Rick_Blaine schrieb:Das Forum. Hier schreiben ja nur noch wenige, und die meisten sind offensichtlich von der Unschuld des ST überzeugt, und das ohne die Details aller in der letzten HV eingebrachten Gutachten, Aussagen usw. zu kennen. Da kann ich gleich meinen Kaffeesatz befragen.
Nur damit uns richtig verstehen, du hattest doch gemeint, dass man nicht den Fehler begehen solle, als Laie die Aussage des Gutachtens vorweg zu nehmen.
Mich hatte nur interessiert wen du mit Laien meinst, weil ich dir zwar zustimmen würde, dass es ein Fehler wär, wenn eine Richterin die mit einem Fall befasst ist, den Ausgang vorweg nehmen würde.
Im Gegensatz dazu könnte ich keinen Fehler ausmachen, wenn sich jemand mit/ohne Expertise in einem Forum zu seinen Vermutungen bezüglich eines Gutachtens äußert? (Dass das hier nur ein Hobby ähnlich dem Kaffeesatzlesen sein kann und nicht in einem rechtskrätigen Urteil endet, wird wohl jedem klar sein.)
Ich persönlich sehe in der mir bekannten Aussage des AM einige Hinweise darauf, dass die Aussage nicht der Wahrheit entspricht. Deshalb erwarte ich einen entsprechenden Ausgang des Gutachtens und ich sehe wirklich kein Problem darin, das in einem Forum zu äußern.
Was ich aber in dem Zusammenhang jetzt nich ganz verstehe ist, was soll eine Schulds- oder Unschuldsvermutung oder die genauen Details der letzten HV damit zu tun haben?
Rick_Blaine schrieb:Das Tatgericht muss freilich begründen, warum es einen Beweis wie würdigt. In diesem Fall also, warum es von den Annahmen eines Gutachters nicht überzeugt ist.
In der Praxis geschieht das sicherlich selten, aber wäre ja nicht falsch. Falsch ist, ein Gutachten von vorn herein als die sakrosankte Wahrheit zu betrachten. Das tun ja auch die Parteien in diesem Fall nicht, die Verteidigung argumentiert vehement gegen die Ergebnisse der bisherigen Gutachten, die Anklage würde vielleicht gegen anderslautende Gutachten argumentieren. Das Gericht kann genauso ein Gutachten beurteilen. Insofern ist es müssig jetzt schon beurteilen zu wollen, wie das Gericht ein zukünftiges Gutachten würdigen wird, da noch nicht einmal feststeht, was in dem Gutachten gesagt werden wird.
Müsste das Gericht, wenn sie von einem Gutachten nicht überzeugt sind, nicht einen anderen womöglich besseren Gutachter beauftragen, so wie das die Verteidigung im vorliegenden Fall auch angeregt hatte? Es wäre doch nicht nachvollziehbar, dass ein Gericht erst einen Sachverständigen beauftragt und somit eingesteht nicht ausreichend eigene Sachkunde zu haben und wenn das Ergebnis nicht gefällt, einfach beschließt jetzt doch ausreichend Sachkunde für die Beurteilung zu haben.
Rick_Blaine schrieb:Wenn es nun spezifisch um die Glaubwürdigkeit eines Zeugen geht, gibt es auch einen Unterschied z.B. zu einem Gutachten eines Hydromechanikers. Ich unterstelle jetzt einmal, dass die Richter einer Kammer nicht in der Lage sind, ein solches wirklich aus eigener Sachkunde zu beurteilen, denn es wird sich unter den Richtern vermutlich keiner befinden, der Fachwissen in Hydromechanik besitzt. Da ist ein Gericht in gewisser Weise einem Fachmann "ausgeliefert." Richter haben aber täglich die Aufgabe, die Glaubwürdigkeit von Angeklagten, Opfern und vor allem Zeugen zu beurteilen. Sie haben dadurch auch Erfahrung. Und sie haben die Aufgabe, diese auf eine konkrete Aussage einer Person anzuwenden, die sie selbst vernommen haben.
Ich möchte nochmal klarstellen, dass ich nicht vorschlage, dass für jeden Zeugen in diesem Fall ein Gutachten zur Glaubwürdigkeit/Aussagetüchtigkeit angefertigt wird, sondern nur für den Zeugen der mehrere psychiatrische Diagnosen, auf einen persönlichen Vorteil aus seiner Aussage hofft und auf dessen Aussage das Urteil hauptsächlich beruht.
Ich halte den Unterschied zwischen einem hydromechanischen Gutachten und einem Gutachten zur Glaubwürdigkeit für nicht so ausgeprägt. Bis zu einem gewissen Grad reicht das Wissen eines Richters, aus Bildung, Lebens- , oder Berufserfahrung, vollkommen aus, um auf die Expertise eines Sachverständigen zu verzichten. So würde vermutlich niemand bei einem einfachen Ertinkungsfall in einem See das Gutachten eines Hydromechanikers erwarten. Das Wissen eines Richters dazu, dass sich Flüssigkeit so verhalten kann, dass man darin ertrinken kann in Kombination mit den Ergebnissen aus der Rechtsmedizin reicht vollkommen aus. Wenn es allerdings darum geht, abzuklären, wie verschiedene Verletzungsbilder innerhalb eines 11-12 stündigen, 12km weiten Abtreibens in einer starken Strömung entstanden sind, reicht das Wissen zum Verhalten von Wasser eines Richters nicht mehr aus. So ähnlich sehe ich das auch bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit, solange es keine besonderen Umstände verlangen, reicht die Kenntnis eines Richters aus, um die Glaubwürdigkeit/Aussagetüchtigkeit selbst zu beurteilen, aber irgendwann ist sein Sachverstand erschöpt.
Auch wenn der ein oder andere Jurist die Psychologie als Wissenschaft immer ein bisschen belächelt und sich selbst als den „Menschenkenner“ mit ausreichen „Hausverstand“ sieht, folgt der BGH dieser Idee glücklicherweise nicht.
Rick_Blaine schrieb:Die Gutachtersituation kann durchaus anders sein. Oder mit verständlicheren Worten: es mag sein, dass ein Gutachter bescheinigt, der Zeuge mache einen generell wahrheitsgetreuen Eindruck, oder eben nicht. Aber es geht um die konkrete Aussage vor Gericht. Wenn laut Gutachter jemand generell den Eindruck macht, er erfinde gerne Dinge, z.B. um sich in seinem Freundeskreis oder in einem Forum wichtig zu machen, heisst das nicht automatisch, dass die Aussage vor Gericht, "ich habe gesehen, dass das blaue Auto bei rot über die Kreuzung fuhr, nicht bei grün," nun falsch sein "muss." Und da muss das Gericht am Ende eben entscheiden.
Also entschuldige bitte, die Gutachtersituation hat nun wirklich überhaupt nichts mit dem von dir Geschilderten gemein.
So etwas wie einen „generell wahrheitsgetreuer Eindruck“ gibt es nicht und ist auch nicht interessant. Psychologen ist schon bekannt, dass Menschen in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich viel oder wenig lügen. In einem aussagepsychologischen Gutachten wird auch nie stehen, der XX lügt oder der XX lügt nicht, weil die auch keine Hellseher sind. Sie werden dem Gericht nur Hinweise geben, welche Punkte einer Aussage mit „Vorsicht“ zu genießen sind.
Natürlich interessiert in so einem Gutachten hauptsächlich die erwartete Glaubwürdigkeit, in der speziellen Aussage und es wird deren Entstehung besonders untersucht. Weshalb es sogar möglich ist, eine Aussage zu beurteilen, ohne die Person zu kennen, auch wenn das nur in absoluten Ausnahmefällen gemacht werden muss.
Wenn man natürlich erwartet, dass Gschichterln im Freundeskreis ausreichen um vor dem Gutachter als unglaubwürdig dazustehen, versteh ich die Skepsis gegenüber solchen Gutachten natürlich.
Rick_Blaine schrieb:Nur, man weiss nicht, ob oder wie weit diese vom Gericht als schuldbestätigend gewertet wurde. Das kann man nur aus dem schriftlichen Urteil, wenn überhaupt, erkennen, und das ist hier nicht Gegenstand der Diskussion.
Nur weil es nicht Gegenstand der Diskussion ist, müssen wir doch nicht so tun als ob wir es nicht kennen würden.
abgelenkt schrieb:Aussagepsychogie wird auch zumindest in Grundzügen in Richter Fortbildungen vermittelt (Hydromechanik und Rechtsmedizin eher nicht).
Ich weiß auch von Vorlesungen zur Rechtsmedizin für angehende Juristen, dennoch gehen wir doch auch nicht davon aus, dass der Richter eine komplizierte rechtsmedizinische Frage erörtert.
abgelenkt schrieb:Ich sehe die Sache auch Ergebnis offen. Ehrlich gesagt verstehe ich hier im Forum auch nur wenige Teilnehmer so, dass sie von einer tatsächlichen Unschuld des Angeklagten sicher ausgehen.
Ich bin eine der wenigen, die von einer tatsächlichen Unschuld von ST ausgehen, witzigerweise erst seit der Veröffentlichung des Urteils. Dennoch schließe ich die Schuld natürlich nicht kategorisch aus und würde mich von entsprechenden Indizien natürlich überzeugen lassen. Daher empfinde ich mich selbst auch als ergebnisoffen.