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7.161 Beiträge ▪ Schlüsselwörter: Bücher, Lesen, Literatur ▪ Abonnieren: Feed E-Mail

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02.06.2021 um 17:35
Chinua Achebe - Alles zerfällt

AchebeOriginal anzeigen (0,2 MB)

Chinua Achebe zählt zu den ersten großen Schriftstellern aus Afrika, die auf Englisch geschrieben haben. Alles zerfällt ist der Titel der Neuübersetzung ins Deutsche (2012) seines ersten Romans Things Fall Apart aus dem Jahr 1958.

Er spielt in den 1890er Jahren im südostnigerianischen Volk der Igbo (Ibo) zu dem Zeitpunkt, als die britische Kolonialmacht Missionare in die Igbo-Dörfer entsendet. Hauptfigur ist Okonkwo. Er ist Sohn eines Musikers und Trinkers, der ohne reiches Erbe seine Stellung im Dorf Omuofia im wahrsten Sinne des Wortes erkämpfen muss. Als Jugendlicher zählt er zu den besten Ringern und erwirbt sich durch seine Stärke, aber auch durch seinen unbändigen Arbeitswillen in dieser Bauerngesellschaft einen Rang, der ihn zu einem Angesehenen macht. Die Kehrseite dieses Charakters ist seine Gewalttätigkeit und sein Jähzorn. Er schlägt seine Kinder und Frauen, einmal schießt er sogar auf eine seiner Frauen, die er jedoch nicht trifft.

Lange wird im ersten Teil die Igbo-Gesellschaft vorgestellt. Sie ist egalitär, die Entscheidungen werden durch einen Ältestenrat, der mit Titelträgern (es gibt vier Titel, die erworben werden können) erweitert wird. Die Gesellschaft ist streng meritokratisch, die Erfolgreichen (Bauern und Kämpfer) sind angesehen. Jede Familie bildet eigenständig einen Bauernhof, die Yams-Knollen sind das wichtigste Gut. Die Männer sind polygam, der Mann hat das Sagen und das Erbrecht ist patriarchalisch. Die Bewohner eines Dorfes bilden einen Clan, die Familien sind durch Heiraten mit Clans anderer Igbo-Dörfer verbunden. Die Frauen ziehen ins Dorf ihres jeweiligen Mannes.

Eine sehr große Rolle spielen auch die Priesterinnen und Priester der vielen Göttinnen und Götter, deren oft brutalen Orakelsprüche eingehalten werden müssen. Die Regeln im Dorf sind sehr streng durch den Glauben und die richterlichen Entscheidungen geprägt. Zwillinge werden nach der Geburt grundsätzlich ausgesetzt, da sie Unheil über das Dorf und den Clan bringen würden. Erfolglose Menschen gelten als Aussätzige. Geiseln aus anderen Dörfern können von einem Tag auf den anderen durch einen richterlichen Entscheid getötet werden. So geschieht es auch mit einem Jungen aus einem anderen Dorf, der als Geisel bei Okonkwo lebt und lieb gewonnen wird wie ein eigener Sohn. Das Todesurteil wird gesprochen und Okonkwo selbst ist der Henker.

Als eines Tages während eines Maskengeisterumzugs unabsichtlich das Gewehr von Okonkwo losgeht und eine Person getötet wird, muss er wegen einer "weiblichen Tat" (unabsichtliche Tötung) für sieben Jahre den Clan verlassen, seine Häuser werden niedergebrannt (Schutz vor Unheil). Im Dorf seines Mutterclans begegnet er zum ersten Mal einem weißen Missionar. Noch werden die Weißen nicht ernst genommen, aber es geht Kunde, dass nach Ermordung eines Missionars in einem Nachbardorf bei einer Racheaktion bei einem Massaker auf dem Markt beinahe alle Einwohner des Dorfes durch britische Soldaten ermordet wurden. Auch erfährt Okonkwo, dass in seinem Dorf eine Missionsstation errichtet worden ist, und vor allem die Unterprivilegierten schließen sich dem christlichen Glauben an, da sie durch ihn vor den sie aus der Gesellschaft drängenden Regeln geschützt sind.

Zurück in seinem Dorf lernt Okonkwo, dass die christliche Kirche an einem "bösen Busch" errichtet worden ist. Der Clan hat fest daran geglaubt, dass der Zorn der Göttinnen und Götter die Christen binnen eines Monates hinraffen wird. Dem war nicht so, und die Kirche erhält Zulauf, so auch von einem eher schwachen und "weibischen" Sohn Okonkwos, der es aufgrund seiner körperlichen und geistigen Weichheit im Clan nicht weit bringen würde.

Während eines Geisterlaufs wird einem Maskenträger durch einen Konvertiten die Maske vom Kopf gerissen (ein großer Frevel). Eine aufgebrachte Menge stürmt die Kirche und reißt sie nieder, ohne den Missionar oder die Gläubigen selbst zu attackieren. Etliche werden von britischen Militärs festgenommen und durch Gerichtsdiener (ebenso Igbo) misshandelt. Dem Dorf wird eine hohe Strafe auferlegt. Nach der Freilassung berät eine Dorfversammlung über die auferlegte Strafe, doch als die Gerichtsdiener diese Versammlung auflösen wollen, köpft Okonkwo einen von ihnen und erhängt sich selbst. Dies ist das letzte Aufbäumen dieser Dorfgemeinschaft der Igbo, die alte Ordnung zerfällt, die koloniale obsiegt.

Achebe schreibt sehr akribisch und detailliert, oft sind es beinahe emotionslose Schilderungen von extremen Gewalttaten, die nicht nur die Kolonialmacht verübt, die alte Igbo-Ordnung selbst ist überaus grausam. In einem ausführlichen Anmerkungsapparat wird sehr viel erklärt.

Die Igbo sind Ende der 1960er Jahre übrigens in das Weltbewusstsein gelangt, als sie im Südosten Nigerias einen unabhängigen Staat Biafra errichten wollten und in einem Krieg nicht nur bekämpft, sondern ausgehungert wurden. Die Bilder gingen um die Welt. Heutzutage sind die Igbo ein staatstragendes, mehrheitlich christliches Volk in Nigeria.

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02.06.2021 um 20:07
Thomas Pynchon - Vineland

Salman Rushdie hält das für Pynchons zugänglichsten Roman (Klappentext des Buches). Hmm...ich fand den jetzt nicht zugänglicher als bspw. "Natürliche Mängel" oder "Bleeding Edge".
Wer noch nie Pynchon gelesen hat: Der Mann labert einen voll, dass einem die Sinne schwinden (alles natürlich im besten Sinne :D ), lange Sätze voll mit Informationen, Metaphern, Abschweifungen in Hochsprache oder Slang und vieles mehr. Personen ohne Ende und zwischendrin, wenn man aus dem Rausch der Sätze, mal kurz auftaucht, fragt man sich ab und an, "Was geht hier eigentlich grad ab?" Tja, das ist gar nicht so einfach kurz zusammen zu fassen. Es geht um die 80er Jahre Reagonomics, Budgetkürzungen des Staates und den Überwachungsstaat. Eine ehemalige Linke namens Frenesi, hat sich als Spitzel für den gefürchteten Oberstaatsanwalt Brock Vond anheuern lassen, zudem noch eine Liaison mit ihm gehabt, dann gibt es noch ihre Freundin DL, eine Ninjette, die mit einem beinahe Opfer von ihr eine Firma zur "Karmischen Schadensregulierung" betreibt, einen alten Drogenbullen, der vor allem Frenesis Ex drangsaliert und alle sind auf der Suche nach dem Kind von Frenesi und ihrem Hippie-Ex...
Auch wenn man sich in der ersten Hälfte des Buches manchmal fragt, wohin das alles führen, was das alles bedeuten soll, am Ende fügt sich wie auf magische Weise ein Puzzelsteinchen ins nächste und man bekommt tatsächlich ein erkennbares Bild.
Ich lese Pynchon sehr gern, auch wenn es ab und an anstrengend ist, hat es sich bisher immer gelohnt, am Ball geblieben zu sein.


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02.06.2021 um 23:07
Thomas Bernhard - Die Ursache

Ursache

Dies ist der 1975 erschienene erste Band von Thomas Bernhards fünfbändiger Autobiographie, die jedoch sprachlich und inhaltlich gebrochen ist. Es gibt keinen einzigen Absatz, Informationen widersprechen sich. Zum Beispiel erinnert er sich einmal im Detail, warum er beim dritten Bombenangriff auf Salzburg nicht in den Stollen ging, sondern in den Keller musste, ein paar Seiten weiter schreibt er, dass er es nicht mehr wüsste. Verwirrt? Vermutlich nicht, eher ein Signal, dass persönliches Erinnern irren kann. Dieses Thema greift er mehrmals auf, indem er schildert, dass Menschen, die er in Salzburg trifft, sich an den Schrecken der Bombenzeit nicht mehr erinnern können. Ein weiteres Signal dafür ist, dass Bernhard zwischen der Ich-Form und der Er-Form hin und her springt. Bei den hochkomplexen Satzbauten ist es schwer vorstellbar, dass dies Fehler sind. Es scheint sich um sprachliche Botschaften zu handeln.

Dieser Text, der die Zeit von 1944 bis 1946 abhandelt, Thomas Bernhard im Alter von 13 bis 15, scheint die prägende Epoche in Bernhards Leben wiederzugeben. An den Beginn sind die seine Werke durchziehenden Phrasen gestellt. Salzburg (in anderen Werken Österreich) sei "ein menschenfeindlicher architektonisch-bischöflich-stumpfsinnig-nationalsozialistisch-katholischer Todesboden", bewohnt von einem "Menschengestrüpp aus Gemeinheit und Niedertracht".

Bernhard ist bereits als Kind von seiner nicht in Salzburg lebenden Mutter in ein Internat in Salzburg abgeschoben. Es gibt Verwandte in Salzburg, die reich sind, aber sich um ihn nicht kümmern, und einen verarmten Onkel, der sich als Kommunist und Erfinder durchs Leben schlägt. Aber letztlich ist er allein. Im Hauptschulinternat werden die Kinder von einem SA-Mann gedrillt, nach dem Krieg als Gymnasiast im selben, nun katholischen Internat von einem Pater Franz. Einen Unterschied in der Menschenführung kann er nicht erkennen.
Jetzt pilgerten wir ganz einfach gleich nach der ebenso wie in der Nazizeit ungründlichen Reinigungsprozedur in die Kapelle, um die Messe zu hören und um die Heilige Kommunion zu empfangen, genauso wie in der Nazizeit in den Tagraum, um die Nachrichten und die Instruktionen des Grünkranz zu hören, sangen jetzt Kirchenlieder, wo wir vorher Nazilieder gesungen hatten, und der Tagesablauf gestaltete sich auf katholisch als der gleiche im Grunde menschenfeindliche Züchtigungsmechanismus wie der nationalsozialistische.
Und weiter:
Das Internat hat mir dieses katholisch-nationalsozialistische Wesen tagtäglich mit der Eindringlichkeit des Authentischen vorgeführt, geistig eingeklemmt zwischen Katholizismus und Nationalsozialismus sind wir aufgewachsen und schließlich zerquetscht worden zwischen Hitler und Jesus Christus als volksverdummenden Abziehbildern.
Während der Beginn der Internatszeit noch als Zeit von Selbstmordgedanken und von improvisiertem Violinspiel in einer Schuhkammer beschrieben wird, richtet sich mit Annäherung der Kriegshandlung der Blick nach außen, und dieser ist verstörend, in dieser Form von mir noch nicht gelesen. So mussten die Bewohner Salzburgs und auch die Internatskinder bei Fliegeralarm in Stollen in den verschiedenen Bergen Salzburgs. Dort waren die Verhältnisse so eng und schlecht belüftet, dass Bernhard bei jedem Alarm viele ohnmächtige und verstorbene Menschen gesehen hat, die erstickt sind.

Luftangriffe haben schließlich Teile Salzburgs zerstört, Bernhard beschreibt Menschen, die verschüttet worden sind und deren Überreste nie aus dem Schutt geholt worden sind. Nie einem Begräbnis zugeführt worden sind. Über sie wurde schließlich nach dem Krieg drübergebaut. Beklemmend die Schilderung, wie er nach einem Bombenangriff auf einen abgrissenen Arm eines Mädchens getreten ist.

In den letzten Kriegsmonaten konnte er nicht mehr im beschädigten Internat leben, sondern fuhr täglich mit dem Zug aus dem bayrischen Traunstein, wo seine Mutter und sein Großvater lebten, nach Salzburg, kam aber oft nicht an. Gezielt wurden Lokomotiven aus der Luft beschossen. Und wenn er ankam, sah er permanent am zerstörten Salzburger Bahnhof liegengebliebene Leichen. An Schule war nicht mehr zu denken.

Nach Kriegsende begann er auf Wunsch seines Großvaters eine Gymnasialbildung in Salzburg und wohnte wieder im selben Schülerheim wie während des Kriegs (siehe oben). Die Schulausbildung selbst war für ihn eine Qual, er sah sie als geistesvernichtend. Besonders nahm ihn mit, wie ein wegen Polio gelähmter Mitschüler und ein verwachsener, hässlicher, jedoch hochintelligenter Geografielehrer Spott und Hohn ausgesetzt waren. Bernhard verallgemeinert seine individuellen Erfahrungen:
Die Gemeinschaft als Gesellschaft findet immer den Schwächsten und setzt ihn skrupellos ihrem Gelächter und ihren immer neuen und immer fürchterlicheren Verspottungs- und Verhöhnungstorturen aus
Da die Grenze zwischen Österreich und Deutschland nach Kriegsende geschlossen war, wagte Bernhard alle zwei Wochen für ein Wochenende einen illegalen Grenzübertritt von Salzburg nach Traunstein und zurück, um seine Familie, vor allem seinen Großvater zu besuchen. Als jedoch Deutschland binnen kürzster Zeit eine Entscheidung bezüglich Staatsbürgerschaft einforderte, entschied sich seine Familie für Österreich und Salzburg.

Der Text endet, dass Bernhard als 15-Jähriger aufs Arbeitsamt geht, weil ihn das Gymnasium nur mehr nervt, und eine dreijährige Lehre in einem Lebensmittelgeschäft beginnt.


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03.06.2021 um 10:11
August Strindberg - Gespenstersonate

GespenstersonateOriginal anzeigen (0,3 MB)

Dieses wohl berühmteste Kammerspiel August Strindbergs aus dem Jahr 1908 thematisiert in einer Groteske die Lügenhaftigkeit der bürgerlichen Gesellschaft. Dominiert wird das Stück von alten Männern, die sich regelmäßig zu einem gespenstischen Abendessen bei einem adeligen Oberst treffen. Durch einen Greis (Direktor Hummel) und einen Studenten namens Arkenholz wird in diese Gesellschaft eingedrungen und sie bloßgestellt:

Der adelige Oberst (früher Diener) hat seinen Adelstitel gestohlen und der Militärrang ist ungültig.
Dessen Diener war früher Adeliger.
Seine Frau lebt als Mumie in einer Abstellkammer und spricht wie ein Papagei.
Seine schöne Tochter lebt in einem Hyazinthenzimmer, ist aber die leibliche Tochter des Greises.

Der Greis lebt davon, dass er Schuldverschreibungen aufkauft und die Schuldner in den Ruin treibt, so auch den Vater des Studenten. Dies hat er nun mit dem Obersten vor. Jedoch ist er selbst ein Betrüger, der Schuldverschreibungen fälscht und bei einem Aufenthalt in Hamburg aus Selbstschutz ein Milchmädchen ermordet hat. Der Student kann als Sonntagskind in traumhaften Szenen das Milchmädchen am Brunnen sehen. Strindberg gibt ihm Seherkraft, was dessen Schlussfolgerungen am Ende des Stücks einen Anspruch auf Wahrhaftigkeit verleiht.

Bereits zu Beginn des Stücks warnt der Diener des Greises den jungen Studenten vor dem Alten:
Er will herrschen ... Den ganzen Tag zieht er umher in seinem Wagen wie der Gott Thor ... er besieht Häuser, reißt sie ein, erschließt Straßen, bebaut Marktplätze; aber er bricht auch in Häuser ein, kriecht durch Fenster, zerstört Menschenschicksale, tötet seine Feinde und verzeiht niemals.
Die mumienhafte Frau des Oberst offenbart es und spricht ihn gar nicht mehr papageienhaft an:
Du bist ein Menschendieb, denn du hast mich einstmals mit falschen Vorspiegelungen gestohlen; du hast den Konsul, der hier gestern begraben wurde, gemordet; du hast ihn mit Schuldscheinen erwürgt; du hast den Studenten gestohlen, indem du ihn bandest mittels fingierter Schulden seines Vaters, der dir nie einen Heller schuldig war ...
Der alte Greis verschwindet hinter den Todesschirm und erhängt sich.

Aber auch die Jugend hat in der Schlussszene keine Hoffnung auf Liebe. Der Student und das Hyazinthenmädchen finden in ihrem Gespräch nicht zueinander, das Mädchen geht hinter den Todesschirm und stirbt. Resigniert bleibt der Student zurück und sieht das wahre Glück nur noch in der Fantasie, jedoch nicht in der Lebensrealität:
Durch zu langes Schweigen bildet sich stillstehendes Wasser, das fault, und so ist es hier im Hause ebenfalls. Hier ist etwas faul! Und ich glaubte, es sei das Paradies, als ich Sie hier zum erstenmal hineingehen sah ... Da stand ich am Sonntagmorgen und sah hier hinein; ich sah einen Obersten, der kein Oberst war, ich hatte einen edlen Wohltäter, der ein Bandit war und sich erhängen mußte, ich sah eine Mumie, die keine war, und eine Jungfrau, apropos, wo findet man Virginität? Wo findet man Schönheit? In der Natur und in meinem Gemüt, wenn es sein Sonntagsgewand trägt! Wo findet man Treu und Glauben? In den Märchen und in den Kindervorstellungen! Wo findet man das, was hält, was es anspricht? In meiner Phantasie
Strindberg macht aber auch durch den Studenten deutlich, dass das Kammerspiel nicht Einzelne darstellt, sondern die Gesellschaft selbst:
ich weiß, daß die Welt zusammenstürzen würde, wenn man wirklich aufrichtig wäre.
Dieses resignative Alterswerk Strindbergs war zunächst ein Flop, mit einer Aufführung von Max Reinhardt in Berlin 1916 begann sein Weltruhm, und heutzutage zählt es zu den bedeutendsten Theaterstücken und gilt als Beginn der Moderne.


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03.06.2021 um 10:15
Zitat von NarrenschifferNarrenschiffer schrieb:Todesschirm
Was versteht man hierunter?


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03.06.2021 um 10:18
Zitat von nairobinairobi schrieb:Was versteht man hierunter?
Das entscheidet vermutlich die Regie. Ich stelle mir sowas wie einen Paravent vor. Hier ein Textbeispiel:
DIE MUMIE öffnet die Garderobentür. Jetzt hat die Uhr geschlagen! – Steh auf, geh in die Garderobe hinein, wo ich zwanzig Jahre gesessen und unser Vergehen beweint habe. – Da drinnen hängt eine Schnur, die kann die vorstellen, mit der du den Konsul da oben erdrosseltest, und mit der du deine Wohltäter erdrosseln wolltest ... Geh!
DER GREIS geht in die Garderobe.
DIE MUMIE verschließt die Tür. Bengtsson! Setz den Schirm vor die Tür. Den Todesschirm!
BENGTSSON setzt den Schirm vor die Tür.
DIE MUMIE. Es ist vollbracht! – Gott sei seiner Seele gnädig!
ALLE. Amen!



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03.06.2021 um 23:07
Keine zweite Chance

von Harlan Coben

Als die erste Kugel in meine Brust einschlug, dachte ich an meine Tochter.“ Als Marc Seidman wieder zu Bewusstsein kommt, liegt er auf der Intensivstation, seine Frau ist tot, und von seiner sechs Monate alten Tochter Tara fehlt jede Spur. Doch Tara lebt: Eine Lösegeldforderung trifft ein, die Marc neue Hoffnung gibt. Die Entführer geben Marc allerdings nur eine Chance, seine Tochter wieder zu sehen. Doch die Lösegeldübergabe geht schief …


chance


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04.06.2021 um 14:39
Friedrich Schiller - Kabale und Liebe

kabale

1784 vom 25-jährigen Friedrich Schiller geschrieben, wird die Thematik des von Lessing geprägten bürgerlichen Trauerspiels aufgegriffen, doch anders als in Emilia Galotti ist hier der junge Adelige kein sexuell besessener Egomane, der sich nehmen will, was er kriegen kann, sondern die Traditionslinie von Shakespeares Romeo und Julia wird aufgegriffen: Zwei Liebende können nicht zueinanderfinden, da eine die Stände überschreitende Liebes- und Ehebeziehung von der Elterngeneration mit allen Mitteln der Intrige verhindert wird und die beiden Liebenden in den Tod getrieben werden.

Die Gesellschaft, die Schiller vorstellt, ist eine teuflische. Im Schatten des nie auftretenden Fürsten werden Karrieren durch Intrige und Gewalttaten geschmiedet. Der Präsident des Fürsten will, dass sein Sohn Ferdinand standesgemäß eine aus England geflohene Adelige Lady Milford von Norfolk heiratet und seinen Fußstapfen nachfolgt. Doch dieser liebt Luise, die 16-jährige blonde Tochter eines Musiklehrers, deren Mutter diese Verbindung fördert, deren Vater jedoch vor so einer Beziehung zurückschreckt, da seine Tochter ja doch nur als Hure eines Adeligen gesehen würde. Er möchte sie lieber mit dem bürgerlichen Sekretär des Fürsten Wurm verheiraten, aber nur wenn Luise einverstanden ist (da blitzen Schillers Überzeugungen durch):
Ich zwinge meine Tochter nicht. Stehen Sie ihr an – wohl und gut, so mag sie zusehen, wie sie glücklich mit Ihnen wird. Schüttelt sie den Kopf – noch besser – – in Gottes Namen wollt ich sagen – – so stecken Sie den Korb ein, und trinken eine Bouteille mit dem Vater – Das Mädel muß mit Ihnen leben – ich nicht – warum soll ich ihr einen Mann, den sie nicht schmecken kann, aus purem klarem Eigensinn an den Hals werfen?
Wurm selbst gibt dem Präsidenten die Idee in den Kopf, dass Luise einen falschen Liebesbrief an den Hofmarschall Kalb schreiben soll, der zufällig in die Hände Ferdinands fallen soll. Wegen eines Streits mit Gerichtsdienern werden die Eltern Luises in Haft genommen (Aufstand gegen den Fürsten) und Luise schreibt unter Nötigung diesen Brief. Bis zuletzt glaubt Ferdinand, dass Luise mit Kalb eine sexuelle Liebesbeziehung hat (die er nie genossen habe) und vergiftet sie am Ende. Als sie schließlich im Sterben gesteht, dass der Brief eine von seinem Vater erpresste Lüge war, nimmt auch Ferdinand sich das Leben.

Das Stück ist sprachlich ein "typischer Schiller": Lange Monologe, deklamatorische Dialoge, Ausrufe. Auch ist nicht klar, warum am Ende Luise den Tod fürchtet, wo sie zweimal vorher schon sich das Leben hat nehmen wollen und sogar einen Plan geschmiedet hat, mit Ferdinand gemeinsam in den Tod zu gehen, da sie nicht in einer Gesellschaft leben wolle, in der sie nicht gelitten sei.

In das Stück eingeflochten sind durchaus tagespolitische Ereignisse. In größerem Rahmen spiegeln sich diese in Lady Emilie Milford, eine aus England geflohene Waise mit echtem Namen Johanna von Norfolk. Ihr Vater wird, als sie 14 Jahre alt ist, wegen angeblichen Landesverrats an Frankreich hingerichtet, ihre Mutter stirbt am selben Tag. Mittellos in Hamburg lebend, nimmt sie der Herzog (im Stück erinnert Vieles an die Herrschaft Karl Eugens in Württemberg) zur Mätresse. Sie ist von den Intrigen am Hof, aber auch vom Leiden der Bevölkerung abgeschreckt, will es jedoch lindern. Schiller gibt ihr einen zwiespältigen Charakter. Einerseits glaubt sie an die unbedingte Liebe, bei der auch eine starke Frau Sklavin sein kann, andererseits hält sie eine Ehe zwischen Adeligen und Bürgerlichen für nicht gemäß. Sie verliebt sich auch wirklich in Ferdinand, doch als sie den edlen Charakter Luises kennenlernt, räumt sie das Feld und zieht weg, um das Land den "Deutschen" zu überlassen (Schiller hatte durchaus frühnationalistische Anwandlungen).

Eine der von Milford mit Abscheu beobachteten Handlungen ist der Verkauf von jugen Männern als Soldaten in den amerikanischen Kolonialkrieg. Dieser wurde nicht nur mit Freiwilligen beschickt, sondern es werden auch junge Männer zwangsrekrutiert. Der Herzog erhält pro ausgehobenem Soldaten ein Kopfgeld. Der Kammerdiener von Lady Milford berichtet ihr in eindringlicher Deutlichkeit über ein Massaker an jungen Männern, welche protestierten, Opfer dieses Menschenhandels zu sein:
Es traten wohl so etliche vorlaute Bursch vor die Front heraus und fragten den Obersten, wie teuer der Fürst das Joch Menschen verkaufe? – aber unser gnädigster Landesherr ließ alle Regimenter auf dem Paradeplatz aufmarschieren und die Maulaffen niederschießen. Wir hörten die Büchsen knallen, sahen ihr Gehirn auf das Pflaster sprützen, und die ganze Armee schrie: Juchhe nach Amerika!
Schockiert auch von den Berichten über Zwangsarbeit verrichtende Gefangene, will sie diesem tyrannischen Gebaren Einhalt gebieten. Politik übers Bett, wenn man so will.

Am 13. April 1784 wurde das Stück sehr erfolgreich in Frankfurt/M. uraufgeführt, aber sofort in Stuttgart und Wien mit einem Aufführungsverbot belegt. Erst nach einer Aufführung durch Max Reinhardt 1924 gelangte es in den regelmäßigen Spielplan deutschsprachiger Theater.


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04.06.2021 um 23:08
Henrik Ibsen - Ein Puppenheim

puppenheim

Das 1879 erschienene Drama Ibsens gilt als das naturalistische Drama schlechthin, sprengt jedoch die Konventionen der naturalistischen Idee, indem Nora Helmer (die Namensgeberin des Stückes in vielen deutschen Übersetzungen, ich belasse es beim Originaltitel) am Ende des Stücks nicht mehr die durch Zeitumstände, Milieu und Abstammung determinierte Person ist, sondern selbständig handelt.

Nora Helmer ist seit acht Jahren mit ihrem Mann Torvald verheiratet, sie haben drei Kinder und wohnen in einer gutbürgerlichen Wohnung mit Haushälterin und Kindermädchen. Das Stück beginnt am Tag des Weihnachtsabend, sie kommt von Einkäufen zurück, ist gut gelaunt, für ihren Mann ist sie eine Lerche und ein Eichkätzchen. Dass diese Idylle ein Schein sein könnte, lässt sich erahnen, dass ihr Mann, der ab Neujahr Direktor einer Bank sein wird, ihre Verschwendungssucht beklagt und ihr verbietet, Nusskuchen zu essen. Der Zähne wegen.

Mit Besuchen einer alten Freundin, Christine Linde, deren Mann gestorben ist, und einem regelmäßig die Familie besuchenden Arzt, entpuppt sich ein Geheimnis. Vor Jahren war Torvald schwer krank und die Ärzte empfahlen einen Aufenthalt im Süden. Gegenüber ihrem Mann hat Nora immer angegeben, dass ihr Vater die einjährige Reise nach Süditalien bezahlt habe, doch in Wirklichkeit hat sie das Geld von dem Anwalt Nils Krogstad geliehen, der das Wuchergeschäft betrieben hat, weil der wegen einer gefälschten Unterschrift aus dem regulären Berufsleben geworfen worden ist. Nora selbst fälscht die Unterschrift ihres Vaters als Bürgen, die sie benötigt hat, da Frauen per Gesetz Geldgeschäfte verboten sind. Krogstad kommt hinter die Fälschung, da die Unterschrift drei Tage nach dem Tod des Vaters datiert ist.

Als ihr Mann Krogstad als kleinen Angestellten bei der Bank kündigt, um Christine Linde anzustellen, erpresst Krogstad mit einem Brief an Torvald die Familie, in dem er das Geheimnis von Nora offenbart. Am zweiten Weihnachtstag liest Torvald diesen, aber während des Lesens und der großen Vorwürfe an Nora, kommt ein Rückzug von dieser Drohung und der Schuldschein zurück, da Krogstad und Linde (alte Jugendlieben) wieder zueinander gefunden haben.

Torvald ist überglücklich, dass er nun nicht mehr in seinem Fortkommen bedroht ist, und will seine Ehe wie zuvor fortführen, doch Nora ist nun völlig angeekelt. Sie hält ihm, aber auch ihrem Vater, vor, sie nicht als Menschen behandelt zu haben. Hier in geraffter Form Noras Tirade:
Ihr habt viel an mir gesündigt, Torvald. Zuerst Papa, dann Du. Ihr habt mich nie geliebt. Euch machte es nur Spaß, in mich verliebt zu sein. Als ich zu Hause war bei Papa, teilte er mir alle seine Ansichten mit, und so hatte ich dieselben Ansichten. War ich aber einmal anderer Meinung, dann verheimlichte ich das; denn es wäre ihm nicht recht gewesen. Er nannte mich sein Puppenkind, und spielte mit mir, wie ich mit meinen Puppen spielte. Dann kam ich zu Dir ins Haus.

Du richtetest alles nach Deinem Geschmack ein, und so bekam ich denselben Geschmack wie Du; aber ich tat nur so: ich weiß es nicht mehr recht – vielleicht war es auch beides: bald so und bald so. Wenn ich jetzt zurückblicke, so ist mir, als hätte ich hier wie ein Bettler gelebt, – nur von der Hand in den Mund. Ich lebte davon, daß ich Dir Kunststücke vormachte, Torvald. Aber Du wolltest es ja so haben. Du und Papa, Ihr habt Euch schwer an mir versündigt. Ihr seid schuld daran, daß nichts aus mir geworden ist. Aber unser Heim ist nichts anderes als eine Spielstube gewesen. Hier bin ich Deine Puppenfrau gewesen, wie ich zu Hause Papas Puppenkind war. Und die Kinder, die waren wiederum meine Puppen.
Auf die Replik von Torvald, dass nun die Zeit des Spiels vorbei sei und die Zeit der Erziehung komme, vollzieht Nora den Bruch:
Ich muß trachten, mich selbst zu erziehen. Und Du bist nicht der Mann, mir dabei zu helfen. Das muß ich allein vollbringen. Und darum verlasse ich Dich jetzt.
Noch am selben Abend verlässt Nora die Wohnung und hat auch nicht mehr den Wunsch, ihre Kinder nochmal zu sehen. Jeglichen Kontakt danach verbittet sie sich, auch wenn sie weiß, dass ihr nach norwegischem Recht in diesem Falle keine Unterstützung durch ihren Ehemann zusteht.

Auch mit dem naturalistischen Gedanken, dass Menschen durch ihre Abstammung geprägt werden, bricht Ibsen auf ironische Art. Torvald wirft seiner Frau mehrfach vor, ihren verschwenderischen und leichtfertigen Charakter von ihrem Vater geerbt zu haben. Am Ende belehrt sie ihn eines besseren.

Und als Draufgabe finden sich noch die überspitzten Aussagen des Doktor Ranke, der seine Rückenmarkschwindsucht (eine Spätfolge von Syphillis) auf das sexuell ausschweifende Leben seines Vaters zurückführt. Politisch lehnt er jegliche staatliche Krankenfürsorge ab, da ansonsten die Gesellschaft zu einer Krankenanstalt werde. Ibsen zieht mit dieser Figur alle gesellschaftspolitischen Register.

Die deutsche Uraufführung fand bereits 1880 in Hamburg statt, wo das Ende aus Rücksicht auf Konventionen umgeändert wurde: Nora blieb wegen der Kinder. In München wurde noch im selben Jahr das Stück in der Originalversion aufgeführt.


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04.06.2021 um 23:43
Charles Asselineau - Die Hölle des Bibliomanen

Buecherwahn

Charles Asselineau war Bibliothekar in der Vorgängerbibliothek der jetzigen französischen Nationalbibliothek, Kunst- und Literaturhistoriker, Schriftsteller und Büchersammler. Sehr eng befreundet war er mit Charles Baudelaire. In dieser kurzen Erzählung durchlebt ein Ich-Erzähler drei Höllenkreise des Sammlerdaseins.

In seiner Bibliothek erscheint eines Tages ein dämonisch wirkender Mann, und dieser Dämon treibt ihn zu Handlungen, die in die Hölle eines Büchersammlers führen:

1. Am Pariser Kai an der Seine kauft er Unmengen wertloser Bücher.
2. Diese lässt er teuerst bei einem erstrangigen Buchbinder binden.
3. Bei einer Buchauktion ersteigert er Bücher zu weit überhöhten Preisen.

Am Ende des Tages ist er so hoch verschuldet, dass er seine hochwertige und teure Bibliothek den Gläubigern überlassen muss, damit er den wertlosen Tand abzahlen kann.

Als nach langem Schlaf ihn ein Freund besucht und zum Mittagessen lädt, stellt sich heraus, dass dies alles nur ein Albtraum gewesen sein muss. Alle seine wertvollen Bücher sind noch in bester Ordnung vorhanden.

Die Erzählung ist wohl eine Mischung aus Selbstironie und eigenen Ängsten, aber sie präsentiert auch die nicht bibliophile Seite der Bibliomanie: Werke werden als Spekulationsobjekt gekauft, so auch oft im Augenblick wertlose Einzelbände von Serien, die nach Jahrzehnten als fehlende Exemplare zu hohen Preisen verkauft werden können, um Sammlungen zu vervollständigen, die sich auch nicht in der Nationalbibliothek finden lassen.

Ob das Loblied auf ein Büchlein ironisch ist oder dem Empfinden Asselineaus entspricht, ist schwer zu erschließen:
"Oh, du bezauberndes Büchlein!" sagte ich, "du kleine Manon Lescaut, so schön gedruckt von Didot im Jahr 1797! Gepriesen sei der Liebhaber, der dich so gut aufbewahrt hat, gewaschen, geleimt und in braunes Maroquin gekleidet; gesegnet sei der Buchbinder, der dich gebunden hat, der Wäscher, der dich gewaschen, die Person, die dich geleimt hat."
Nette kleine Geschichte.


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06.06.2021 um 20:16
Kein böser Traum

von Harlan Coben

Grace Lawson will nur die Schnappschüsse vom letzten Familienausflug durchsehen, als plötzlich ihr ganzes bisheriges Leben aus den Fugen gerät. Denn ein Foto passt nicht zu den übrigen, es scheint vor ungefähr 20 Jahren aufgenommen worden zu sein und zeigt lauter Unbekannte – bis auf eine Person: ihren Ehemann Jack. Dann verschwindet Jack, und alle Spuren führen Grace an einen Ort, den sie nur aus ihren bösen Träumen kennt …

traum


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09.06.2021 um 22:30
Frank Witzel - Inniger Schiffbruch

SchiffbruchOriginal anzeigen (0,1 MB)

Ein in der Kritik gelobtes, aber für mich schwer zugängliches Buch. Witzel schreibt in über 400 Seiten über den Tod seiner Eltern und wie er deren Leben sowie sein eigenes anhand von schriftlichen wie bildlichen (Fotos, Super-8-Filme) Überresten rekonstruiert, die er beim Sichten der Bestände im leerstehenden Elternhaus findet. Struktur gibt es keine, es ist ein Assoziationsflickwerk, das immer wieder von Lesefrüchten autobiographischer Texte (Thomas Bernhard zum Beispiel) sowie Träumen (es erscheint ein Nashorn im Elternhaus und einmal Adorno) durchsetzt ist. So gibt es Historisches (die Nazizeit spielt immer wieder eine Rolle bei Großeltern und auch Eltern, die Mutter eine Vertriebene aus Gleiwitz) und Nabelschauen, als ob Witzel seine eigene Kindheit nochmal leben möchte. Dazu kommen Vergleiche seines eigenen Lebens als Reflektierender, der als Mitt-Sechziger vergleicht, wie seine Eltern in dem selben Alter gelebt haben.

Mit Knausgards Sezierungen hat dieser Text überhaupt nichts zu tun, er bleibt sehr oberflächlich. Die ständige Wiederkehr zu Fotos und Super-8-Filmen zeigt letztlich nur eine Oberfläche. Dass ein Panoptikum Westdeutschlands der 60er Jahre gezeigt wird, wie in manchen Kritiken hervorgehoben wird, erschließt sich mir nicht. Denn dann bestände dieses Land nur aus Leuten, die vor dem Fernseher hocken, wenn sie nicht gerade arbeiten. Und das ist nicht unbedingt eine bildungsferne Familie gewesen, der Vater Leiter eines Orchesters in Wiesbaden. Die Mutter Hausfrau (dann doch typisch).

Nur einmal wird mit einer Figur aus der langweiligen "Erinnerungsarbeit" (so nennt Witzel seine Arbeit am Text) ausgebrochen. Ein gewisser Sattler sitzt laut Aufzeichnungen seines Vaters paranoid in einem Irrenhaus und fantasiert über Verfolgungen durch Geheimdienste. Leider ist die Passage nur kurz, aber über Sattler hätte ich gerne mehr gelesen, da nicht nur die Figur interessant ist, sondern mit ihr Witzel auch richtig gut zu schreiben beginnt.

Manchmal bricht durch, dass Witzel sein eigenes Leben auch nicht sehr aufregend findet. So zum Beispiel mit der Feststellung, dass er eigentlich außer seinen Lebensrecherchen nur mit dem Fahrrad zum Rewe fahre, um Tütensuppen zu kaufen. Typisch wird viele Seiten später diese Art von langweiligem Leben auf Grundlage von Texten des ungarischen Autors Imre Kertész (mit einem Aufenthalt im KZ Auschwitz war dessen Leben wohl eher nicht "langweilig") interpretiert: Es werde ein von außen determiniertes Leben geführt, das aufgrund von fehlenden Entscheidungsmöglichkeiten kein Schicksal mehr haben könne. Keine Ahnung, warum Witzel sich mit einem Auschwitzhäftling vergleicht.

Ohne selbst den Tod der eigenen Eltern bereits erfahren zu haben, hätte ich diesen Text (Roman ist es eigentlich keiner) kaum zu Ende gelesen. Trotz der sprachlichen Meisterschaft, die Witzel durchaus besitzt, ist das alles zu dahinplätschernd und manchmal zu zynisch. Zum Beispiel wenn er die Fantasien seines demenzkranken Vaters, der abends im Rollstuhl vom Wohnraum ins Schlafzimmer geschoben wird und meint, mit einem Auto in die Wohnung einer Geliebten gefahren zu werden, die spiegelverkehrt zu seiner sei, mit dem literarischen Doppelgängermotiv vergleicht, würde ich mir einen strengen Lektor wünschen, der Witzel begleitet hätte. Vielleicht wäre nicht eine solche orientierungslose Psychotherapiesitzung als Text erschienen. Und ja, er beginnt mit einem Gespräch Witzels mit seiner Therapeutin. Ob es die gibt, weiß ich nicht. Ist aber egal. Denn die Therapeutin sind wir Leser, die uns diesen Monolog geben, während Witzel auf der Couch ihn spricht/schreibt.


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10.06.2021 um 21:22
Hinter diesen Türen

von Ruth Ware

Ein Haus in den Highlands – das zum Albtraum wird

Es schien der ideale Job zu sein: Rowan Caine ist überglücklich, als sie die Stelle als Kindermädchen in einem einsam gelegenen Haus in Schottland bekommt – bei einer perfekten Familie mit vier Töchtern. Doch in kürzester Zeit wird der vermeintliche Traumjob zum absoluten Albtraum. In dem Haus, das eine denkmalgeschützte Fassade hat und – im krassen Gegensatz dazu – innen mit einer High-Tech-Ausstattung aufwartet, geschehen beängstigende, unerklärliche Dinge. Rowan fühlt sich ständig beobachtet, nicht nur von den Überwachungskameras, die in jedem Zimmer hängen. Auch das Verhalten der Kinder wird immer seltsamer. Bis es einen schrecklichen Todesfall gibt – und Rowan unter Mordverdacht gerät.

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10.06.2021 um 22:44
Arno Holz - Papa Hamlet

Papa Hamlet

1889 bringen das Autoren-Duo Arno Holz und Johannes Schlaf einen Erzählband mit drei Erzählungen auf den Markt, aber nicht unter ihren Namen, sondern als fingierte Übersetzung eines nicht existierenden norwegischen Schriftstellers namens Bjarne P. Holmsen aus Trondheim. Sie springen damit auf die Naturalismus-Welle auf und der Grund, warum sie einen Norweger wählen, heißt wohl Ibsen, der zu der Zeit der Renner war.

Die Titelgeschichte radikalisiert naturalistische Themen und Motive, kontrastieren diese jedoch ironisch mit dem Verweis auf eines der bekanntesten Dramen der Hochkultur.

Schauplatz ist - sehr naturalistisch - ein verarmter Haushalt. Der aus eigener Schuld arbeitslose Hamlet-Darsteller Niels Thienwiebel lebt mit seiner Frau, die mit Stickereien noch Geld herbeischafft, und mit einem gemeinsamen, dauernd schreienden Säugling in Untermiete. Mit den Mietzahlungen sind sie in Rückstand, es droht die Delogierung.

Niels Thienwiebel rezitiert zu Beginn immer wieder Textstellen aus Hamlet, das Kind ist auch noch mit dem Namen Fortinbras getauft, auch werden noch Freunde zum Skat-Spielen geladen, doch mit der Zeit enden diese Spielrunden, die Vermieterin wird aggressiver wegen der Rückstände, und der schreiende Säugling treibt Niels immer mehr an den Rande des Wahnsinns. Einmal schon drückt er das Kissen auf seinen Mund, wobei die Tötung noch verhindert werden kann, beim zweiten Mal ist das Kind tot. Affektmord. Der Mann wird beim aggressiven Beischlaf mit seiner Frau durch das Schreien gestört. Eine Woche später wird Niels Thienwiebel erfroren im Schnee aufgefunden. Ein Rauschopfer. Seine Frau Amalie wird wahnsinnig. Die Erzählung endet.

Das ist wohl eines der radikalsten Werke des Naturalismus. Suff, Lebenssituation und die Zeit der Arbeitslosigkeit ergeben eine toxische Mischung, die Niels Thienwiebel zur Tötung des Kinds treibt.

Holz und Schlaf trieben in einer gemeinsam bewohnten Wohnung in Berlin die Kunstrichtung des Naturalismus ins Extrem, und sie förderten die Publizität durch das Spiel des nicht existenten norwegischen Autors. Wohl wissend, dass unter ihren echten Namen diese Erzählung in ihrer Radikalität vernichtet wird. So sind die Auszüge aus zeitgenössischen Rezensionen, die diesem Band vorausgehen, auch sehr gemischt. Von Begeisterung über Irritierung bis zur Ablehnung. Fun fact: Selbst Rezensionen aus dem skandinavischen Raum fallen auf die Norwegen-Story rein.

Heutzutage wird diese Erzählung noch zum Teil an Schulen gelesen, wobei sie jedoch beschnitten wird. Es werden Stilanalysen zum sogenannten Sekundestil eingefordert. Sprich: Die Lebenssituation der Familie Thienwiebel wird oft so beschrieben, dass wie in einem Film Beschriebenes und Lesedauer identisch ist. Damit schafft man auch eine Distanzierung zum Dargestellten. Aber solche Familienkatastrophen stehen auch heute immer noch in den Zeitungen. Der Hintergrund ähnelt immer noch den hier beschriebenen desolaten Lebensumständen.

Aktuell? Immer noch.


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11.06.2021 um 12:15
Hinter diesen Türen-
überraschendes End , unglaublich

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Der Polizist:

von John Grisham

Jake Brigance, Held der Bestseller »Die Jury« und »Die Erbin«, ist zurück. Diesmal steht er als Pflichtverteidiger im Zentrum eines aufsehenerregenden Mordprozesses in Clanton, Mississippi. Sein Mandant Drew Gamble hat einen örtlichen Deputy umgebracht – doch war es Notwehr oder Mord? Die Mehrheit von Clanton fordert lautstark einen kurzen Prozess und die Todesstrafe. Dabei ist Drew Gamble gerade einmal 16 Jahre alt. Jake Brigance arbeitet sich in den Fall ein und versteht schnell, dass er alles tun muss, um den Jungen zu retten. Auch wenn er in seinem Kampf für die Wahrheit nicht nur seine Karriere, sondern auch das Leben seiner Familie riskiert.

polizist


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13.06.2021 um 22:19
Arthur Schnitzler - Therese

Therese

Dieser 1928 erschienene Altersroman von Schnitzler begleitet über 20 Jahre lang das harte Leben einer alleinstehenden Mutter im Habsburgösterreich vor dem Ersten Weltkrieg bis zu ihrem tragischen Tod.

Therese wächst in einer Offiziersfamilie in Wien auf, ihre Mutter stammt aus kroatischem Adel. Nach der Pensionierung des Vaters zieht die Familie ins Salzburger Land, der Vater verstirbt jedoch bald, nachdem er aus Verwirrtheit ins Irrenhaus gekommen ist. Die Mutter widmet sich immer mehr ihrer Tätigkeit als Romanschriftstellerin, finanziell beginnt ein Abstieg. Therese hat einige Liebesverhältnisse, ihr Bruder zieht zum Medizinstudium nach Wien zurück, wohin Therese auch flieht, als sie aus Geldgründen mit einem alten Grafen verheiratet werden soll.

In Wien verdient sie ihr Geld als Erzieherin in verschiedenen Familien, und von einer Zufallsbekanntschaft wird sie schwanger. Sie strebt zwar eine Abtreibung an, doch schreckt sie zurück, als einer der Abtreibungsärzte verhaftet worden ist. Noch bei der Geburt ihres Sohnes möchte sie ihn am liebsten mit Pölstern ersticken, gibt ihn aber schließlich einer Bauernfamilie in einem Dorf gegen Geld in Pflege.

Die nächsten 20 Jahre lebt Therese zunächst von ihrem Einkommen als Erzieherin, schließlich verdient sie ihr Geld als ungeprüfte Privatlehrerin. Eine fixe staatliche Anstellung ist nicht möglich, da sie keine formale Ausbildung als Erzieherin oder Lehrerin abgeschlossen hat. Ihr Liebschaften werden seltener, eine geplante Hochzeit als 40-Jährige scheitert am Tod ihres Verlobten.

Ihr Sohn Franz wächst als unsteter Junge auf, der Schule schwänzt und schließlich auf Abwege gerät, sich Diebsbanden anschließt und Zuhälterei betreibt. Mehrfach sitzt er im Gefängnis, immer wieder und immer aggressiver bedrängt er seine Mutter um Geld, ihr auch seine uneheliche Herkunft und die Abschiebung vorwerfend, bis schließlich als 20-Jähriger er sie auf der Suche nach Geld in ihrer Wohnung fesselt und knebelt, sodass Therese an den Folgen stirbt. Vor ihrem Tod fleht sie noch, ihrem Sohn mildernd nachzusehen, da sie selbst ihn ja töten wollte, der Richter kommt diesem Ansinnen nicht nach. Franz wird zu 12 Jahren schwerem Kerker verurteilt.

Auch wenn letztlich der Roman zur Katastrophe führt und Schnitzler meisterhaft das Leben Thereses vorführt, so ist die Umsetzung dieses Lebens zum Teil langatmig zu lesen. Muss es auch sein. Denn es ist der soziale Abstieg und das Nichtgelingen des Wiedereinstiegs in die gehobene bürgerliche Gesellschaft, das Theresens Leben prägt. Wieder und wieder werden die Familien vorgestellt, deren Kinder sie erzieht oder unterrichtet, der Versuch, ihnen näher zu kommen, was manchmal gelingt, aber nie dauerhaft. Ebenso verhält es sich mit ihren Liebesbeziehungen, die aus unterschiedlichsten Gründen nie zu einer beständigen Form finden. Am Ende hat Therese als 40-Jährige sogar Angst vor der Ehe, weil sie trotz ihrer ständigen Geldsorgen begonnen hat, das Alleinsein und die Selbständigkeit zu schätzen.

Interessant, wie der aus einer jüdischen Arztfamilie stammende Schnitzler den Wiener bürgerlichen Antisemitismus in den Roman einwebt. Thereses Bruder schließt sich als Student der Deutschnationalen Partei an, und Therese lässt er von der "Verjudung" der akademischen Welt sprechen, obwohl sie selbst Liebesbeziehungen zu jüdischen Männern hat und am Ende sogar gewillt ist, einen jüdischen Lederwarenhändler zu heiraten. Bei einem Erscheinungsjahr 1928 ist anzunehmen, dass Schnitzler durchaus auch gegenwärtige politische Strömungen anspricht und den Antisemitismus nicht als historisches Phänomen einflicht.

Schnitzler zählt zu den ganz Großen, aber letztlich ist er ein Großmeister des Dramas und der Erzählung. Insgesamt hat er nur zwei Romane veröffentlicht, dies war sein zweiter.


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14.06.2021 um 19:05
Leben im Mittelalter.
Der Alltag von Rittern, Mönchen, Bauern und Kaufleuten.


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14.06.2021 um 23:34
Die Reise mit der Zeitmaschine (Wastl 5)

Wastl5Original anzeigen (0,3 MB)

Diesmal besucht ein Archäologenehepaar mit einem überstarken Kind, das in seinem Überschwang alles und jeden durch die Gegend schmeißt, zu den Goldmasken. Das Rätsel ist bald gelöst: Der kleine Bub hat einen Zaubertrank der Berserker aus einem geborgenen Wikingerschiff getrunken. Ein Gegenmittel gibt es nicht mehr, auch ist das Wissen verloren gegangen. So reisen Wastl und Ricki mit einer von Professor Barabas neu erfundenen Zeitmaschine zu den Wikinger, finden in einem Fjord ein Berserkerschiff und mit viel Prügelei können sie das Rezept für das Gegenmittel ergattern und abschreiben. Sie kehren zurück, und der Junge ist wieder sanft wie ein Lämmchen.

Neu in dieser Story ist auch Professor Barabas' Computer, der auf Anfragen aus einer gespeicherten Datenbank Antworten findet. Das hat mich als Kind schon fasziniert und wollte sowas haben. In den USA haben sie mich erhört und das Internet erfunden. Der Rest ist Geschichte ;)

Hier die Bilder der allerersten Suchmaschine der Welt.


Suchmaschine1Original anzeigen (0,2 MB) Suchmaschine2Original anzeigen (0,2 MB)


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14.06.2021 um 23:55
Ednan Aslan - Religiöse und ethische Orientierungen von muslimischen Flüchtlingen in Graz

Aslan-Graz

Der nicht unumstrittene Wiener Professor für Islamistik Ednan Aslan führte im Auftrag der Stadtgemeinde Graz im Jahr 2016 eine Umfrage bei 288 Flüchtlingen in Graz bzw. Graz-Umgebung durch. Dabei wurden nicht nur deren Lebensschicksale erhoben, sondern auch ihre religiösen, ethischen und politischen Einstellungen.

Abgesehen davon, dass viele angaben, persönlicher Verfolgung, Folter, Vertreibung ausgesetzt gewesen zu sein, ist ein hoher Anteil an männlichen Flüchtlingen bestätigt. Überraschend sei ein Anteil von fast 50 Prozent Schiiten unter den muslimischen Flüchtlingen, was durchaus eine neue Situation sei, da von den in Österreich bis dahin lebenden Muslimen eine große Mehrheit Sunniten sind.

Bezüglich Religiosität, Männerbild, Frauenbild, Haltung gegenüber Sexualität, Antisemitismus und Pluralismus ergibt sich ein fast 50:50-Bild im Verhältnis zwischen konservativ-traditionell bzw. pluralistisch-aufgeschlossen. Die auffällig am meisten einem Fundamentalismus und Gewalt als Lösung zusprechende Gruppe sind muslimische Flüchtlinge aus der Russischen Föderation, während Flüchtlinge aus dem Irak bzw. Syrien relativ aufgeschlossen seien. Afghanen liegen dazwischen.

Die Umfragen wurden in einem Eins-zu-Eins-Gespräch mit Dolmetschern durchgeführt, um Außeneinflüsse zu minimieren. Angaben über mögliche unehrliche, den Werten des Aufnahmelands zusprechende Antworten werden nicht gemacht.

Der Bericht ist an der Universität Wien online als PDF (Archiv-Version vom 08.03.2022) gehostet.


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15.06.2021 um 22:51
Graham Masterton - Die Opferung

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Weil ich gerade schreibfaul bin, hier die Kopie einer Amazon-Kritik. Besser könnte ich es selbst eh nicht schreiben...
"Das Haus ist nicht immer im Hier und Jetzt. Das Haus war, und es wird sein. Sie hätten es nie bauen sollen, aber nachdem es gebaut worden war, konnte niemand mehr etwas daran ändern."
(S. 65)

Könnt Ihr Euch noch an Horrorromane erinnern, die Euer Herz vor Grusel und Spannung schneller schlagen ließen? An die Romane, bei denen Ihr während des Lesens diese Art von Angst verspürtet, welche Euch zögern ließ weiterzulesen, Ihr aber einfach weiterlesen MUSSTET? Ich rede hier nicht von Splattersezenen, die einem den Ekel ins Gesicht treiben, denn das liest man zuhauf. Was ich meine ist das wahre Gefühl von Gänsehaut und Horror.
Lang, wirklich lang, ist es her, dass ich so etwas beim Lesen verspürte. Ich erinnere mich, dass ich beim Lesen von Stephen Kings "IT" dieses Gefühl hatte, wobei ich da gerade einmal 13 Jahre alt war. Tja, King schien mich für die Horrorroman-Welt bereits in jungen Jahren verdorben zu haben. Nun schaffte es aber Graham Masterton bei mir dieses Lesegefühl zumindest teilweise zu erwecken und das von der ersten Seite an.
Dies war für mich eher überraschend, da ich von seinen letzten beiden gelesenen Büchern alles andere als begeistert war. Hierbei handelte es sich jedoch nicht um Horrorromane, sondern um die Katie Maguire-Reihe und die sinnfreien und absolut nicht erotischen Erotikszenen (ich sage nur "blinzelnder Penis"). Jahaaaa, wie Ihr seht bin ich davon immer noch schwerst traumatisiert...ich armes Hascherl.

Doch um was geht es in "Die Opferung"?

"Ich hatte das Gefühl, dass diesem Etwas das Haus gehörte und Danny und ich nichts weiter waren als lästige Eindringlinge."
(S. 42)

Nach der Scheidung verliert ein Vater den Boden unter den Füßen. Um sich wieder aufzurappeln und vor allem, um seinen 7-jährigen Sohn Danny ein normales Leben bieten zu können, beschließt er einen Job anzunehmen, der sie aus Brighton hinaus auf die Isle of Wight führt.
Dies ist eine kleine Insel an der Südküste Englands und im Westen dieser Insel liegt das Fortyfoot-House. Das Haus soll er für die Tarrants renovieren, damit sie es so schnell wie möglich verkaufen können.
Dieses Haus liegt in einer ruhigen Gegend - am Strand, umgeben von einem Garten und in der Nähe eines romantischen verwilderten Friedhofs mit verfallener Kapelle. Klingt traumhaft und idyllisch (also für mich zumindest ;-) ), doch dieses Haus strahlt etwas Unheimliches und Unwirkliches aus. Zudem scheint darin etwas zu leben, eine uralte Kreatur, sowie die Geister längst vergangener Zeiten.

Schon von der ersten Seite an ist der Horror spürbar, welcher die Gänsehaut meist während des ganzen Verlaufs bestehen lässt. Dies liegt nicht nur an der Story selbst, sondern vor allem am Schreibstil Mastertons. Mit unglaublicher Sprachgewalt lässt er ein wahres Kopfkino entstehen und es begleitet einem ein atmosphärischer Grusel beim Lesen.

Die Story selbst ist eine Hommage an H.P. Lovecraft, in der er die Kreatur Brown Jenkins aus der Erzählung "Träume im Hexenhaus" auferstehen lässt. Man scheint sich, ebenso wie bei Lovecrafts Geschichten, zwischen den Zeiten und Welten zu bewegen, weiß daher nicht immer was Realität, Wahn, Mythos oder etwas gänzlich anderes ist. Somit ist dieses Buch ein wahrer Phantastik-Horror und das vom Feinsten.

"Dann hörte ich ein hohes kicherndes Geräusch, als würde jemand in einer fremden Sprache sprechen, die er selbst nicht sehr gut beherrschte. Es war völlig unverständlich. Es konnte ein Mensch gewesen sein, der Thai oder irgendetwas anderes sprach, aber ebenso gut das Quieken eines aufgeregten Tiers, das Blut gerochen hat."
(S. 18)

Nur von der "Erotik" kann Masterton auch hier nicht lassen, verliert sich manchmal in Beschreibungen und Vergleichen von Brüsten (Titten scheinen es ihm hier besonders angetan zu haben) und diesbezüglich agieren und reagieren auch die Protagonisten manchmal völlig unlogisch. Zum Glück kommt das jedoch nicht allzu oft vor und es überwiegt die Spannung.

Was bei Masterton jedoch immer stimmt, ist die Recherche über Mythen, Legenden und hier eben auch zur H.P. Lovecraft Story, von dem Masterton ein begeisterter Anhänger ist. Diese Mythen und Legenden werden bei Masterton Realität und dies auf durchaus nachvollziehbare und authentische Art und Weise. Auch der Schreibstil ist gewohnt flüssig und einnehmend. Man kann nicht aufhören zu lesen und im Verlauf ergibt selbst die Vögelei einen Sinn.

Da es hier äußerst blutig zugeht, sollte man schon einen etwas stabileren Magen besitzen, vor allem bezüglich des Endes.
Der Kopfkino erzeugende Schreibstil Mastertons lässt einen nämlich die blutigen Szenen nicht nur sehen. Nein, man riecht geradezu das Blut, welches sich mit allem Möglichen vermengt und durch die Gegend spritzt. Die düstere und unheimliche Atmosphäre ist ebenso ständiger Begleiter, selbst wenn es etwas ruhiger wird, denn man weiß genau - hier lauert etwas und die Ruhe hält nie allzu lange an.

"Schließlich wandte ich mich von dem Foto ab, doch im gleichen Moment war ich sicher, dass sich das Bild geringfügig verändert hatte. Ich sah wieder hin. Er schien an der gleichen Stelle zu stehen wie zuvor, sein Gesichtsausdruck war unverändert. Aber hatte sein Fuß nicht gerade eben noch ein Stück näher an dem Rosenbeet gestanden?"
(S. 72)

Fazit:
Eine Story, welche mir nach Langem wieder dieses Gefühl von Horror beim Lesen bescherte und mich zudem dazu veranlasste mich dem Autor wieder zuzuwenden. Für mich persönlich funktionieren wohl nur seine Horrorromane, denn auch "Irre Seelen" blieb mir positiv in Erinnerung, während mich die am Anfang erwähnte Thriller-Reihe eher enttäuschte.
Als Lovecraft-Fan war ich natürlich von der Story begeistert. Der atmosphärische Schreibstil und was Masterton aus dieser Story gemacht hat, erledigten das Übrige.
Quelle: Amazon


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