Die erste Seite meines Romans.

Kapitel 1 - Vorgezeichnet

„Ernst-Wilhelm.“
Erschrocken wirbelte ich herum. Zu sehr war ich damit beschäftigt, die Hausaufgaben zu erledigen. Vor meinem Auge sah ich nichts mehr als Listen, Buchstaben und Verse. Goethe, Schiller, Fontane, Droste-Hülshoff, immer und wieder. Deutsche Lyrik, ein wichtiger Bestandteil der Schullaufbahn.
„Vater möchte dich sprechen.“
Der Butler stand im Türrahmen und lächelte verhalten. Wie schön öfters. Immer wenn Alfred etwas wollte, schickte er Wilhelm hoch. Dennoch blieb ich zuerst sitzen. Irgendetwas schien anders zu sein, als würde es um ein sehr wichtiges Thema gehen…
Mit den Worten „Ja, Wilhelm, ich werde herunterkommen“ stand ich auf und schob den Stuhl heran. Was Alfred plötzlich von mir wollte, wusste ich nicht. So sehr ich über frühere Gespräche nachgedacht hatte, fiel mir kein Grund ein.
Ohne weiter darüber nachzudenken, streifte ich mein Jackett über und knöpfte es zu. Dann folgte ich Wilhelm durch den dunklen Flur nach unten, ins Wohnzimmer.
„Ich habe dich erwartet“, waren Alfreds erste Worte. Wie so oft am Sonnabend saß er in seinem großen Sessel, mit einem dicken Buch in der Hand. Der Butler des Hauses stand regungslos neben der Tür, die rechte Hand hinter den Rücken gelegt.
Erst als ich mich bedächtig auf das Sofa neben dem Sessel niederließ, fand ich meine Stimme wieder.
„Ja, mein Vater.“
Noch immer musste ich an den Schwung Hausaufgaben denken, den ich eben erst bearbeitet hatte. Ich kannte es ohnehin kaum anders, tagein, tagaus, immer derselbe Ablauf, morgens aufstehen, ins Nebengebäude gehen, den ganzen Vormittag Unterricht erhalten, stets neues lernen, dann Hausarbeiten erledigen, der Hausgemeinschaft beiwohnen, wie all die Jahre zuvor.
Doch schon öfters fragte ich mich, wie andere Kinder zur Schule gingen. Ich wusste, dass es Gemeindeschulen gab, die für alle Kinder offen waren. Vorstellen konnte ich mir den Unterricht dort nicht, und meinen einzigen Freund hatte ich auch schon seit fast einem halben Jahr gesehen, weil er auf ein Internat weitab von hier ging…
Langsam legte Alfred das Buch weg, dann setzte er sich auf.
„Du hast die Unterstufe nun erfolgreich absolviert, Herr Stelitz hat sein Bestes gegeben. Genauso wie du, hoffe ich.“
„Ja, natürlich.“
„Wir wissen, was du beruflich machen wirst. Wie du weißt, stammt dieser Wohlstand nicht von ungefähr irgendwo her. Unser Unternehmen wächst und gedeiht prächtig. Als unser einziger Sohn steht dir daher eine wichtige und verantwortungsvolle Aufgabe bevor.“
Alfreds Pause war unheimlich. Ich hatte wenigstens eine ungefähre Vorstellung, was er machte. Immerhin war er nur manchmal eine Woche hier zuhause. Häufig zog er von dannen, zu den Außenstellen seines Unternehmens, um zu verwalten, zu organisieren, zu delegieren. Steinziegel waren es, der Stoff aus dem der hiesige Wohlstand bestand. Der Stoff, der der heutigen Welt überhaupt Wohnraum und Arbeitsplätze brachte. Der Stoff, der mir das brachte, von dem ich wusste was andere nie hatten.
Eigentlich konnte ich mir schon denken, was ich zukünftig machen sollte. Ich sollte den Zusammenschluss dieser Ziegeleien übernehmen. Als einziger Sohn musste es ja so sein, jünger wird Vater ja auch nicht mehr…
„Du weißt ja bestimmt, wie es bei anderen Familienunternehmen aussieht. Nachfolgen und Generationenwechsel sind essentiell für den sicheren Fortbestand“, erklärte Alfred, und ich wusste nun allmählich, was meine Familie bald von mir wollte.
„Ich… - Ich soll deine Nachfolge antreten?“
„Genau, mein Sohn. Du wirst das Familienunternehmen schon bald weiter zu Ruhm und Erfolg bringen.“
So sehr ich dies erwartet hatte, so überrascht war ich auch. Ich fühlte mich irgendwo beruhigt, nun auch offiziell zu wissen, welche Perspektive ich hatte. So klar war das für mich bisher nie – es hatte mir aber auch nie jemand gesagt. Immer war bisher die Rede davon, dass ich dem Hausunterricht beiwohnen müsse, fleißig meine Hausarbeiten zu erledigen, Belobigung des Lehrers zu erhalten, es sei schließlich meine erste Pflicht gut gebildet zu sein…
Ohne weiter nachzudenken, stieß ich aus: „Und – was muss ich jetzt machen, woher bekomme ich das Wissen was ich dafür brauche?“
„Mein Sohn, ich weiß was zu tun ist. Du wirst bald in den Ferien mit in die Fabriken kommen, die Verwaltung kennen lernen. Du wirst lernen was es bedeutet, der Oberste der Hierarchie im Unternehmensgefüge zu sein. Du wirst schon noch sehen auf was ankommt.“
Vorstellen konnte ich mir darunter nichts, aber ich war neugierig, was mich erwarten würde. Also antwortete ich nur: „In Ordnung, Vater.“
„Nun, Ernst-Wilhelm. Mein Sohn. Schau mich an“, forderte Alfred.
Es fiel mir schwer, ihm in seine dunkelblauen Augen zu schauen. Sein dichter Schnurrbart und sein formelles Auftreten verunsicherten mich. Er strahlte eine Aura aus, von der ich dachte ihr nie entkommen zu können. Immer wieder wich ich seinem durchdringenden Blick aus. Ich hatte das Gefühl, als würde er mein tiefstes Inneres lesen können, meine geheimsten Wünsche und Ängste erkennen.
„Du wirst meine Nachfolge antreten. Ich erwarte von dir absolute Loyalität und Gehorsam. Ich weiß was gut für dich ist. Widerspruch dulde ich nicht. Konsequenzen wirst du zu tragen haben, wenn du dich ungebührlich benimmst.“
Seine Worte hämmerten regelrecht in meinem Schädel. Es klang anders als er sonst mit mir geredet hatte, stellte ich verunsichert fest. Natürlich forderte er schon immer Gehorsam, doch jetzt hatte ich nicht mehr den Eindruck, als würde er es damit gut für mich meinen.
Noch ehe ich weiter überlegen konnte, fuhr er fort: „Ich fordere dich auf – versprich mir, dass du das tust, was wir für dich vorgesehen haben.“
Erstmals seit langer Zeit spürte ich den Wunsch, abzulehnen. Ich wollte das nicht. Obwohl ich keine Idee hatte wie die Arbeit in den Ziegeleien aussah, fühlte ich dass es nicht meine Welt wäre, dass ich dem lieber nicht stattgeben sollte. Warum wusste ich nicht, zu wenig hatte ich mich mit meinen Sorgen und Ängsten auseinandergesetzt…
Doch wie fremdgesteuert sprach ich: „Ja, mein Vater, ich verspreche Dir das zu tun was ihr für mich vorgesehen habt. Ihr habt mein Ehrenwort.“
Einen kurzen Moment hielt Alfred inne. Dann sprach er feierlich: „Schön, mein Sohn, das wollte ich hören.“