InspMorand schrieb:Was sollen das für "finanzielle und gesellschaftliche Konflikte mit Viktoria Gabriel und Andreas Gruber" gewesen sein?
FALSCH! Es gab eine neue Erpressung kurz vor der Tat!Im März 1922 - also unmittelbar vor den Morden - verklagte Viktoria Gabriel Lorenz Schlittenbauer auf Zahlung von Alimenten, da er seiner angenommenen Vaterschaft für Josef nicht mehr nachkam. Das ist in den Akten des Vormundschaftsgerichts dokumentiert.
Es gibt dokumentierte Drohungen: Viktoria Gabriel wollte private Details öffentlich machen. In mehreren Ermittlungsakten taucht die Formulierung auf, Schlittenbauer sei von Viktoria „erpresst“ oder „unter Druck gesetzt“ worden, um Geldforderungen durchzusetzen.
Schlittenbauer fühlte sich mehrfach um Ländereien, Ruf und Status betrogen. Der alte Gruber und Victoria Gabriel haben ihm eine Hofübernahme von Hinterkaifeck mehrfach verweigert. Obwohl er durch die öffentlich gemachte Liaison mit Viktoria und seine angenommene Vaterschaft zu Josef glaubte, ein Anrecht darauf zu haben.
Der Vorwurf der Blutschande war der Auslöser - eine chronische Wunde, die immer wieder aufbrach: Die Hinterkaifecker wollten damit ursprünglich vom Vorwurf ablenken, der alte Gruber habe Inzest mit seiner leiblichen Tochter Victoria Gabriel seit ihrem 16. Lebensjahr begangen. Es folgte ein Schwelbrand an Spannungen, mit denen Schlittenbauer sein Gesicht als Ortsvorsteher verlor. Er war der Mann mit Anrecht auf Viktoria. Er war in der Dorfgemeinschaft Dauer-Anlass zum Gerede. Er hatte eine öffentliche Blutschande-Anzeige abgegeben und wieder zurückgezogen und wieder angezeigt - dazwischen lagen Geldzahlung und "Schweigeabkommen".
Und kurz vor den Morden ist das wieder alles eskaliert.
InspMorand schrieb:Die Konflikte um die Vaterschaft von Josef waren keineswegs "chronisch", sondern mit dem Freispruch von AG und VG 2 Jahre vor der Tat im Wesentlichen beendet. Da hätte eher AG ein Motiv gehabt LS zu erschlagen, weil dieser ihn beinahe wegen Blutschande wieder ins Zuchthaus gebracht hätte - aber nicht umgekehrt.
Und damit ist eben auch deine Behauptung widerlegt, dass dieser Streit "keineswegs chronisch" war. Genau das war er - und das schreibst Du doch selbst. Nur hatte der alte Gruber auch einen guten Grund, den Schlittenbauer zu "erschlagen", weil er ihn wieder ins Zuchthaus bringen wollte - nachdem dessen Tochter Victoria Gabriel dem gehörnten Schlittenbauer den väterlichen Hof vorenthielt.
Kurzum: Es gab einen chronischen Schwelbrand und explosives Beziehungsgeflecht zwischen mehreren Menschen, die sich am Liebsten "erschlagen hätten".
Und damit kommen wir damit zu deinem
Punkt 1, dem Tod von Schlittenbauers leiblicher Tochter, was deinen Ausführungen nach nicht mehr war als ein belangloser "Betriebsunfall" im bäuerlichen Bayern.
Das Kind von Lorenz Schlittenbauer, um das es hier geht, war seine Tochter Anna Schlittenbauer – geboren im März 1922. Sie wurde am 30. März 1922 beerdigt, also direkt einen Tag vor den Morden auf Hinterkaifeck.
Und ja: Es gibt keinen Hinweis darauf, dass er durch den Tod seiner Tochter psychisch zusammengebrochen ist. Er blieb auch hier "fromm", "geduldig", hat auch diesen Schicksalsschlag wieder "gottesfürchtig" ertragen.
Aber es ist eben auffällig, dass und wie Schlittenbauer diese neuen Stressoren immer wieder geschluckt hat. Gerade bei Familienauslöschungstaten gibt es nicht den einen Auslöser, sondern irgendwann den Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.
Sicherlich war der Tod seiner Tochter nicht der eine Tropfen zu viel. Aber es kamen in diesen Tagen vor den Mord auffällig viele Tropfen in kurzer Zeit. Dass Victoria Gabriel in wieder um Alimente erpresste, sogar vor Gericht zog - auch das war wohl nicht der "eine" große Tropfen. Aber es hat bei Schlittenbauer garantiert ausgelöst: "Nein, jetzt geht das auch wieder von vorne los."
Schlittenbauer war definitiv in einer akuten, jahrelangen persönlichen Krise. Und bei ihm kommen viele Katalysatoren für eine Eskalation zusammen; sie werden immer mehr, aber sie werden nie "systemisch" verarbeitet. Sie werden geschluckt.
Die brutale Mordserie auf Hinterkaifeck zeigt dann ein explosives Bild: Einen kompletten Bruch der zivilisatorischen Hülle, ein Täter im Ausnahmezustand, in einem Rausch der Gewalt und Vernichtung. Ein Mensch, bei dem sich der Schalter umgelegt hat, der sich entladen hat.
Und bei einem Täterprofil, dass auf Lorenz Schlittenbauer hindeutet, ergibt der finale und letzte und unglaublich brutale Hieb auf den Schädel des jungen Josef in seinem Kinderbett eben absolut Sinn. Er ist kein "Unfall", er ist das Ende in einer Eskalation, bei dem die Gehirnteile des Jungen durch den Raum fliegen.
Angenommen ein Mensch wie Schlittenbauer - der an einen gerechten göttlichen Richter glaubte - steht nun im Schlafzimmer. Vor ihm liegt wehrlos der letzte noch lebende Hinterkaifecker. Was müsste wohl in Schlittenbauer vorgegangen sein? Seine gewollte und leibliche Tochter wurde ihm gerade genommen. Stattdessen liegt vor ihm nun das quicklebendige Inzestkind Josef in seinem Kinderbett. Vielleicht weint er, vielleicht ist er vor lauter Angst still, vielleicht erkennt er ihn?
Ausgerechnet der Junge, den er wegen einer Blutschande annehmen sollte, den er sogar anerkannt hat, um dann wieder abzuschwören. Der Junge, der zum Auslöser dieser ganzen öffentlichen Schlammschlacht wurde, das Symbol seiner Schande. Der Junge, der ihn, den gottesfürchtigen Mann, zum Sünder machte.
Hier wage ich mich selbst aufs Feld der Spekulation: Aber gerade der brutale Mord an Josef ist in dieser Mordserie besonders aufschlussreich. Dieser Hieb durchbrach die höchste denkbare psychologische und gesellschaftliche Tabuschwelle.
Es gibt einen universellen, biologisch verankerten Hemmmechanismus, der bewirkt, dass Erwachsene – vor allem Männer – Kindern nicht absichtlich schweren Schaden zufügen. Kein Mann, und sei er auch noch so abgestumpft und brutal, zerstört einfach so ein kleines Kind, um die Tat "abzuschließen".
Dieser Hieb erfordert eine massive psychische Enthemmung oder eine innere Total-Abschaltung - also mehr, als nur einen Ausnahmezustand. Das finale Töten eines Kindes – und dies mit extremer Brutalität – ist das Ergebnis tiefster Wut oder Scham.
Dass der kleine Josef so brutal und zum Schluss starb, wird nur plausibel, wenn es sich beim Täter um einen Mann handelte, bei dem jahrelange Demütigung, Scham, soziale Ächtung, Verletzung der Ehre und eine religiös gefärbte Kränkung zu einer einzigen, finalen Gewaltkulmination entladen.
Man muss also zwangsläufig fragen: Bei welchem möglichen Täter konnte die systemische Schwelle zur Kindstötung so radikal überschritten werden?