azazeel schrieb:Es geht nicht (nur) um Ehrlichkeit. Es geht um Engagement. Du beklagst (vielleicht zu recht) ein Nachlassen der Ehrlichkeit. Tatsächlich lässt aber das Engagement nach. In vielen Bereichen. Immer mehr Abkürzungen, immer mehr Beliebigkeit.
Gebe ich Dir Recht. Gleichzeitig hat auch diese Entwicklung seine Ursachen. Wenn man feststellt, dass sich Tugenden wie Fleiß, Engagement oder eben Ehrlichkeit am Ende kaum noch auszahlen, dann wird man bequem, gleichgültig, nachlässig und teilweise bräsig. Und es ist ja auch durchaus was dran, dass es sich immer weniger lohnt, sich irgendwo richtig reinzuhängen:
Du kannst an der Arbeit bereitwillig bezahlte Überstunden schieben oder dir eine Gehaltserhöhung verdienen, der Staat zieht Dir die Hälfte vom Mehrverdienst direkt wieder ab.
Du kannst im Unternehmen motiviert Leistung zeigen, aber befördert wird der Kollege, der länger da ist als du.
Du kannst dich ehrenamtlich z. B. als Fussball-Schiedsrichter engagieren und wirst Sonntags auf dem Sportplatz noch beschimpft und bespuckt.
Du kannst dir eisern Geld ansparen, es zur Bank tragen und kriegst von ihr 0,1 Prozent Zinsen.
Du kannst im Club nett und aufmerksam gegenüber Frauen sein, aber mitgehen tut sie dann doch mit dem Testosteron-Bad Ass.
Du kannst sie bei Tinder originell und charmant anschreiben und bist ihr umgedreht nicht mal ein "Hi" wert.
Kleine Anekdote: Im Sommer war hier im Ort ein Familienfest, wofür im Vorfeld ehrenamtliche Helfer gesucht wurden. Ich hatte mich freiwillig gemeldet und habe zusammen mit einem anderen Mann den Kinder-Erlebnisparcour betreut (Klettern, Torwandschießen etc.). Fünf Stunden lang, bei Sonne und fast 30 Grad. Meinst Du, irgendwer vom Veranstalter hätte uns mal Mineralwasser zur Verfügung gestellt? Als wir danach fragten hieß es "Oh, habt ihr euch etwa nix mitgebracht? Naja, müsst ihr euch halt da beim Bierpils was kaufen." Ein Danke gab's am Ende natürlich auch nicht, da wurde eher noch genervt gemotzt, dass wir bei der Siegerehrung vom Torwandschießen die Urkunden und Preise für die Kinder nicht schnell genug parat hatten. Ich nehm's nicht persönlich, weiß aber jetzt schon, das war das letzte Mal, dass ich mich hier im Ort irgendwie engagiert und für andere meine Freizeit geopfert hab.
Ich könnte da noch einige Beispiele aufzählen und ich denke, dieses immer stärkere Gefühl in der Volksseele, dass Aufwand und Ertrag in vielen Lebenslagen einfach in keinem Verhältnis mehr stehen, ist ein ganz erheblicher Grund dafür, warum immer mehr Menschen einfach nicht mehr bereit sind, sich für nix und wieder nix großartig zu strecken und ihre Energien zu verballern, vor allem wenn es sowieso nicht honoriert oder zumindest gewertschätzt wird. Da hat sich auch der gesellschaftliche Tenor in den letzten 20-30 Jahren sehr geändert. Wenn Du diese Entwicklungen früher offen beklagt hast, hat man Dir Recht gegeben und gesagt, dass das nicht in Ordnung ist. Heute wirst Du spöttisch verlacht und für naiv erklärt, wenn Du zugibst, irgendwelche Erwartungen an dein Engagement geknüpft zu haben. Das gilt auch und gerade für Online-Dating. Also warum sich in einer absolut oberflächlichen App überdurchschnittlich viel Mühe geben?