calligraphie schrieb:Meine Frage wäre, wie ist Deine persönliche Erfahrung in solchen Situationen. Steht ein Verteidiger morgens auf und denkt genug, hier geht nichts mehr für meinen Mandanten. Die Beweise und Indizien sind überwältigend, wir können keinen Prozess riskieren?
Oder meinst Du Kohberger hat ihr gebeichtet, dass er sie die ganze Zeit angelogen hat, not guilty usw?
Denn Frau Taylor hat ja eigentlich die ganzen Monate im Glauben seiner Unschuld, für ihn gekämpft.
Am Ende hat er sie belogen, sie hat für ihn Alibis präsentiert die grotesk waren, sogar Alternative Täter musste sie konstruieren und sie musste Strategien entwickeln, jedes Indiz und jeden Beweis irgendwie unter berechtigten Zweifel zu begraben.
Und dann eines Tages? April April? Er gibt alles zu? Ist ein engagierter Strafverteidiger da nicht frustriert, dass er dem Mandanten so vertraut hat und solche Verrenkungen für ihn gemacht hat?
Meinst Du, der Verteidigung war längst klar, unser Mandant sieht nach Aktenlage ziemlich schuldig aus.
Vermutlich sind Verteidiger dann phragmatisch und der Auftrag ist immer noch der gleiche wie am Tag 1, das bestmögliche Ergebnis ( hier Leben für Kohberger) zu erlangen.
Was meinst Du, ist der Plea Deal als Erfolg für Frau Taylor ( in ihrer Laufbahn) zu bewerten?
Nun, ich schaue immer früh, was die Staatsanwaltschaft sagt, ob sie etwas anbietet. selbst wenn ich der Meinung bin, der Mandant ist unschuldig oder zwar schuldig, aber wir knnen eventuell einen Freispruch erreichen, wegen Polizeifehlern oder mangelnden Beweisen usw. Es ist meine Pflicht, dem Mandanten alle Möglichkeiten zu zeigen und er allein muss entscheiden. Natürlich gebe ich dazu auch eine Einschätzung meinerseits.
Man muss auch ehrlich sein, meine Erfahrung ist, dass 80% oder mehr der Angeklagten schuldig sind und das auch zugeben und gar nicht an einen Freispruch denken, sondern auf ein mildes agreement hoffen.
Schwierig ist es bei den Fällen, wo ich überzeugt bin, sie sind unschuldig. Die Frage, ob man lieber ein paar Jahre Gefängnis in Kauf nimmt oder lebenslang nach einem verlorenen Hauptverfahren, ist sehr schwer zu beantworten, wobei ich die Erfahrung in den Mordfällen, die ich selbst bearbeitet habe, oder Fällen, wo wirklich lange Strafen drohen, gemacht habe, dass Unschuldige hier seltenst sich auf ein agreement einlassen wollen.
Der Gedanke im Gefängnis zu landen ist doch sehr beängstigend und man hofft doch, dass es der Verteidigung gelingt, die Jury von der Unschuld zu überzeugen, oder wenigstens zum Zweifeln zu bringen.
In Kohbergers Fall kann ich natürlich nur mit dem beschränkten Detailwissen reden, das wir alle haben. Aber ich denke, wenn er die Taten nicht seinen Verteidigern schon gestanden haben sollte, dann werden sie ihm trotzdem einfach eine ehrliche Einschätzung der Beweislage gegeben haben.
Ich hatte schon seit Wochen das Gefühl, die Verteidigung legte den Schwerpunkt weg von der Frage Schuld oder Unschuld hin zur Frage Todesstrafe oder nicht. Das war offensichtlich etwas, was schwer auf Kohberger und der Verteidigung lastete. Wenn ich der Meinung bin, die Mandantin ist unschuldig, ist das Strafmass für mich erst mal zweitrangig, auch wenn ich natürlich nicht die Angeklagte bin.
Ich sehe die Sache so, dass für einen wirklich unschuldigen Angeklagten am Ende fast egal ist: lebenslang im Gefängnis verrotten oder nach 30 Jahren hingerichtet zu werden, beides ist unerträglich und furchtbar. Es muss alles getan werden, um die Unschuld zu beweisen.
Freilich, die Todesstrafe vom Tisch zu bekommen ist super wichtig. Aber ich will auch einen Mandanten nicht ewig im Gefängnis sitzen sehen. Daher weiss ich nicht, was ich getan hätte, und ich mach es ja auch in so einem Fall nicht allein, sondern nur im Team.
Ich würde mich wohl zuallermeist auf die Beweise stürzen. Das hat Taylor wohl hier auch getan und ein anderes Teammitglied extra angeheuert, sich auf die Strafart zu konzentrieren. So würde ich das auch tun.
Wenn allerdings irgendwann die Einsicht reift, dass die Beweise einfach erdrückend sind, dann ist freilich angesagt, das zu erwartende Strafmass in den Mittelpunkt zu stellen und hier zu schauen, was die Staatsanwaltschaft anbietet. Und so ist es m.E. hier geschehen.
Manchmal ist das etwas frustrierend, ich hatte mal einen Mandanten, der tatsächlich fest davon überzeugt war, dass er juristisch unschuldig sei und er hatte auch Unterstützer, die ihm das fleissig einredeten. Er stritt die Tat nicht ab, aber das Motiv und hatte eine m.E. abstruse Erklärung für die Umstände, die er vielleicht wirklich selbst glaubte. Das Gericht hat ihm erwartungsgemäss kein Wort geglaubt. Was soll man dazu sagen? Das ist dann wie bei Lori, da redet man gegen eine Wand.
Auf der anderen Seite habe ich schon mehrmals ein Wiederaufnahmeverfahren gewonnen und war immer wieder etwas verblüfft, wie schnell die Verteidiger im ersten Instanzenzug irgendwie aufgegeben hatten, an die Unschuld ihrer Mandantin zu glauben. Das tue ich nicht.
Daher ist mir immer wichtig, die Mandantin oder den Mandanten einschätzen zu können und ich gehöre daher auch zu den Verteidigern, die gerne wissen möchten, was der Mandant selbst sagt. Ich halte nichts von dem angeblichen Trend, dass Verteidiger nicht wissen wollen, ob der Mandant schuldig ist oder nicht. Ich will es wissen, weil es meine Strategie beeinflusst. Freilich habe ich auch manchmal Mandanten, die mich glatt anlügen, aber selbst dann hat das Einfluss auf die Strategie: denn wenn ich ihnen nicht glaube, dann wird es eine Jury wahrscheinlich auch nicht.