Hallo,

ich möchte gerne das Thema der unabhängigen Teilhabeberatung diskutieren, beleuchten und verteifen.

Dazu habe ich das Thema nun unter die Kategorie Menschen und Gesellschaft gestellt. Es hat aber natürlich auch politische und wissenschaftliche Dimensionen.

Unabhängige Teilhabeberatung ist gesetzlich vorgeschrieben im Sozialgesetzbuch IX (SGB 9). Und zwar im Kapitel 6 Leistungsformen, Beratung ; Abschnitt 2 Beratung; § 32 ff


§ 32 Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung; Verordnungsermächtigung
(1) Zur Stärkung der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen und von Behinderung bedrohter Menschen fördert das Bundesministerium für Arbeit und Soziales eine von Leistungsträgern und Leistungserbringern unabhängige ergänzende Beratung als niedrigschwelliges Angebot, das bereits im Vorfeld der Beantragung konkreter Leistungen zur Verfügung steht. Dieses Angebot besteht neben dem Anspruch auf Beratung durch die Rehabilitationsträger.
(2) Das ergänzende Angebot erstreckt sich auf die Information und Beratung über Rehabilitations- und Teilhabeleistungen nach diesem Buch. Die Rehabilitationsträger informieren im Rahmen der vorhandenen Beratungsstrukturen und ihrer Beratungspflicht über dieses ergänzende Angebot.
(3) Bei der Förderung von Beratungsangeboten ist die von Leistungsträgern und Leistungserbringern unabhängige ergänzende Beratung von Betroffenen für Betroffene besonders zu berücksichtigen.
(4) Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales erlässt eine Förderrichtlinie, nach deren Maßgabe die Dienste gefördert werden können, welche ein unabhängiges ergänzendes Beratungsangebot anbieten. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales entscheidet im Benehmen mit der zuständigen obersten Landesbehörde über diese Förderung.
(5) Die Förderung erfolgt aus Bundesmitteln und ist bis zum 31. Dezember 2022 befristet. Die Bundesregierung berichtet den gesetzgebenden Körperschaften des Bundes bis zum 30. Juni 2021 über die Einführung und Inanspruchnahme der ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung.
(6) Die Bundesmittel für die Zuschüsse werden ab dem Jahr 2023 auf 65 Millionen Euro festgesetzt. Aus den Bundesmitteln sind insbesondere auch die Aufwendungen zu finanzieren, die für die Administration, die Vernetzung, die Qualitätssicherung und die Öffentlichkeitsarbeit der Beratungsangebote notwendig sind.
(7) Zuständige Behörde für die Umsetzung der ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung ist das Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Es kann diese Aufgaben Dritten übertragen. Die Auswahl aus dem Kreis der Antragsteller erfolgt durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Benehmen mit den zuständigen obersten Landesbehörden. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales erlässt eine Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates, um die ergänzende unabhängige Teilhabeberatung nach dem Jahr 2022 auszugestalten und umzusetzen.
Quelle: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_9_2018/__32.html


Menschen, die unter den Bedingungen von Behinderung leben oder aber ihre Eltern oder Sorgeberechtigten, müssen also unabhängige Beratungen zu ihren Rechten und Angeboten erhalten. Diese Beratung darf also nicht von Kostenträgern, Ämtern, Behörden o.ä kommen und ansich auch nicht von Dienstleistern. Es muss also unabhängige Beratungsstellen geben, die umfassend zu allen Themen der Teilhabe für Menschen mit Beeinträchtigungen, Behinderungen, o.ä. beraten und begleiten.

Teilhabe meint hier gemäß § 1 SGB IX:
§ 1 Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft
Menschen mit Behinderungen oder von Behinderung bedrohte Menschen erhalten Leistungen nach diesem Buch und den für die Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen, um ihre Selbstbestimmung und ihre volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken. Dabei wird den besonderen Bedürfnissen von Frauen und Kindern mit Behinderungen und von Behinderung bedrohter Frauen und Kinder sowie Menschen mit seelischen Behinderungen oder von einer solchen Behinderung bedrohter Menschen Rechnung getragen.
Quelle: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_9_2018/__1.html

Menschen, die unter den Bedingungen von Behinderung/Beeinträchtigung leben, sollen selbstbestimmt und gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können und bekommen dafür auch Leistungen vom Staat. Die Selbstbestimmung ist dazu ein gesetzlich verankerter Wert.

Ergänzt wird dies dann noch vom § 4 SGB IX sowie § 8 SGB IX:
§ 4 Leistungen zur Teilhabe
(1) Die Leistungen zur Teilhabe umfassen die notwendigen Sozialleistungen, um unabhängig von der Ursache der Behinderung
1.
die Behinderung abzuwenden, zu beseitigen, zu mindern, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder ihre Folgen zu mildern,
2.
Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit oder Pflegebedürftigkeit zu vermeiden, zu überwinden, zu mindern oder eine Verschlimmerung zu verhüten sowie den vorzeitigen Bezug anderer Sozialleistungen zu vermeiden oder laufende Sozialleistungen zu mindern,
3.
die Teilhabe am Arbeitsleben entsprechend den Neigungen und Fähigkeiten dauerhaft zu sichern oder
4.
die persönliche Entwicklung ganzheitlich zu fördern und die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sowie eine möglichst selbständige und selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen oder zu erleichtern.
(2) Die Leistungen zur Teilhabe werden zur Erreichung der in Absatz 1 genannten Ziele nach Maßgabe dieses Buches und der für die zuständigen Leistungsträger geltenden besonderen Vorschriften neben anderen Sozialleistungen erbracht. Die Leistungsträger erbringen die Leistungen im Rahmen der für sie geltenden Rechtsvorschriften nach Lage des Einzelfalles so vollständig, umfassend und in gleicher Qualität, dass Leistungen eines anderen Trägers möglichst nicht erforderlich werden.
(3) Leistungen für Kinder mit Behinderungen oder von Behinderung bedrohte Kinder werden so geplant und gestaltet, dass nach Möglichkeit Kinder nicht von ihrem sozialen Umfeld getrennt und gemeinsam mit Kindern ohne Behinderungen betreut werden können. Dabei werden Kinder mit Behinderungen alters- und entwicklungsentsprechend an der Planung und Ausgestaltung der einzelnen Hilfen beteiligt und ihre Sorgeberechtigten intensiv in Planung und Gestaltung der Hilfen einbezogen.
(4) Leistungen für Mütter und Väter mit Behinderungen werden gewährt, um diese bei der Versorgung und Betreuung ihrer Kinder zu unterstützen.
Quelle: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_9_2018/__4.html
§ 8 Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten

(1) Bei der Entscheidung über die Leistungen und bei der Ausführung der Leistungen zur Teilhabe wird berechtigten Wünschen der Leistungsberechtigten entsprochen. Dabei wird auch auf die persönliche Lebenssituation, das Alter, das Geschlecht, die Familie sowie die religiösen und weltanschaulichen Bedürfnisse der Leistungsberechtigten Rücksicht genommen; im Übrigen gilt § 33 des Ersten Buches. Den besonderen Bedürfnissen von Müttern und Vätern mit Behinderungen bei der Erfüllung ihres Erziehungsauftrages sowie den besonderen Bedürfnissen von Kindern mit Behinderungen wird Rechnung getragen.
(2) Sachleistungen zur Teilhabe, die nicht in Rehabilitationseinrichtungen auszuführen sind, können auf Antrag der Leistungsberechtigten als Geldleistungen erbracht werden, wenn die Leistungen hierdurch voraussichtlich bei gleicher Wirksamkeit wirtschaftlich zumindest gleichwertig ausgeführt werden können. Für die Beurteilung der Wirksamkeit stellen die Leistungsberechtigten dem Rehabilitationsträger geeignete Unterlagen zur Verfügung. Der Rehabilitationsträger begründet durch Bescheid, wenn er den Wünschen des Leistungsberechtigten nach den Absätzen 1 und 2 nicht entspricht.
(3) Leistungen, Dienste und Einrichtungen lassen den Leistungsberechtigten möglichst viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestaltung ihrer Lebensumstände und fördern ihre Selbstbestimmung.
(4) Die Leistungen zur Teilhabe bedürfen der Zustimmung der Leistungsberechtigten.
Quelle: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_9_2018/__8.html

Weitere Ergänzungen gibt es dann ua. im SGB XII zB zu Hilfen zur Pflege oder SGB VIII zu Leistungen für Menschen mit seelischen bzw psychischen Beeinträchtigungen/Behinderungen usw usw

Es zeigt sich also, dass Menschen, die unter den Bedingungen von Behinderungen leben, berechtigt sind Leistungen des Staates in Anspruch zu nehmen. Dazu gehört eben auch die unabhängige Teilhabeberatung. Die unabhängige Teilhabeberatung muss/sollte dann eben auch auf Selbstbestimmung und Wunsch- und Wahlrecht der Betroffenen, Eltern oder allgemein Nutzer hinweisen und diese unterstützen.

Leistungen der Teilhabe beziehen sich eben ua auf Bildung (Kita, Schule, Hochschule, usw); Ausbildung und Arbeitsplatz/Arbeitsleben; Assistenzleistungen, Eingliederungshilfen, und vieles mehr.



Meine Diskussionsinteressen zum Thema unabhängige Teilhabeberatung sind nun insbesondere:

- Gibt es in Euren Bundesländern (auch gerne Österreich und Schweiz) bzw Landkreisen, Städten, usw. unabhängige Teilhabeberatungsstellen?
- Wenn ja: Gibt es sie in erreichbarer Nähe?
- Wenn ja: Wie sind sie bekannt und zugänglich? Werden sie von den Ministerien, Senatorischen Behörden, den Sozialämtern usw beworben und bekannt gemacht?
- Beraten sie tatsächlich unabhängig?
- Beraten sie (unabhängig) zu den Themen Teilhabe am Arbeitsleben und Bildung?
- Beraten sie (unabhängig) zu den Themen Assistenzleistungen und Eingliederungshilfen?
- Beraten sie (unabhängig) zu den Themen der SGB VII und XII?
- Beraten sie zum Persönlichen Budget in den Themen Bildung, Arbeitsleben, Assistenzleistungen und Eingliederungshilfen usw?
- Beraten Sie zu Assistenzdienstleistern in den Themen Bildung, Arbeitsleben, Assistenzleistungen und Eingliederungshilfen, usw?
- Beraten sie zu Selbstbestimmung und Wunsch- und Wahlrecht zu en Themen Bildung, SArbeitsleben, Assistenzdienstleistern, Eingliederungshilfen?
Unterstützen sie das Nutzerinteresse bzw die Nutzerrechte (Elternrechte, etc.) zu Selbstbestimmung und Wunsch- und Wahlrecht? Wie? Begleiten sie bei Klagen und Widerspruchsverfahren?

Es gibt natürlich noch weitere Aspekte. Bringt sie ein.

Zum Anstoß der Diskussion drei Beispiele:

- Eltern möchten für ihr behindertes Kind nach SGB IX zur Teilhabe an Bildung eine Assistenz in der Schule oder Kita beantragen. Wie ist dann das Vorgehen bei Euch im Bundesland usw? Werden sie direkt an eine unabhängige Teilhabeberatungsstelle verwiesen? Werden sie auf das Wunsch- und Wahlrecht zu Persönlichem Budget oder Assistenzdienstleister hingewiesen und in ihrer Selbstbestimmung gestärkt? Erhalten sie dann im Dienstleistermodell eine Kostenübernahmebewilligung vom Sozialamt und können dann einen Vertrag mit dem Assistenzdienst ihrer Wahl abschließen? Können sie im Arbeitgebermodell einen Vertrag mit Assistenzkräften ihrer Wahl abschließen? Wie hat die unabhängige Teilhabeberatung Anteil daran? Würden sie zu den Elternrechten beraten?

- Ein erwachsener Mensch mit einer körperlichen Beeinträchtigung (zB Querschnittslähmung, fortschreitender Muskelerkrankung oder angeborener Muskelerkrankung) möchte zum selbstbestimmten Leben in der eigenen Wohnung Persönliche Assistenz beantragen. Wie ist da bei Euch das Vorgehen? Wird er auf die unabhängige Teilhabeberatung hingewiesen und zu Selbstbestimmung, Wunsch- und Wahlrecht, Dienstleistungsmodell und Arbeitgebermodell beraten? Können das Arbeitgeber- und das Dienstleistermodell dann auch tatsächlich so begutachtet und umgesetzt werden? Welchen Anteil hat dann die unabhängige Teilhabeberatung daran? Würde zu den Nutzerrechten beraten?

- Eltern möchten für ihr jugendliches und körperlich behindertes Kind (zB 14 - 16 Jahre alt) Persönliche Assistenz im Alltag und in der Freizeit beantragen. Das Kind möchte unabhängiger von den Eltern leben, sich nicht mehr von den Eltern in der Freizeit begleiten lassen, nicht mehr so abhängig von den Eltern sein, nicht mehr die Körperpflege von den Eltern machen lassen oder Intimpflege, möchte nicht abhängig von Freunden sein, möchte mehr selbst bestimmen, möchte erwachsen werden und unabhängiger, etc. Das Kind möchte aber auch nicht von unterschiedlichen Anbietern und Personen die Assistenz erhalten sondern von einem Assistenzdienstleister durch Leistungen aus einer Hand. Würden die Eltern und das Kind dann auf die unabhängige Teilhabeberatung hingewiesen und entsprechend zu Selbstbestimmung und Wunsch- und Wahlrecht beraten? Würden das Kind das Dienstleistungsmodell nutzen können und einen Assistenzdienst beauftragen dürfen (bzw die Eltern)? Welchen Anteil hätte die unabhängige Teilhabeberatung daran? Würde zu den Nutzer-/Elternrechten unabhängig beraten?

Welche Anteile haben die Politik, die Wissenschaft, die Behindertenverbände bei Euch daran? Gibt es Literatur, Erfahrungsberichte, Studien, Parlaments-/Fraktionsanfragen, oder sonstwas dazu? Gibt es Berichte und Studien zur Nutzerzufriedenheit dazu?