Biernot schrieb:Ich stimme dir zu, dass soziale Ungleichheit ein massives Problem ist und die Gesellschaft unter Druck setzt. Aber glaubst du wirklich, dass die Spaltung damit einzig und allein erklärt werden kann? Was ist mit den Themen, die nicht direkt mit Geld zu tun haben, wie beispielsweise Meinungsfreiheit, Migration oder Identität? Ist es nicht gerade diese Vermischung von wirtschaftlichen Ängsten mit kulturellen und persönlichen Ängsten, die die Fronten so verhärtet
Doch. Die Geschichte beginnt mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und der Globalisierung ab 1990. Vermeintlich "das Ende der Geschichte". Die Globalisierung war dabei kein Naturereignis, sondern politischer Wille. Der Weltmarkt wurde zum Maß aller Dinge und der Neoliberalismus in den 1990ern zur beherrschenden Ideologie.
Ergebnis: Soziale Ungleichheit. In den ehemaligen Ostblock-Staaten an heftigsten. Globale Konkurrenz, globaler Wettbewerb. Die berühmten Sekundärtugenden "Fleiß, Pünktlichkeit, Disziplin, Verlässlichkeit, Anpassung" reichten nicht mehr, um einen Platz in Wirtschaft und Gesellschaft zu bekommen. Man konnte jederzeit hinten runter fallen.
Zugleich führte die Digitalisierung der Kommunikation einerseits zur Vereinzelung des Individuums, das zugleich seinesgleichen im Internet fand. Die "Indentitätsfrage" wurde virulent, als einerseits die materiellen Grundbedürfnisse durch billige chinesische Massenproduktion gedeckt wurden und andererseits das Individuum als Mann, Frau, Christ, Migrant, Homo, Hautfarbe mehr und mehr verunsichert wurde. Die Frage "Wer bin ich?" war keine psychologische oder philosophische Frage mehr. Sondern eine soziologische.
Migration ist nicht die Ursache des Problems, Migranten gab es in den USA schon immer in großer Zahl. Aber sie werden als Bedrohung empfunden. Und die Meinungsfreiheit gerät immer mehr unter Druck, seitdem jeder seine Meinung veröffentlichen kann, anstatt Leserbriefe zu schreiben oder sich am Speakers Corner auf einen Schemel zu stellen. Aber auch sie ist nicht Ursache, sondern Folge der Digitalisierung der Kommunikation. Der klassische Transmissionsriemen des Journalismus ist nicht mehr notwendig. Was auch auf diesen fatale Auswirkungen hat. Er muss Content und Klicks liefern.
Carl138 schrieb:Und dieser Gedanke war größer als bloße Ökonomie. Er war ein Versprechen von Freiheit, Chancen und Aufstieg für jeden (daher kommt auch der Spruch: Liberty and Justice for All! - geht zurück auf die U.S. Pledge of Allegiance), ein Spruch, die Menschen Hoffnung gab und ganze Generationen bewegt hat in die USA zu ziehen. Also die Überzeugung, dass jeder als Mensch mit Würde definiert wird, und mit genug Entschlossenheit und Sehnsucht nach einem besseren Leben alles erreichen kann.
Dieses Versprechen bekam immer mehr Risse. Angesichts der Verlagerung der Industrieproduktion nach China, der Digitalisierung, die immer mehr Kompetenzen erforderte, dem Tod ganzer Metropolen wie Detroit wuchs die Unsicherheit. Die Zuversicht "Ich kann es schaffen!" wich einer resignierten und ängstlichen Haltung: "Ich kann schon morgen alles verlieren, was ich mir hart erarbeitet haben."
Dazu in den privilegierteren, wohlhabenden, meist liberalen und akademisch gebildeten Kreisen, da tanzten nicht wenige auf der Welle des Neoliberalismus. Der "Individualismus" brach sich Bahn. Zusammen mit dem Internet, billigen Flugverbindungen, Handys, libertärer Grundhaltung und viel Mobilität fühlten sie sich als Elite. Individuelle Bedürfnisse und Gefühle dieser Individuen wurden immer stärker zum Maß aller Dinge. Traditionen, etablierte Verbände wie Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, Vereine usw. waren nicht mehr prägend.
Zu guter letzt schwand die Autorität der etablierten Politik, die immer mehr Gestaltungsmacht an den freien Markt (Neoliberalismus), private Akteure, die EU, die Schuldenbremse und der weiteren Umverteilung von Arm zu Reich abgab. Politik wurde rational "alternativlos", bot keine einlösbaren Versprechungen mehr an, sondern entweder gar keinen Inhalt oder leere Versprechungen. Politiker simulierten Politik.
BoobSinclar schrieb:Nur muss man sich vergegenwärtigen, dass seit Jahrzehnten Untersuchugen immer wieder ergeben, dass ungefähr 25% der Bevölkerung in Deutschland (in Österreich ähnlich) ein geschlossen rechtsextremes Weltbild hat.
Ja. Wobei man sagen muss, diese Leute haben eine Affinität zu rechtsextremistischen Inhalten, von einem geschlossenen Weltbild würde ich nicht sprechen. Viele haben früher CDU, FDP oder gar SPD gewählt, weil sie ihre Interessen dort ganz gut aufgehoben gefühlt haben. Dann wurden sie ab der Jahrtausendwende Nichtwähler und radikalisierten sich in ihren Bubbles im Internet.
Und während z.B. die SPD nach Schröder meinte "Die Nichtwähler, die sind verloren, die holen wir uns nicht zurück!", holte sie die AfD dort ab, wo sie standen. Sehr gut zu beobachten beim Thema "Corona". Rechtspopulisten müssen nicht mühsam monate- oder jahrelang eine halbwegs realistische Programmatik ausdiskutieren. Sondern sie können sich blitzschnell anpassen. Notfalls heute dies und morgen das. Das folgt keiner rationalen Logik. Sondern zielt auf das Bauchgefühl und bei Männern gerne auf die E...