Der Deserteur
Jake Sully schlich durch den Wald, immer auf Deckung bedacht und das er ja keinen Lärm machte. Eigentlich, so überlegte er sich, war es fast wie früher. Nur das er diesmal der Gejagte war und nicht der Jäger! Zu mindestens wusste er jetzt, wie sich seine Gegner damals gefühlt haben mussten. Ein Scheißgefühl! Früher? Er schüttelte den Kopf, so lange war das eigentlich noch gar nicht her. Zu dem Zeitpunkt jedenfalls war noch ganz klar und einfach definiert, wer und was gut und böse war. Ein simples Schwarz-Weiß-Denken zwar, aber es hatte funktioniert. Ein Rascheln im Gebüsch ließ ihn herum schwingen und in die Knie gehen, das Sturmgewehr sofort im Anschlag!
Doch lediglich ein Igelpärchen raschelte durch die Blätter. Langsam beruhigte sich sein Puls etwas. Eigentlich wollte er schon längst weit weg sein, aber das ging irgendwie nicht mehr so einfach. Als ob die Kameras und Sensoren von der Bergspitze nicht schon schwer genug zu umgehen war, von der Satellitenüberwachung ganz zu schweigen, gab es in den letzten beiden Tagen auch zahlreiche Patrouillen. Fast hätte er gedacht, dass es seinetwegen wäre. Aber das war es nicht. Zumindest nicht ausschließlich. Er hatte auch einige der…Kreaturen…gesehen. Jake konnte sich einfach nicht überwinden, sie als Menschen zu sehen und zu bezeichnen. ES passte zwar auch in diese Schwarz-Weiß-Schublade, aber es machte das Überleben einfacher. Auch seine geistige Gesundheit war froh über jeden Pluspunkt. Anders war es sonst nicht zu ertragen. Also schlug er sich erst einmal alleine durch die Wildnis der französischen Berge. Hätte ihm das einer vor einem Vierteljahr gesagt, er hätte demjenigen einfach nicht geglaubt, so phantastisch war das wohl…
Vor Drei Monaten – Quantico / Ausbildungscamp
Ein letztes Mal betraten Sergeant Jake Sully und seine Kameraden den Appellplatz. Zumindest diejenigen, die es noch gab von seinem Platoon. Über die ganzen Jahre hatte es nun doch einige Verluste gegeben. Etwas betrübt stellte er fest, dass ungefähr ein Drittel fehlte. „So ist nun mal das Leben. Sie sind zwar nicht mehr hier, aber gehören immer noch zum Corps“ Dann begann das ganze Prozedere. Sie wurden verabschiedet. Ganz offiziell. Ganz endgültig. Sully hätte gerne verlängert, aber das war wohl nicht möglich. Auch hier machten sich immer mehr die Einsparungen breit. Die Staaten hatten kein Geld mehr. Und das was ging, wurde eingespart. So wie auf der ganzen Welt auch. Nirgendswo war es da besser. Die seit Jahren vor sich hin schleichende Finanzkrise, die mal stärker, mal schwächer vor sich hin brodelte, tat ihr übriges dazu, was allerdings anhand der ohnehin Pleiten Staaten egal war. Fast zu mindestens. Ein letztes Mal wurden Orden verteilt und Hände geschüttelt, dann war es vorbei. Doch blankpoliertes Metall macht weder satt, noch wird dadurch die Miete bezahlt. Von Strom und Wasser ganz zu schweigen. Sully hatte zwar einiges angespart, aber es würde maximal für ein halbes Jahr reichen. Wenn überhaupt. Bei den Marines war er versorgt gewesen. Er hatte die Preiserhöhungen und Verteuerungen zwar auch mitbekommen, aber jetzt, wieder als Zivilist, trafen sie ihn erst so richtig mit der vollen Härte. Während er noch etwas mit seinem Schicksal und einer ungewissen Zukunft haderte, sprach ihn sein Vorgesetzter an. General Custer hatte einen Vorschlag für ihn. Zuerst war Jake skeptisch, sehr skeptisch sogar. Als PMC, ohne Rückendeckung, wieder in Afghanistan, Irak oder Iran landen wollte er aber auch nicht. Custer schüttelte den Kopf. „Nein, auf keinen Fall Sergeant Sully! Sie führen zwar Sicherheitsleistungen durch, aber hauptsächlich im Objektschutz. Und das in Europa! Keine HotZone oder ähnliches mehr“. Jake hörte zu, es klang einfach zu gut, aber irgendwann ließ er sich einfach einlullen. Es dauerte auch nicht lange und Commander Custer organisierte einige Telefonate und Videokonferenzen mit anderen ehemaligen Kameraden. Nirgends war etwas Schlechtes zu hören, keiner hatte Bedenken oder Probleme. Diese Datenfirma suchte Arbeitskräfte ohne Ende. Aller Sparten. Und das zu Topkonditionen. Nach weiteren zwei Wochen konnte sich Jake nicht nur vorstellen nach Europa zu ziehen, er konnte es kaum noch erwarten! Sein nun ehemaliger Kommandierender Offizier beglückwünschte ihn aufs heftigste und freute sich mit für ihn. „Marines helfen einander immer mein Sohn, egal wo sie sind! Semper Fidelis sind keine leere Worte für uns!“ Zum Abschied schüttelte er ihm sogar die Hand, statt nur einfach zu salutieren wie früher.
Der Preis des Paradieses
Vor zwei Monaten kamen dann Jake Sully und einige weitere Kameraden nach Europa. Zuerst nach England, dort gab es nochmal so etwas wie einen Auffrischungsgrundkurs in den schottischen Highlands. Ihr Ausbilder und Trainer dort, Augusto Hachez, war angeblich selber ein ehemaliger SAS Offizier, der jetzt jedoch erst so „richtig Geld verdiente“ und vor allem sein „Talent“ einsetzte und förderte. Obwohl Jake einiges gewohnt war, waren die zwei Wochen knochenhart. Einige der Teilnehmer schienen es nicht zu schaffen. Sie versagten bei einigen Teamaufgaben oder überreagierten. Einer erschoss grundlos und ohne zu zögern einen Wachhund, einfach so, obwohl die Übung nur simuliert war. Ein anderer hatte einen Kameraden zusammengeschlagen, weil der ihm in der Schussbahn stand und somit sein nahezu perfektes Ergebnis vermieste. Nachdem er ihn mit dem Kolben aus dem Weg geprügelt hatte, schaffte er es trotzdem noch ein Top-Trefferbild abzuliefern. Die entsprechenden Kandidaten wurden umgehend entfernt, wenn auch dieser Hachez dabei erstaunlich ruhig blieb. Bei anderen Sachen regte er sich mehr auf und piesackte alle. Aber auch diese vierzehn Tage vergingen und dann erhielten alle ihre Urkunden, Hände wurden geschüttelt und Einsatzorte zugeteilt. Für Jake lief alles perfekt, er war so ein Glückspilz! Er wurde nach Chateau Noir versetzt, ein ruhiges, kleines Bergdorf. Zuerst ging es mit dem Flugzeug bis nach Marseille und von da aus weiter mit verschiedenen Zügen. Auf dem Flughafen in der französischen Hafenstadt glaubte er kurz die beiden anderen aus dem Lehrgang zu sehen und zu erkennen, die Namen fielen ihm nicht mehr ein. Doch als er noch einmal hinsah, war niemand mehr da. Er musste sich getäuscht haben, außerdem was sollten ausgerechnet diese beiden schrägen Typen beim VIP-Terminal? Fünf Minuten später hatte er alles vergessen.
Vor einem Monat dann begann seine ganz persönliche Hölle in Chateau Noir. Oder besser gesagt darunter. Zuerst hatte Jake nur Streifendienst gemacht und mit die Wache des Eingangs besetzt. Der Job war einfach nur easy! Und das für das Geld und diese Leistungen? Mehrfach dachte er, dass dies nur ein Traum sein könnte. Er war zwar Waffenträger, wie alle anderen von der Security auch, aber niemand wusste, wann hier mal etwas passiert wäre. Dann wurde er wohl etwas zu übermütig. Er bewarb sich bei seinen Chefs um etwas mehr Verantwortung. Er wurde zu Hachez gebracht. Dieser machte scheinbar nicht nur die Ausbildung, sondern führte auch eine Art Sonderkommando der Sicherheitsabteilung. Bevor Sully sich versah, wurde er diesem zugeteilt. Schon ab dem nächsten Tag wurde sein ohnehin schon großzügiger Lohn verdoppelt. Wenn er es in Hachez persönliche Elite schaffen sollte, so wurde ihm gesagt, würde sich das Geld nochmal verdoppeln oder gar verdreifachen, je nachdem welche Position er inne hätte. Er fragte sich noch, wie er so viel Glück nur verdienen konnte, als ihn die Realität auf grausame Art und Weise einholte. Er wurde dem Laborgefängnis zugeteilt, speziell die Probandenabteilung. Jake dachte er wäre in einem Horrorfilm oder einer Freakshow gelandet. Es mussten dutzende sein, wenn das überhaupt reichte! Viele waren an Betten oder Gestelle gefesselt, mit Schläuchen verkabelt. Wären die Scheiben nicht alle Schalldicht gewesen, wäre wohl jeder von dem Lärm irre geworden. „Als ob dazu nicht auch schon dieser Anblick reicht!“ dachte sich Jake. Sein Kollege hielt es zwei Tage aus, dann ging er mit bleichem Gesicht zu Hachez, sich beschweren. Eine halbe Stunde später nahm jemand anderes seinen Platz ein. Von einem plötzlichen Gefühl der Vorsicht beflügelt, beschloss Sully einfach die Klappe zu halten und zu schweigen. Scheinbar beobachtete der andere ihn auch sehr genau… Diese Taktik des geschlossenen Mundes rettete ihm wohl das Leben. Drei Tage später sah er seinen alten Kollegen wieder, diesmal aber auf der anderen Seite der Scheibe! Gekleidet in einen Krankenhauskittel, mit mehreren Kanülen im Arm und völlig leerem Blick. Bevor er festgeschnallt wurde, hatte er sich noch einen Teil des Gesichtes und seiner Arme zerkratzt, scheinbar ohne dabei Schmerzen zu empfinden. Sully ließ sich nichts anmerken, er wusste nun, dass er beobachtet wurde. Er zog Regungslos seinen Dienst durch, beendete seine Schicht. Angekommen in seinem Quartier, ging er sofort zur Toilette und übergab sich erst einmal. So ging das Spiel zwei Wochen weiter. Er wurde beobachtet und getestet. Als er schließlich allem standhielt und nur seinen Dienst machte, perfekt und nach Lehrbuch, kam schließlich wieder dieser Hachez zu ihm. Er musterte Jake. „Ich scheine mich getäuscht zu haben in dir. Erst dachte ich, du wärst so ein normaler. Oder so ein anderes Weichei. Aber scheinbar bist du aus anderem Holz geschnitzt als die anderen. Das gefällt mir! Ich glaube, mit dir kann ich einiges anfangen!“ Hachez musterte ihn ausgiebigst. „Immer noch Interesse an mehr Verantwortung und anderen Aufgaben, Soldat?“ Jakes Gedanken rasten, während sein Gesicht unauffällig nur aufmerksam und beflissen aussah „Sir, Ja, Sir!“ antwortete er prompt, wissend das jede falsche und andere Antwort ihn das Leben kosten würde. Dann bekam Sully andere Aufgaben. Und wieder eine saftige Lohnerhöhung. In nicht mal zwei Monaten hatte er mehr verdient als in einem ganzen Jahr bei den Marines, die ganzen Boni einmal außen vorgelassen! Er wurde in weitere Bereiche gelassen, Inner Security. Hatte er geglaubt, dass es draußen schlimm war, fand er hier den Irrsinn pur. Es war nicht zu glauben, was Menschen anderen Menschen alles antaten. Und das nur für Geld und für die Forschung. Mehr nicht. Höchstens noch für Befragungen oder Ähnliches. Obwohl Jake nach außen geschäftig, kühl und emotionslos arbeitete, rangen in seinem Inneren Dämonen miteinander, rissen ihn an den Abgrund des Wahnsinns und darüber hinaus. Er musste hier raus, hier weg, aber wie nur? Durch einen blanken Zufall, er stolperte in seinem Quartier, kam ein Glasfaserkabel zum Vorschein. Wie sich herausstellte, gehörte es zum Hauptrechner. Und da es intern war, war es relativ ungesichert… In den nächsten Zwei Wochen eignete sich Jake unbemerkt Berge von Daten an, er sah noch schlimmere Sachen und wusste langsam worum es ging, auch wenn er es nicht verstand. Dann kam sein erstes Sonderkommando unter Hachez, ziemlich kurzfristig. Der kam zu seinem Wachposten mit einer Ablösung. „Kampfausrüstung, 5 Min Fahrzeughangar, dalli!“ Jake tat wie befohlen. Zusätzlich zu der leichten Kampfbekleidung hatte er noch seine eigene Schutzweste daruntergezogen, er hatte irgendwie ein schlechtes Gefühl mit einem Male. Er packte sich noch einige Notrationen ein, sowie seine persönlichen Dokumenten. Es blieb nur seine alte Zivilkleidung zurück und die war ihm egal. Alles was er brauchte hatte er einstecken. Identität und Geld, das war jetzt das wichtigste. Und etwas zu essen. Dann ging es auch schon los. Zuerst fuhren die schweren SUV’s zu einem Ferienappartement, doch dort fand sich niemand. Dann ging es weiter, tief in den Wald. Er musterte die anderen des „Einsatzkommandos“. Mit einem Male erkannte er die beiden aus dem Ausbildungscamp wieder! Er hatte gedacht sie wären gefeuert, als untauglich entlassen. In Wirklichkeit aber hatten sich die Männer damit schon vorher qualifiziert, für Hachez besondere und grausame Ansprüche. Ausführen ohne zu fragen oder zu murren, auch ohne zu denken, das war die Devise. Jake merkte, dass er noch niemals so tief in der Scheiße gesteckt hatte. Und immer noch wurde er getestet. Er war zwar auch bewaffnet, mit einer Pistole und einem Sturmgewehr, aber die anderen waren noch weitaus stärker bestückt. Er hatte nur jeweils fünf Magazine zu jeder Waffe, während der Rest des Kommandos locker das Dreifache trugen, nebst Granatwerfer mit dazugehörigen Granaten. Dann erreichten sie ein Haus im Wald, Licht flackerte hinter den Fenstern, jemand schien fernzusehen. Als Jake ausstieg, bemerkte er im Wagen ein paar Zylinder, jemand hatte wohl in der Eile vergessen einen den Ausrüstungskoffer vollständig zu schließen. Er sah schnell nach und staunte! Schalldämpfer!
Warum und wozu auch immer! In einem unbeobachteten Moment, die anderen rüsteten sich immer noch und immer mehr aus, langte er zu. Schnell verschwanden ein Schalldämpfer für das Gewehr und einer für die Pistole unter seiner Weste. Nebst den dazugehörigen Waffenlampen und Ziellasern! Niemand bemerkte etwas. Für Sully gab es erstmals wohl keine Aufgabe. Er wartete einfach, dann begann das Inferno. Die im Kreis um das Gebäude versammelten schossen mit ihren AG36 Werfern das ganze Haus zusammen.
Eine 40mm Granate nach der anderen prasselte auf das Gebäude, bis dieses lichterloh brannte und auseinander platzte. Zwischenzeitlich bekam Jake mit worum es ging. Es galt, ein Mädchen auszuschalten. Ein wehrloses Mädchen! Niemand bemerkte seinen inneren Konflikt und zum Schluss kam sein Auftritt. Alle anderen zogen ab, es gab weiteres zu tun. Aber einer musste achtgeben. Sollte doch jemand überlebt haben. Oder etwas bemerkt. Wie auch immer, das war sein Job, seine Verantwortung, seine letzte Bewährung, bevor er endgültig und richtig dazugehörte! Dann fuhr der Rest wieder los und ließ ihn allein. Sie hatten wohl mittlerweile ziemlich Vertrauen zu ihm. Warum auch immer.
Flucht durch die Wälder
Seitdem schlich sich Jake Sully durch die Wälder um das alte Dorf. Direkt flüchten konnte er nicht, aber erst einmal nur auf eine Chance warten. Und im richtigen Moment dann zuschlagen. Sein erster Gedanke und Plan war der Zug gewesen, aber ausgerechnet dieser war defekt gewesen. Also musste er nach anderen Möglichkeiten Ausschau halten. Während Jake mit seinen Gedanken beschäftigt war, vernachlässigte er wohl etwas seine Umwelt. Als ihm das schreckhaft auffiel, war es aber schon zu spät, fast jedenfalls. Jeder andere hätte das Knacken sicher für das Brechen eines Astes im Waldes gehalten, nichts Ungewöhnliches also. Jake wusste aber, dass es das Spannen einer Waffe war. Derselben Waffe, die jetzt in seinen Nacken gepresst wurde…