Ich möchte doch noch einmal auf die Diskussion über Empathie zurückkommen, die in meinen Augen ein Schlaglicht darauf wirft, wie sehr die Empfindungen für den Angeklagten und für die Opferseite voneinander abweichen.
So würdigte
@XluX zum Beispiel, die Vorsitzende der neu zuständigen Kammer, Heike Will, habe
XluX schrieb:jetzt schon mehr Empathie für einen potenziell Unschuldigen gezeigt ais im alten Verfahren alle Beteiligten zusammen
.
Dagegen wurde in der Passauer Neuen Presse (PNP) kritisch angemerkt, die Richterin habe zwar zum Prozessauftakt den Angeklagten nach seinem Befinden gefragt, nicht aber den Vater des Opfers.
Darauf gab es heftige Reaktionen, von denen manche bei mir Unverständnis und Erschrecken ausgelöst haben. Das gilt beispielsweise für folgende Einschätzungen:
BoobSinclar schrieb:Der Artikel ist wirklich allerübelste Stimmungsmache jenseits aller Rechtsstaatlichkeit.
Es geht in einem Strafverfahren einzig und alleine darum, einem Angeklagten die individuelle Schuld nachzuweisen, nicht um die Gefühle von irgendwem, auf die man Rücksicht zu nehmen hätte
BoobSinclar schrieb:Weil der Vater angeblich darunter leidet, dass er noch einmal die letzten Live-Bilder seiner Tochter ansehen muss
BoobSinclar schrieb:Nochmal: Der Vater "darf" leiden, wie er will, das hat keinerlei Belang für den fairen Prozess, der einem Angeklagten zusteht.
Solche Äußerungen lassen nicht mal im Ansatz Empathie für die Opferseite erkennen. Sie wirken zum Teil geradezu zynisch - wie etwa die Bemerkung, dass der Vater „angeblich“ (!) darunter leide, die letzten Live-Bilder seiner Tochter ansehen zu müssen. Tatsächlich hat er sich bei der Vorführung abgewandt, weil es ihm das Herz zerriss.
Ähnliche Qualität hat dieser Beitrag:
Rigel92 schrieb:Hier darf man nicht vergessen, der Angeklagte wird vom Staat gezwungen an der Verhandlung teilzunehmen. Ich kann verstehen, dass der Vater stellvertretend für seine Tochter dort sein will, aber er wird im Gegensatz zum Angeklagten nicht gezwungen dort zu bleiben. Wenn er es ihm zu viel wird, kann er jederzeit gehen. Ein "muss" gab es nicht. Dagegen steht im Verfahren die ganze Zukunft des Angeklagten auf dem Spiel.
Also: Der Vater muss ja nicht mitverfolgen, wie versucht wird, das Schicksal seiner Tochter aufzuklären - wenn er das nicht ertragen kann, steht es ihm ja frei, zu gehen. Sehr einfühlsam!
Beim Angeklagten, so lautet die Botschaft, steht dagegen im Verfahren „die ganze Zukunft auf dem Spiel“. Das mag durchaus sein, nur: Sebastian T. hat noch eine Chance auf Zukunft. Hanna W. nicht, sie ist tot.
In die gleiche Kerbe schlägt auch @XluX. Er freut sich zwar, dass Richterin Will dem Angeklagten mit so viel Empathie begegnet, mokiert sich aber darüber, wie angeblich versucht wird, aus dem Leid der Eltern Kapital zu schlagen:
XluX schrieb:Das Problem ist aus meiner Sicht, dass man in diesem Fall das Leid der Eltern instrumentalisiert und so Stimmung gemacht hat.
Immer wenn es um Entscheidungen zugunsten von ST ging (die erfolgreiche Revision, das aussagepsychologische Gutachten, die Aufhebung des Haftbefehls), gab es in einer der Regionalzeitungen ein Statement vom Anwalt der Nebenklage, wie schlecht es den Eltern von H geht.
Nur tatsächlich - da bin ich der Meinung von @BoobSinclar - hat das eine absolut nichts mit dem anderen zu tun und sollte nie derart gegeneinander aufgerechnet werden.
Natürlich soll die Presse schreiben, was geschehen ist. Und natürlich darf sie auch über das Leid der Eltern schreiben. Schwierig wird es, wenn beides verquickt wird - und zwar mit dem Zweck, beim Leser Emotionen zu wecken gegenüber dem vermeintlichen Leidverursacher.
Wer also das unendliche Leid der Eltern beschreibt, der instrumentalisiert deren Schicksal? Wer darstellt, wie sehr Vater und Mutter W. jeden Tag ihre geliebte Tochter vermissen, wie sie psychiatrische Hilfe in Anspruch nehmen müssen, ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen konnten, wie ihr ganzes Leben aus den Fugen geraten ist, der betreibt Stimmungsmache? Ja, geht’s noch?!
Und was heißt die Bemerkung, das eine habe mit dem anderen nichts zu tun und dürfe nicht miteinander verquickt werden? Dass man das Leid der Eltern abkoppeln muss vom Gegenstand des Verfahrens, insbesondere von der Person des Angeklagten?
Meines Erachtens zeugen derlei Reaktionen von einer bedenklichen Schieflage - nicht nur in Bezug auf die Ausrichtung von Empathie, sondern auch mit Blick auf Ziel und Zweck des Verfahrens insgesamt. Eigentlich sollte es doch im Kern darum gehen, dass Schicksal von Hanna unvoreingenommen aufzuklären und ihren Tod -falls eine Gewalttat vorliegt- zu sühnen.
Zunehmend scheint sich jedoch das Bemühen darauf zu konzentrieren, den tatverdächtigen Angeklagten vor einer Verurteilung zu bewahren. Dass er noch als Täter in Betracht kommen könnte, wird mehr und mehr verdrängt - bei gleichzeitig nachlassender Würdigung des Leids auf Opferseite.