@AngRa schrieb:
Die Polizei diskutiert auch nicht mit Zeugen über diesen Fall , die sich im nachhinein melden, sondern sie nimmt, wenn sie die Aussage als ernst erachtet, ein entsprechendes Vernehmungsprotokoll auf. Schon gar nicht gibt sie Akteninhalte oder gar vertrauliche Akteninhalte bekannt, weil das ein Dienstvergehen ist und eine Dienstaufsichtsbeschwerde nach sich zieht. Das schadet der Karriere. Sie bespricht auch deshalb nichts mit Zeugen, um diese in einem späteren Prozess, der immer noch möglich ist, nicht zu beeinflussen mit der Folge dass deren Aussagen dann nicht verwertbar sind. Polizisten kennen auch die strafprozessualen Regularien.
Das ist also unsere Ausgangslage.
Ich gebe Dir grundsätzlich recht. "Formaljuristisch" beschreibst Du die Vorgehensweise vollkommen richtig. Und bitte verstehe mich nicht falsch, wenn ich den Begriff "formaljuristisch" verwende. Ich denke, dass sich Deine Beiträge hier im thread durch Präzision, gepaart mit hoher Sachkenntnis und der stetigen "Reduzierung" auf das Wesentliche, das Überprüfbare, also belegbare Fakten auszeichnen. Und da bin ich sicher nicht der Einzige, der Dich für diese Beiträge schätzt.
Dennoch gilt auch hier das Prinzip, dass Ausnahmen die Regel bestätigen und somit können auch andere Verfahrensweisen möglich sein und dies ist sicher nicht nur bei Kriminalfällen so, die uns im Fernsehen präsentiert werden. Ich möchte das hier aber für diesen Fall weder unterstellen, noch für möglich erachten. Ich möchte es lediglich zu bedenken geben.
Vielmehr möchte ich Deine Gedanken in eine ganz andere Richtung lenken.
Nahezu alle Kriminalbeamten, Beamten der Bereitschaftspolizei, Polizeifotografen, Gerichtsmediziner usw., die zur damaligen Zeit in dem Fall aktiv involviert waren, sind heute pensioniert oder aus anderen Gründen vorzeitig aus dem aktiven Dienst ausgeschieden. Die meisten von denen leben heute noch in Lüneburg oder im näheren Umkreis Lüneburgs. Wenn man selber lange in Lüneburg lebt, hat man zwangsläufig, im positiven Falle, ein gut funktionierendes, soziales Umfeld aufgebaut, in dem man viele Personen kennt. Hinzu kommt, dass Lüneburg mit seinen rd. 73.000 Einwohnern noch eine Größe hat, wo kein hoher Grad an Anonymität herrscht.
Nun kann man auch nicht zum Telefonhörer greifen und sagen: "Guten Tag Herr x..., ich hab da mal eine Frage zu den Göhrde-Morden." Die Verbindungen entstehen vielmehr durch Kontakte im Freundes- und Bekanntenkreis, wenn man davon berichtet, dass, und warum man sich damit beschäftigt. Und manchmal sind die Verbindungen viel enger, als man zu vermuten glaubt. Manchmal sind es Zufallsbegegnungen beim Lüneburger Handelsball, beim Verein Lüneburger Kaufleute, beim gemeinsamen Kochkurs oder oder oder...), manchmal direkte Kontakte, die man hat. Und in vielen Fällen, vielleicht sogar in 9 von 10 ist jemand nicht bereit darüber zu sprechen, weil die Verschwiegenheitsgrundsätze, auch nach dem Ausscheiden aus entscheidenden Positionen verschiedener Behörden, eine Äußerung zu dem Fall nicht möglich machen.
Aber manche tun es eben doch! Die Gründe hierfür können sehr unterschiedlich sein. Und manchmal stellt man beiläufige Fragen, die zu einer Aussage führen, deren Tragweite dem Auskunftsgeber in dem Moment nicht bewusst war.
Lass mich Dir ein Beispiel geben:
Wenn ich mit jemandem ins Gespräch komme, der in dem Fall involviert war und ich ihn frage, für wie wahrscheinlich er es hält, dass das Phantombild tatsächlich den Täter wiedergibt und er mir antwortet, dass er es für sehr wahrscheinlich hält, weil schließlich eine Vielzahl an Personen Informationen hierzu lieferten, die schlussendlich zur Erstellung des Phantombildes führten, klingt die Frage zunächst nicht verwerflich für den Befragten. Die Aussage liefert aber einen Hinweis auf etwas, was hier bereits diskutiert wurde, nämlich, ob die Phantomzeichnung lediglich auf Basis der Beerensammler erstellt wurde (was das Phantombild meines Erachtens verwässert) oder auch durch Hinweise anderer Zeugen, die die Person in Bad Bevensen beim Abstellen des Fahrzeugs mehrfach beobachteten. Die Beerensammler könnten jeder x-beliebigen Person begegnet sein, die Zeugen, die die Person in Bad Bevensen sahen, nicht. Sie begegneten mit hoher Wahrscheinlichkeit dem Täter! Somit ist aus dieser Antwort für mich der Schluss zu ziehen, dass das Phantombild als werthaltig einzustufen ist. Nicht mehr und nicht weniger.
Oftmals ist es die wohlüberlegte Frage, die man stellt, die sodann zu einer "vermeintlich" unverwerflichen Antwort des Befragten führt, die einem aber ggf. ein wichtiges Puzzle-Teil liefert, das einem zu einem weiteren Baustein führt.
Ich möchte Dir noch ein weiteres Beispiel nennen:
In den meisten Fällen stoße ich mit meinen Kontaktversuchen oder Fragen auf "taube Ohren", aber es entstehen immer häufiger "Kettenreaktionen". Ich versuche Kontakt zu Person "x" zu erhalten und habe keinen Erfolg, weil mir die Person sagt, dass sie nicht bereit ist sich zu den Göhrde-Morden mit mir zu unterhalten. Wenig später erhalte ich dann aber Kontakt zu Person "y", die wiederum Person "x" aus der "aktiven Zeit" gut kennt. Nachdem Person "y" mit mir sprach und mir sagte, dass er Person "x" gut kennt und er viel mehr weiß, gelingt es mir immer häufiger, dass Person "y" sagt, dass er mit Person "x" nochmal spricht, ob ein Gespräch nicht ggf. doch möglich wäre. Person "x", die sich dann bereit erklärt mit mir zu sprechen und, zugegebenermaßen nicht die Offenheit in Person ist, aber eben mit mir spricht, kennt wiederum Person "z" usw. usw.
Diese Abfolge hat mir in den letzten Wochen eine Vielzahl an Kontaktmöglichkeiten hergestellt, die, zumindest bereit sind, noch einmal die ein oder andere Frage zu beantworten (telefonisch). Mehr nicht. Ich weiß nicht, ob es Ablehnung oder Vorsicht ist? Aber es ist nicht einfach. Dennoch hat sich ein Geflecht an Personen ergeben, die "helfen können". Ob sie es auch tun, wird am Ende eine gewisse Sensibilität zeigen.
Da es uns allen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht möglich sein wird Einsicht in die Gerichtsakten zu erhalten, versuche ich auf "diesen Umwegen" werthaltige Informationen zu erhalten. Ich denke, dass die Kunst schlussendlich darin bestehen wird, die hypothetischen Aussagen von Personen von denen zu trennen, die tatsächlich über fundiertes Wissen verfügen und dies durch eine Frageform zu erreichen, die nicht verwerflich wirkt.