Das Problem ist nach wie vor, dass einige zu sehr auf einseitigen Positionen beharren obwohl die Beobachtung der Denkaktivität eben nun mal was ganz anderes verrät: Die Mathematik ist
weder bloß entdeckt (als Eigenschaft der Dinge an sich) noch
bloß erfunden (willkürlich festgelegt). Die Mathematik ist, ganz richtig, eine durch und durch
apriorische Wissenschaft.(Man erkennt dies z.B. schon intuitiv-vage daran, dass ihre (bewiesenen) Sätze allgemeingültig und apodiktisch gewiss sind) Die apodiktische Gewissheit der Mathematik stützt sich auf die apriorischen Anschauungsformen (Raum und Zeit), die wir als Organa in unserem Erkenntnisorganismus gewahren. Sie sind uns also
gegeben, und deshalb liegt hier (in Bezug auf meine Antwort in dem anderen Thema) die einzige Möglichkeit einer nicht-sinnlichen Anschauung (man spricht hier oft heute von "mathematischer Intuition"). Die Mathematik ist also ein Organon, kein Kanon. Wir können dort unser Wissen beliebig erweitern (synthetisch) da im Gebiete des a priori, wodurch zusätzlich auch apriorisches induzieren (d.h. apriorische Begriffsbildung), ohne dem Induktionsproblem anheimzufallen, möglich ist.
Z.B. Der apriorische Raum nezessitiert (d.h. nötigt) unsere Urteilskraft und entscheidet über die Zulässigkeit und Gültigkeit der geometrischen Begriffe. Beispielsweise wissen wir durch apriorische Konstruktion, dass unser Raum drei Dimensionen hat, weil das a priori induzierbare Objekt es nicht zulässt, mehr als drei senkrecht schneidende Linien zu ziehen. Auch der Hyperwürfel, den wir einer "vierten" Raumdimension zuschreiben, zeigt sich uns anschaulich lediglich in derselben sinnlichen Anschauung wie wir alle anderen Körper im Alltag wahrnehmen.
Genauer gesagt, gibt es hier also so etwas wie einen vierdimensionalen Körper in unserer Anschauung nicht (und damit wäre "Existenz" als Modalität hier gar nicht anwendbar und auch nicht zulässig). Strenge Altkantianer würden also sagen, dass die Idee eines vierdimensionalen Raumes völlig hanebüchen ist (d.h. dialektisch), da nichts, auch rein gar nichts, in unserer Anschauung diese Position zulässt. Hier könnte man also vielleicht wirklich von Erfindung sprechen. Aber auch das wäre wieder falsch. Denn auch hier ist nichts wirklich willkürlich, denn die (formale) logische Möglichkeit, einen Raum zu
denken (nicht anzuschauen), der vier Dimensionen hat, ist uns gerade nur deshalb möglich, weil wir ja bereits die Dimensionallinien unseres bekannten Raumes kennen und auf ihm eine logische Möglichkeit konstruieren, auch wenn sie transzendent ist und für uns anschaulich unzugänglich ist, d.h. es keinen Anlass gibt anzunehmen, hier von "unserem" Raum zu sprechen als nur von einem hypothetischen ("Wenn wir eins, zwei, drei Dimensionallinien im Raum konstruieren können, dann können wir auch mehr als solche konstruieren") bzw. alsbald eines problematischen ("Es existieren n-Dimensionale Räume") im Modus der Möglichkeit (Modalität). In der modernen Mathematik geht man aber nicht mehr so streng vor wie das früher mal der Fall war, sondern verwendet sie stattdessen mehr als nützliche Werkzeuge um andere Probleme zu lösen, auch wenn es unserer Anschauung nicht genügt. Das Denken alleine erlaubt uns diese Möglichkeit. Dennoch würden Altkantianer definitiv hier von "Dialektik" sprechen. Um das alles zusammenzufassen: Auch die Konstruktion eines hypothetischen (nicht-anschaulichen) vierdimensionalen Raums durch das Denken ist nicht wirklich Erfindung, sondern auch wieder beides: Erfindung deshalb weil wir apriorisch zu induzieren versuchen, und Entdeckung weil wir die induktiven Faktoren (Raum und Zeit) als Grundlage dafür nehmen und daher solche Möglichkeiten darin entdecken können und von unserer Urteilskraft zugelassen werden.
Die geometrischen Begriffe sind also
konstruierte (konstruiert nicht im Sinne von willkürlich zusammengebastelt) Begriffe. Diese Konstruktion geschieht durch die Phantasie
unter der Leitung des Verstandes. Um zum Beispiel den apriorisch leeren Raum zu zerlegen und seine Gesetzmäßigkeit zu ergründen, muss die Phantasie experimentierend Grenzgebilde erfinden (d. h. konstruieren), wie Flächen, Linien und Punkte. Und diese Fähigkeit zur Konstruktion basiert auf (ebenfalls uns gegebenen) zentralen logischen Momenten (Funktionen des Denkens, d.h. Begriffsformen und alsbald "Kategorie"), die als Direktivmittel die Phantasie leiten. Die Konstruktion eines Dreiecks z.B. ist dann das Produkt einer solchen phantasmatischen Tätigkeit. Insgesamt ist also die Konstruktion logischer Momente im Raum eine Limitativaufgabe, wobei mathematische Grenzgebilde mithilfe der Phantasie ausgedacht werden. Und wichtig ist hier jetzt zu verstehen, dass diese Konstruktion
nicht willkürlich ist (auch wenn wir mit unserer Phantasie durchaus "frei" solche Konstruktionen bauen können), sondern sie geschieht stets durch apriorische Induktion auf den uns bereits gegebenen reinen Anschauungsformen, und diese restringieren uns durchaus was die Erfindung angeht. Ja, selbst der freie Künstler kann nicht sinnlich über seine Grenzen hinausgehen, aber innerhalb dieser Grenzen gibt es mehr als genug zu entdecken.
Kurz und knapp:
- Zentrale, aktive Erzeugung (Erfindung/Deduktion): Der Intellekt wendet die logischen Momente (die aus dem Funktionswissen des Verstandes stammen) an, um Formen zu konstruieren. Hier gibt es nichts zu entdecken, die allgemeine Logik ist (wie Kant es bereits erklärte) ein Kanon, kein Organon, also vollständig abgeschlossen und uns bereits bekannt. Dafür müssen wir nicht einmal Kenner der Logik sein oder Kalküle oder Schlussregeln reflektierend kennen und benennen können, denn wir wenden alltäglich sozusagen eine "organische Logik" an. Sie vollständig ins Bewusstsein zu ziehen und darüber reflektieren zu können, ist ein großes Vermächtnis des Aristoteles und, später, des Kant.
- Peripherisches, gegebenes Material (Entdeckung/Induktion): Das apriorische Material (Raum und Zeit) dient als induktiver Faktor, und hier können wir unbegrenzt neues entdecken. Hierin finden wir die einzige Möglichkeit einer nicht-sinnlichen Anschauung, in dem wir synthetisch apriorisches Wissen entdecken bzw. apriorisch induzieren.
Nun, noch etwas anderes. Der Empiriker nimmt oft an, dass wir ja jetzt genau jene apriorischen Elemente durch Abstraktion aus der Natur herausgezogen haben (d.h. zentripetal induziert). Dass dies eben nicht stimmig sein kann, zeigt uns ja schon das Induktionsproblem. Da wird nichts apriorisches aus der Natur herausgezogen, es fehlt die apodiktische Gewissheit, die die Sätze a priori charakteristischer Weise besitzen. Die kritische Theorie Kants beweist (wie vorhin schon erläutert) eben das: Die Elemente wurden zentrifugal (vom denkenden Ich)
in den Erfahrungsbegriff gebracht. Etwas anderes anzunehmen ist der typische dialektische Schein (der transzendentale Schein), dem viele so gern verfallen: Die Formel heißt dann Naturgesetz, weil wir die (irrige) Vorstellung haben, als hätten wir sie aus der Natur herausgezogen.
Die physikalischen Gesetze sind somit notwendig konstruiert (durch die apriorischen logischen Funktionen angewandt auf die apriorischen Anschauungsformen von Zeit und Raum), d.h. auch hier haben wir es mit einem gemeinsamen Spiel von Erfindung und Entdeckung zu tun. Sie (die Gesetze) sind selbstverständlich nicht einfach da, sondern existieren für uns als Natur nur, weil wir sie durch unsere gesetzgebende Funktion ordnen. Und willkürlich "ausdenken" können wir uns diese Gesetze ebensowenig (das beweist uns ja die unmittelbare Erfahrung). Jetzt wieder die klassische Frage: "Ja, aber wie erklärt es sich dann, dass die Natur sich genauso von uns ordnen lässt und muss und nicht anders? Weil irgendwas muss da ja noch sein, unabhängig von uns, das diesen spezifisch ordnenden Zustand (und keinen anderen) in uns erst hervorruft?" => Und die Frage ist berechtigt, und sie muss leider, wie schon zuvor, beantwortet werden mit einem: Wir wissen es nicht, und werden es auch nicht. Die Erklärung dafür, warum die Natur sich der vom menschlichen Intellekt vorgeschriebenen Ordnung (Gesetzmäßigkeit) fügt, liegt in der Existenz eines ihr zugrunde liegenden, von uns unabhängigen Urgrundes (Das Ding an sich) und in der organischen Einheit zwischen diesem Urgrund und unserem Erkenntnisapparat.
Gehen wir es mit unserer Denkbeobachtung noch einmal durch:
Die Sinneserscheinungen (das Mannigfaltige) bringen von sich aus einen Charakter oder Typus mit, den Kant als Affinität oder Assoziabilität bezeichnet => Dieser Typus besteht in ihrer Fähigkeit, sich zu Einheiten (Objekten) zusammenfügen zu lassen und sich den vom Verstande a priori gebildeten logischen Regeln zu
akkommodieren. Da die Erscheinungen in die apriorischen Anschauungsformen von Raum und Zeit eintreten müssen, bilden sie dort eine logisch fassbare, beharrliche, typische Ordnung. Das entscheidende ist nun eine nomologische Nötigung: Die Urteilskraft wird durch die Ordnung der Sinnlichkeitsdaten oder durch die apriorischen Anschauungsformen genötigt (einer Restringenz), gerade
diese spezifischen Gesetze anzuwenden, d.h. wir sind genötigt, eine Erscheinung unter eines der Grundgesetze des Verstandes zu bringen, da ansonsten keine Erkenntnis zustande käme. Und genau diese nomologische Nezessitation (im Gegensatz zur passiven "pathologischen" Nötigung) ist das Bewusstsein, dass die Erscheinung uns nötigte, ein Gesetz, und zwar gerade dieses Gesetz, des Verstandes auf sie anzuwenden.
Damit erklärt sich zumindest mal das "Das" und "Wie" dieser Akkommodation. Die letzte Frage: "Warum?" bleibt am Ende ein ewig dunkles Geheimnis. Es ist eine unerklärbare elementare Tatsache, dass der Urgrund die Dinge an sich so einrichtete, dass sie in unserem Erkenntnisorganismus gerade solche Erscheinungen hervorrufen, die sich z.B. unter die Kausalform subsumieren lassen und dadurch für uns erkennbar sind. Wir sind aufgrund des Vermögens unserer logischen Organisation darauf angewiesen, die Erscheinungen in einem bestimmten logischen Zusammenhang aufzufassen. Dass die Erscheinungen uns diesen Gefallen tun, sich dieser Form anzupassen, ist (wie schon mal erwähnt) vielleicht eine der vielen Seiten der Wirkungen der Dinge an sich (wenn sie überhaupt erkennbar wären), aber
letztendlich unerklärbar. (Also auch bei den Naturgesetzen wird weder was bloß entdeckt noch bloß erfunden. Es ist ein Zusammenspiel aus beidem)
Das ist final das Ergebnis, das Kant erlangt hat und in seiner KrV vollständig präzise bis ins Detail beweist. Ja, gewiss, das war und ist enttäuschend und vielleicht auch deprimierend für viele, die gehofft haben in der Empirie die ewige Wahrheit zu finden, enttäuschend auch für alle Metaphysiker und Spekulanten, enttäuschend für die Zukunft der Philosophie, denn die Grenzen sind nun gezeigt und dort geht es nicht weiter. Ja, das war alles deprimierend und zermürbend auf den Geist vieler Menschen. So weit, dass es ganze kulturelle Bewegungen (wie z.B. Sturm und Drang) gab, die sich mit aller Kraft dagegen zu wehren versuchten, stur wie die Oxen die Realität verkennend. Ein Goethe, der die "Ur-Pflanze" suchte, Hegel, Schopenhauer, Nietzsche, der den Übermenschen fantasierte, und viele mehr. Wie viele Philosophen und Empiriker nach Kants Ableben wollten seine Darlegung dehnen, erweitern, verzerren, ja sogar dialektisch widerlegen, um irgendwie ein kleines bisschen an das (letztlich doch illusorische) Licht dieser "Dinge an sich" zu gelangen? Und wie vielen ist es denn tatsächlich gelungen? ... Eben. Wie viele versuchen heute eine "Weltformel" zu finden, die scheinbar alles erklären soll in der Natur und den Charakter des a priori haben soll, völlig die Tatsache des Induktionsproblems verkennend? Wie es nun mal mit Wahrheiten ist, mit ihnen lässt sich nicht feilschen. Und so wie die Spiritisten es damals und heute einsehen müssen, so müssten es auch irgendwann mal die ganzen Naturwissenschaftler und Empiriker einsehen.
Aber viele wollen es eben gerne einfach haben: Der Verstand ist nur ein Fotoapparat, der die bereits fertigen Naturkunststückchen in sich abfotografiert. Wie schön, wenn es so einfach wäre!
Anbei verweise ich hier auf meine andere Antwort von kürzlich, was das Ding an sich betrifft:
Ist das Kantische Ding an sich kontraproduktiv zur Aufklärung? (Beitrag von XKetanX)