessant ist der 1873 veröffentlichte Text durch die Gestaltung uns modern bzw. sogar wieder aktuell anmutender Phänomene:

- die Macht von Hetzpredigern bei der Anstachelung von Hass
- die Leichtigkeit, eine von Hass getriebene Masse zu einem mordenden Mob umzufunktionieren


Die Handlung ist schnell erzählt.

Der Berner Hans Schadau (Calvinist) reist nach Paris, um an Seite eines calvinistischen Admirals an einem Feldzug gegen Herzog von Alba in den Spanischen Niederlanden teilzunehmen, bei dem das katholische und hugenottische Frankreich Schulter an Schulter kämpfen soll. Die Hugenotten standen unter dem Schutz eines Toleranzedikts und durften ihre Religion frei ausüben.

Auf der Reise befreundet sich Schadau mit Wilhelm Boccard, einem Fryburger Katholiken (praktisch einem Schweizer Nachbarn). In Paris wird Schadau im Kreis der Hugenotten freundlich aufgenommen, wird Schreiber des Admirals und heiratet schließlich dessen Nichte.

Erste Schleier legen sich über Schadau, als er im Duell einen französischen ersticht. Ihn selbst rettet ein Marien-Amulett, das sein Freund Boccard ihm heimlich in die Westentasche gesteckt hat. Dieser "Hugenottenmord" macht in Paris seine Runde und wird auch von einem bekannten katholischen Hetzprediger aufgenommen. Die Stimmung wird schlecht, da auch am Königshof durch Intrigen gegen die Hugenotten Stimmung gemacht wird und Karl IX. schließlich den Massenmord in Auftrag gibt.

Boccard kann Schadau in der Bartholomäusnacht durch Schutzhaft bei den Schweizergarden des Louvre vor dem Tod bewahren und als Gardisten gekleidet retten sie dessen Frau. Dabei wird Boccard jedoch erschossen. Schadau und seine Frau können in die Schweiz fliehen.

Der Text online:
http://gutenberg.spiegel.de/buch/das-amulett-1883/1
http://www.zeno.org/Literatur/M/Meyer,+Conrad+Ferdinand/Erzählungen/Das+Amulett


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15.03.2018 um 22:51
u1 978-3-596-03443-7Original anzeigen (0,2 MB)


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16.03.2018 um 08:00
@Warhead
Gutes Buch


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16.03.2018 um 17:16
Die ersten Kapiteln sind ein wenig zu reißerisch, alles im allen aber ein gutes Sachbuch, der aufzeigt, dass die angeblichen versagen der Behörden, keine waren. Dazu gibt es einfach zu viele "Zufälle", die das unglaubwürdig machen.

978-3-89771-548-6

Jetzt steht an:

9783456852935

Daneben noch der jährliche Bericht von Amnesty International in Buchform aber da werde ich nur bestimmte Staaten mir ansehen.


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17.03.2018 um 09:33
Jim Thompson - Savage Night

savage-night

Ein Noir, der einerseits mit extremer Brutalität ausartet, andererseits weit über die bisher von mir bei Thompson gelesene Komplexität hinausgeht.

Der ehemalige Wett-Hai Jake Winroy lebt mit seiner Frau Fay in einem kleinen Ort auf Long Island und wartet - aus der Untersuchungshaft entlassen - auf seinen Prozess. Um ein Einkommen zu haben, vermieten sie Zimmer an College-Studenten. Der Boss des Wett-Rings (The Man) befürchtet, dass Winroy im Prozess gegen ihn aussagt, setzt den Auftragsmörder Charles Bigger auf ihn an, der sich als Carl Bigelow einmietet.

Typisch Thompson: Bigelow (zwar von kleiner Gestalt, aber ein Frauenheld) beginnt eine Affäre mit Fay (beide beginnen nun den Mord gemeinsam zu planen), aber auch eine mit der Haushälterin Ruth.

Doch dann beginnt die Planung zu zerbröckeln: der Sheriff des Orts beginnt die Identität Bigelows zu erahnen, Jake will zurück ins Untersuchungsgefängnis, The Man wird nervös, ein Mordanschlag misslingt.

Bigelow befürchtet, dass The Man nun ihn selbst beseitigen will. Er zieht mit Ruth in ein abgelegenes Haus in Kanada, das ein an Krebs sterbender Mitbewohner bei den Winroys ihm anbietet, aber dort wird er im Keller von Ruth mit der Axt stückweise ermordet.



Ganz besonders auffällig ist, dass die Noir-Matrix immer wieder Risse aufweist:

Ruth stammt aus einer armen Familie mit 14 Kindern und hat einen Geburtsfehler: ihr linkes Bein ist stark verkürzt (nur etwa bis zum Knie des rechten reichend - wie sie in Kanada trainiert, in den Keller zu kommen, ist beklemmend zu lesen).

Bigger stammt aus einer Bergarbeiterfamilie (auch 14 Kinder), und es wird mehrfach geschildert, wie Bergarbeiter Anfang der 30er Jahre aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit gezwungen wurden, unter lebensgefährlichen Verhältnissen zu niedrigsten Löhnen zu arbeiten. Die Gewerkschaften hatten nichts zu sagen, die industrielle Reservearmee an Arbeitslosen war riesig.

Exzessive Polizeigewalt wird thematisiert (eigentlich schräg, wenn seine Protagonisten enthemmte Sozio- und Psychopathen sind). Als der Sheriff nur aufgrund von Vermutungen Bigger verhaften will, schlägt er ihn bewusstlos, sodass der Amtsarzt eine Dienstbeschwerde in Erwägung zieht.


Einen interessanten Artikel über Thompson, sein Werk sowie dessen Rezeption habe ich hier gefunden:
https://www.neh.gov/humanities/2009/novemberdecember/feature/soul-writer


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17.03.2018 um 14:45
Martin Luther - Von der Freiheit eines Christenmenschen

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1520 verfasst, zählt es zu den wichtigsten Werken Luthers, in dem er in dreißig Punkten seine Grundüberzeugung darlegte. Sie baut auf folgendem Widerspruch auf:
Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan.
Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.

(Punkt 1)
Frei ist der Mensch durch den Glauben an Christus und Gott, und der Glaube allein vereint die Seele mit Christus und Gott. Die Taten des körperlichen Menschen fügen dem nichts hinzu. Gute Taten ohne Frömmigkeit und Glauben führen nicht zur Seligkeit, der Mensch kann nicht zum "Werkheiligen" werden.

Zu dieser Vereinigung mit Gott im Glauben werden auch keine Priester benötigt, denn diese sind nur Diener und Verwalter ("Schaffner") des Evangeliums.

Der körperliche Mensch in der irdischen Welt soll nur insofern gute Taten vollbringen, um seinen Nächsten zu dienen, wie Christus es getan hat, der auch keine guten Werke benötigt hätte, um zur Seligkeit zu gelangen.

Auch erkenne man den gläubigen und frommen Menschen an seinen guten Taten. Ein guter Mensch vollbringe gute Taten, ein böser Mensch böse Taten. Falls ein böse (nicht gläubige, nicht fromme) Menschen gute Taten vollbringen, seien sie wie "reißende Wölfe in Schafskleidern".

Am Ende der dreißig Punkte umfassenden Denkschrift tritt Luther dafür ein, dass der durch den Glauben freie Christenmensch der weltlichen Obrigkeit dasjenige zukommen lasse, was diese von ihm verlangt. Nicht aus Zwang, sondern aus freien Stücken auf Basis eines Dienstes der Nächstenliebe. Dies erfährt eine Einschränkung, wenn die Forderung gegen Gott ist:
Und wenn auch die Unterdrücker Unrecht tun, solches zu fordern, so schadet es mir doch nicht, sofern es nicht gegen Gott ist. (28. Punkt)
Online unter anderem hier:
https://www.luther2017.de/de/martin-luther/texte-quellen/lutherschrift-von-der-freiheit-eines-christenmenschen/
http://www.unifr.ch/iso/assets/files/Luther_Freiheit.pdf (Archiv-Version vom 31.10.2017)


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18.03.2018 um 12:30
Das deutsche Kaiserreich (ZEIT E-Book)

Deutsches Kaiserreich ZEITOriginal anzeigen (0,2 MB)

Eine Sammlung von ZEIT-Artikeln von 2010 bis 2015, welche das Deutsche Kaiserreich von 1871 bis 1914 zum Thema haben. Schwerpunkte werden dabei auf die politische, wirtschaftliche, kulturelle Geschichte, jedoch auch auf das Alltagsleben und wie die Bedeutung des Parlaments gelegt.

Die Suche nach Kontinuitäten, die eine Brücke zwischen dieser Zeit und dem Deutschland der NSDAP-Herrschaft schlagen sollen, erscheinen mir mehr als einmal etwas übertrieben; eine Ausnahme bildet das Kapitel über den Antisemitismus, welches sehr informativ ausgefallen ist.

Als informierte Einführung in diese Zeitspanne Deutschlands durchaus geeignet, da auch leicht lesbar und preislich günstig.


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19.03.2018 um 19:56
Arno Strobel - das Dorf

bisher fantastisch spannend.
Ich befürchte ich hab bis Freitag die 3er Reihe durch und werde zum Arno Strobel Fan Oo

Eine typische Psychothriller- Ablenkung ganz nach meinem Geschmack.
Danke an die nette Verkäuferin, die mir die Reihe "aufgeschwatzt" hat mit dem Vermerk, dass sie sie durch hat und begeistert war. :) Falls Sie das hier jemals lesen : Sie haben einen guten Riecher und dürfen mir weiterhin Bücher empfehlen :Y:


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21.03.2018 um 00:18
Ayaan Hirsi Ali - Ich klage an

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Hirsi Ali ist Somalierin, die aus einer oppositionellen Richter- und Politikerfamilie stammt, welche selbst aus politischen Gründen aus Somalia flüchten musste, da sich der Vater für ein demokratisches und republikanisches Somalia einsetzte.

Andererseits waren die Familienmitglieder strenggläubige Muslime, Hirsi Ali wurde klitorisbeschnitten, wurde von ihrem Koranlehrer, als sie den Unterricht verweigerte, mit dem Kopf gegen eine Wand geschleudert, dass sie einen Schädelbasisbruch davontrug, und sie wurde mit einem in Kanada lebenden Cousin zwangsverheiratet.

Auf dem Flug zu ihrem Ehemann nach Kanada floh sie 1992 während eines Zwischenaufenthalts in Deutschland aus dem Flugzeug und suchte schließlich in den Niederlanden um Asyl an.

In den Niederlanden war sie bis 2001 als Dolmetscherin vor allem für Frauen tätig und wandte sich immer mehr von ihrem muslimischen Glauben ab, schloss sich zunächst den Sozialdemokraten an, um schließlich für die konservative Partei VVD als Abgeordnete im Parlament vertreten zu sein. Gleichzeitig studierte sie Politikwissenschaften.

Als Proponentin von Frauenrechten begann sie ihren ersten Film "Submission" über die Unterdrückung von Frauen in islamischen Familien zu drehen, wobei sie von Theo van Gogh unterstützt wurde. Van Gogh wurde ermordet, im Bekennerschreiben ist eine Morddrohung an Hirsi Ali gerichtet.

Dies ist ihr erstes Buch, welches aus einer Sammlung von Essays und Interviews besteht. Der zweite Teil richtet sich an Frauen aus islamischen Familien, wie sie sich als freie Menschen in die niederländische Gesellschaft eingliedern können (mit vielen Informationen aus ihrer Zeit als Übersetzerin), bzw. setzt sie sich dafür ein, dass die Praxis der Frauenbeschneidung als Schwerverbrechen auch juristisch verfolgt wird.

Der erste Teil ist eine theoretische Abhandlung über das Verhältnis zwischen Islam und Individuum bzw. wie Muslime in eine westliche Gesellschaft wie die niederländische eingegliedert werden können, damit die Freiheit der Person sich entfalten kann.

Grundsätzlich sieht sie das Leben von Muslimen in islamischen Gesellschaften von drei Voraussetzungen geprägt:

1. Einer Angst vor einem allmächtigen Gott, Allah
2. Einem Moralkodex einer arabischen Stammesgesellschaft aus dem 7. Jahrhundert
3. Einer bedingungslosen Unterordnung der Frau unter den Mann

Ihr Ziel ist, alle drei Voraussetzungen zu brechen, um Muslimen das Leben von selbstbestimmten Individuen zu ermöglichen. Ansatzpunkt ist, dass innerhalb der muslimischen Gesellschaft eine Aufklärung stattzufinden hat, wie sie in der christlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts vollzogen wurde.

Allah muss gezähmt werden, wie der jüdische und der christliche Gott gezähmt wurde. In der Bibel (Altes und Neues Testament) finden sich Vorschriften für gewaltsame Gesellschaften wie im Koran, nur spielen sie für Christen und Juden keine autoritative Rolle mehr - mit Ausnahme vielleicht einer fundamentalistischen Minderheit.

Im Islam jedoch sind solche Vorstellungen von der Mehrheit der Imame bzw. der Gelehrten propagiert und von Muslimen mehrheitlich akzeptiert. Dies müsse durch eine Aufklärung gebrochen werden: die positiven Aspekte des Islam sollen erhalten bleiben (Nächstenliebe, Gastfreundschaft als Beispiel) und mit einer Philosophie der Individualrechte verbunden werden.

In westlichen Gesellschaften wie der Niederländischen sieht sie vier Ansatzpunkte, wie das Verhältnis zu Mitgliedern anderer Kulturen geregelt werden soll, und diese bewertet sie auch.

1. Der politisch-juristische Ansatz:
Dieser sieht vor, alle Menschen auf Basis der Gesetze gleichzustellen, aber mehr sei nicht nötig. Hirsi Alis Kritikpunkt ist, dass dies zu wenig ist, da der gesetzliche Rahmen für Einzelpersonen nicht erfahrbar ist, wenn sie weiterhin in ihren abgeschlossenen Gemeinschaften leben.

2. Der soziale Ansatz:
Dieser geht davon aus, dass eine materielle Mindestabsicherung allein dazu führt, die Nöte dieser Menschen zu lindern. Hirsi Ali betont die Kehrseite, dass dadurch der Wille, an der Gesellschaft zu partizipieren, sinkt. Für Frauen im Besonderen werde dadurch ihre Abgesondertheit im Familien- wie Sippenzusammenhang verstärkt, da keine Notwendigkeit besteht, am Berufsleben teilzuhaben.

3. Der multikulturelle Ansatz:
Dieser geht von der Gleichwertigkeit unterschiedlicher Kulturen aus, welche zu respektieren sei. Hirsi Ali kritisiert, dass damit auch Kulturaspekte wie Männerdominanz, Frauenisolation, aber auch Frauenbeschneidung stillschweigend akzeptiert wird. Dieser Kulturrelativismus habe sie schließlich aus der sozialdemokratischen Partei getrieben, da sie für ihre Initiative gegen Frauenbeschneidung auch auf Widerstand gestoßen ist.

4. Der integrative Ansatz:
Integration sieht vor, den einzelnen Menschen mit Hilfe staatlicher Unterstützung in die westliche (niederländische) Gesellschaft zu integrieren, und steht somit im Gegensatz zum multikulturellen Ansatz, der Gesellschaften bzw. Kulturen als Ganzes integrieren möchte. Dieser integrative Ansatz, der sich auf die Person konzentriert, entspricht Hirsi Alis Überzeugung, dass es eine Befreiung des muslimischen Menschen geben muss.


Interessant sind auch ihre Ausführungen, wie sich eine Gesellschaft zu einer männerdominierten Zwangsgesellschaft entwickeln konnte und wie Verhaltensweisen verstärkt werden.

Die in der arabischen Stammesgesellschaft (vor den Islam zurückreichend) war strukturell in drei Ebenen gegliedert: Familie - Sippe - Stamm. Das Erbrecht war patriarchalisch und nur über männliche Nachkommen blieb Eigentum und damit Einfluss und Ansehen in der Familie bzw. Sippe.

Die Folge: nur männliche Nachkommen waren erwünscht, weibliche Nachkommen sollen so früh wie möglich verheiratet werden und den Familienhaushalt verlassen. Die oft zugeteilten Ehemänner wollten nur "frische Ware", die Jungfräulichkeit der Mädchen wurde zur Ehrensache und schließlich zum Kult. Und um möglichst viele männliche Nachkommen zeugen zu können, ist Vielweiberei akzeptiert.

Diese Konstellation (Familie, Sippe) brachte eine logische Schlussfolgerung mit sich: Familie und Sippe hatte ein Interesse daran, dass Erbgut nicht an eine andere Sippe transferiert wird. Wie?

Die Verheiratung von Mädchen innerhalb der Sippe bzw. innerhalb der Familie (Verehelichung zwischen Cousin und Cousine) hatte materielle Vorteile wie auch Rückwirkung auf Macht und Einfluss der Familie wie Sippe. Sie wurde Usus wie ein akzeptiertes Faktum und wird auch in heutigen muslimischen Gesellschaften weiterhin gepflegt.

Abschottung von Familie und Sippe sowie die männliche Dominanz und der immer rigider werdende Ehrbegriff (wird ein Mitglied einer Sippe in seiner Ehre verletzt, werden Verwandte bis ins zehnte Glied mit in ihrer Ehre verletzt) hatte auch Auswirkungen auf männliche Verhaltensweisen:

- nach außen wird ein aggressives Verhalten zur Schau gestellt (Unverletzlichkeit der Ehre)
- je höher in der Sippenhierarchie, desto unehrenhafter ist Arbeit (erinnert mich an den Adels-Kodex)
- aufgrund der akzeptierten Vielehen sind Frauen Jagdvieh
- innerhalb der Ehe ist die Frau willenloses Spielgerät, das auch zerstört werden darf

Hirsi Ali sieht in diesen sich verhärteten Strukturen auch die Ursache, warum islamische Gesellschaften nach einigen Jahrhunderten Expansionsphase schließlich stagnierten, da eine soziale Durchlässigkeit im Sippensystem nicht gegeben ist, Bildung keinen sozialen Vorteil hat. Verstärkt werde dies noch durch die Überzeugung, dass Allah allwissend sei und im Koran wie Hadith die Lösungen aller irdischen Probleme zu finden seien.


Insgesamt ein spannend zu lesendes Buch mit sehr hohem Informationsgehalt, auch in der Übersetzung sprachlich hervorragend umgesetzt. Auch der erste, gesellschaftstheoretische Teil hatte für mich fast einen Suchtfaktor: ich habe in jeder freien Minute weitergelesen.


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21.03.2018 um 08:24
41b4swIBeL. SX321 BO1204203200


Bin schon gespannt, habe von ihm nur "Redshirts" gelesen, und das fand ich wirklich gut.


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