abgelenkt schrieb:Berufungen machen daher im Strafprozess wenig Sinn m. E.
Dann müsstest Du konsequenterweise dafür sein, generell bei Strafurteilen die Berufung abzuschaffen, insbesondere wenn es um Dinge wie Trunkenheitsfahrten, Wirtshausschlägereien, kleiner Drogendelikten oder Fahrerflucht, nicht zu vergessen Straftaten im Zusammenhang mit Demonstrationen wie bei Klimakleber*innen. Fakt ist nun einmal, dass gegen erstinstanzliche Urteile des Amtsgerichts auch im Strafrecht die Berufung zum Landgericht möglich ist. Und bei vielen dieser Delikte ergeht zuerst einmal ein Strafbefehl, gegen den erst einmal Einspruch erhoben wird, so dass es doch zur mündlichen Verhandlung vor dem AG kommt. D.h. mit der Berufungsmöglichkeit zieht sich das Verfahren schon hin.
Und wenn man den Aufwand für Berufungen bei kleineren Delikten in Summe nimmt, dürfte dieser für die Justiz insgesamt deutlich größer sein, als wenn man bei wirklich ganz schweren Strafen diese noch zulassen würde, auch wenn der Prozentsatz an Berufungseinlegungen bei diesen Delikten (auch wenn man die mit weniger als 15 Tagessätzen schon rausnimmt, weil da Berufung ausgeschlossen ist) dann sicherlich deutlich höher wäre als er derzeit im Hinblick auf erstinstanzliche Urteile des Amtsgerichts in Strafsachen ist.
Mich persönlich stört es einfach, dass auch eine Möglichkeit der Verletzung des in dubio pro reo Grundsatz bei lebenslänglichen Verurteilungen theoretisch doch nur sehr begrenzt revisibel ist. Ich halte es bei Indizienprozessen wie diesem oder dem Badewannenmord oder Ammerseekiste für problematisch, dass es keine gibt, dass der festgestellte Sachverhalt nicht noch einmal überprüft werden kann, bevor es zu einem Wiederaufnahmeverfahren käme. Im Eiskellerfall hat der Angeklagte das Glück, dass die Richterin selten ungeschickt und absolut unprofessionell agiert hat. Hätte sie das dezenter gemacht, so wäre die Revision wohl erfolglos geblieben und trotzdem wäre sie wohl kaum weniger voreingenommen gewesen aber mit einem auf diese Weise erzielten lebenslänglich müssten dann alle leben.
abgelenkt schrieb:Das wird mit der Zeit in der Regel nicht besser sondern nur ungenauer.
Das ist richtig, aber das Argument lässt sich in manchen Fällen auch umdrehen: Im Fall der Entführung und des Todes von Ursula Herrmann lagen zwischen Tat und Prozesseröffnung stolze 36 Jahre. Und man nimmt es hin, dass eine Verurteilung mehr oder weniger auf Zeugenaussagen basierte. Ein Vernehmungsprotokoll eines Verstorbenen....keiner kann mehr sagen, wie die Vernehmung damals genau lief (unter dem hohen Druck, unter dem die Polizei stand). Personen, die 1986 Kinder waren, wollten noch wissen, welche Art von Tonbandgerät der Angeklagte damals gehabt haben soll.
Richter*innen sind auch nur Menschen und lassen sich von Eindrücken leiten, von Emotionen, Sympathie und Antipathie. Angesichts mancher Entscheidungen von so schwerwiegender Tragweite sollte unser Rechtsstaat in manchen Fällen dieser Art eine zweite Tatsacheninstanz ertragen können.
XluX schrieb:Wie genau diese Lösung aussehen soll, könnte ich spontan auch nicht sagen. Und ich sehe auch das Problem von @rabunsel, dass der Staat für eine Berufung ggf. mehr finanzielle Mittel hätte als der Angeklagte.
Das ist in der Tat dann das Thema, wie man es eingrenzen könnte. Vielleicht sollte über eine Zulassung der Berufung entschieden werden und ein Kriterienkatalog festgemacht werden. Hier ein paar Gedanken dazu:
-wenn eine Verurteilung/Freispruch u.a. von der Aussage einer zwischenzeitlich verstorbenen Person abhängt und diese Aussage vor mehr als 5 Jahren getätigt worden ist
-bei reinen Indizienprozess , sofern man diesen Begriff greifbar in eine Legaldefinition bringen kann, auf jeden Fall bei Kapitaldelikten immer dann, wenn es weder verwertbare DNA-Spuren noch Zeug*innenaussagen, die die Tatausführung beobachtet haben und Täter*innen identifizieren können
-Verurteilungen wegen Kapitaldelikten, bei denen keine Obduktion stattgefunden hat und eine solche wegen Verbrennens der Leiche nicht mehr stattfinden kann oder wenn die Obduktion als Todesursache kein Tötungsdelikt feststellt und Ermittlungen erst aufgenommen werden, nachdem eine erneute Obduktion nicht mehr möglich ist oder bei denen die Obduktion nicht mit hinreichender Sicherheit die Todesursache ermitteln kann und es keine Zeug*innenaussagen gibt, die zumindest das Vorliegen eines Kapitaldelikts zweifelsfrei bestätigen können
Das sind jetzt nur mal ein paar Brainstorming-Gedanken, die Inspiration kommt von realen Fällen. Diese Ansicht muss niemand teilen. Für mich ist es leichter erträglich, wenn ein Rechtsstaat in diesen strittigen Fällen noch eine zweite komplette Tatsacheninstanz gewährt als dass es in Kauf genommen wird, dass trotz objektiv dünner Beweislage eine Person lebenslänglich ins Gefängnis geschickt wird. Den Angehörigen von Opfern, die sich verständlicherweise an den letzten Strohhalm der Aufklärung, was genau mit ihren Lieben geschah, klammern, wird meines Erachtens bei Verurteilungen von wenig sympathischen und möglicherweise komplett empathielosen aber eventuell objektiv unschuldigen Angeklagten nicht wirklich geholfen. Das ist eher "Opium für das Volk", um das "gesunde Volksempfinden" insbesondere im wirklich schönen Oberbayern, wo man halt noch "Recht und Ordnung" sehen will, zu beruhigen.