Trimalchio schrieb:Der im dritten Bild von einem Flammenkranz umstrahlte Kreis sollte doch wohl die Sonne sein. Die
Personifikation zeigt hier ein rundes Gesicht mit langem Haar und Haarband, augenscheinlich ein weibliches Antlitz.
Ich kann leider gar nicht einschätzen, ob das dargestellte Gesicht der Sonne männlich oder weiblich sein soll.
Ungewöhnlich finde ich, dass diese Sonne nicht lacht. Personifizierte Sonnen zeichnen sich meistens durch ein breites Lachen oder Lächeln aus. Dieses Gesicht sieht keineswegs so freundlich aus, wie man es von Sonnengesichtern gewohnt ist.
Als ungewöhnlich empfinde ich auch, dass der Blick dieses Sonnengesichts nicht frontal auf den Betrachter ausgerichtet ist.
.. aber, dass der Zeichner dieses Gesichts- und Figurenschema im Halbprofil (Drehung 45°) beherrscht, das fast alle Menschen-Darstellungen im Manuskript besitzen, ist sowieso eine sehr bemerkenswerte Leistung!
Die meisten Menschen erklären ihre zeichnerische Entwicklung für beendet, bevor ihnen das Zeichnen einer ganzen Figur in 45°-Drehung möglich ist .. die haben dann aber immerhin zuvor noch sehr lange die normale Profildarstellung (Drehung 90°, Nase seitlich, 1 Auge, halber Mund seitlich ..) geübt, die der Zeichner meines Erachtens noch nicht korrekt beherrscht (siehe S.57v).
Das steht im deutlichen Widerspruch zu der heutigen normalen zeichnerischen Entwicklung, bei der man sich mit der gängigen Profildarstellungen erst die kognitiven Fähigkeiten aneignet, die man für die Konstruktion eines Halbprofils benötigen würde (räumliches Denken, perspektivische Vorstellungskraft,). Es wäre zwar naheliegend, dass man auch im Mittelalter zuerst zeichnerisch mit der 90°-Drehung experimentiert hat, bevor man sich der 45°-Drehung gewidmet hätte, aber letztendlich herrschten zur damaligen Zeit noch noch ganz andere und sehr begrenzte Voraussetzungen, was das räumliche Vorstellungsvermögen der Menschen und die Tiefendarstellung in der Kunst betraf.
Dieses Figurenschema in 45°-Drehung, das man in der Kunst des frühen Mittelalters dennoch häufig findet, ermöglicht es nämlich auch, Tiefe darzustellen, ohne ein ausgeprägtes räumliches Denken zu besitzen oder die feste Einheit (Gesicht: 2 Augen, Nase in der Mitte, darunter der Mund) auflösen zu müssen.
Da auch die Beinstellung, in diesen Gemälden oft der entspricht, die im Manuskript dargestellt wird, gehe ich von einer Art "Zeichentrick" aus, der damals angesagt war und oft kopiert wurde.
Ich halte es für naheliegend, dass auch der Zeichner eine Vorlage besessen hat, von der er dieses Schema abgezeichnet hat. Dafür hätte er es nicht verstehen müssen, hätte dann aber beispielweise bei der korrekten Anordnung beider Brüste vor Problemen gestanden, wenn er keine (weitere?) Vorlage mit nackter Brust in 45°-Drehung gehabt hätte. Vermutlich stellte diese Vorlage dann auch eine dickbäuchige Frau dar?
Anatomisch völlig falsch dargestellte Unterarme könnten ebenfalls Versuche des Zeichners sein, die Vorlage(n?) mit seinen eigenen Fähigkeiten für seine Zwecke abzuändern?