Verbessert "Open Science" die Qualität wissenschaftlicher Arbeiten?
19.01.2019 um 09:40Anzeige
Bei 93 Prozent aller medizinischen Studien an deutschen Unis werden die Ergebnisse nicht vorschriftsgemäß veröffentlicht. Das geht aus einer neuen Untersuchung hervor, die NDR, WDR und SZ vorliegt.
Von Markus Grill, NDR/WDR
Im Februar 2016 beendete die Berliner Charité eine Studie mit einem Medikament bei Patienten mit Multipler Sklerose. Im Dezember 2017 beendete die TU München eine Studie mit Insulin bei kleinen Kindern mit Diabetes. Und im März 2018 beendete die Medizinische Hochschule Hannover eine Studie mit einem neuen Medikament bei Krebspatienten, die nicht mehr operiert werden können.
Alle diese Studien haben eines gemeinsam: Ihre Ergebnisse wurden auch mehr als ein Jahr nach Abschluss der Tests nicht in der EU-Datenbank über Medizinstudien veröffentlicht. Das heißt: Ärzte weltweit, die nach solchen Informationen suchen, können sie nicht finden und deshalb ihre Patienten nicht nach dem neuesten medizinischen Wissen behandeln.
445 Studien nicht veröffentlicht
Die oben genannten Studien sind nur drei von insgesamt 445 Studien, deren Ergebnisse auch mehr als ein Jahr nach Studienende nicht in der EU-Datenbank veröffentlicht wurden. Das hat die britische Organisation Transparimed gemeinsam mit der deutschen BUKO Pharmakampagne herausgefunden. Sie haben dafür alle Studien ausgewertet, die seit 2004 von deutschen Universitäten bei der EU angemeldet wurden.
Die Ergebnisse ihrer Untersuchung wollen die beiden Organisationen heute veröffentlichen. NDR, WDR und "Süddeutsche Zeitung" konnten den Bericht vorab einsehen und konfrontierten betroffene Unis, Behörden und Wissenschaftler mit den Ergebnissen.
Demnach haben die 35 deutschen medizinischen Hochschulen nur sieben Prozent der Studienergebnisse in der EU-Datenbank EudraCT veröffentlicht. Das ist weit weniger als in anderen Ländern. Universitäten in Europa haben im Schnitt 63 Prozent der Studienergebnisse in der EU-Datenbank veröffentlicht, in den USA 69 Prozent.
Positive Ausnahmen
Eine positive Ausnahme bildet das Universitätsklinikum Münster: In der EU-Datenbank finden sich die Ergebnisse von 61 Prozent seiner Studien. Regensburg, Würzburg, Leipzig und Düsseldorf kommen immerhin auf 20 bis 30 Prozent. Doch 17 deutsche Universitäten teilen gar keine Ergebnisse ihrer Studien im europäischen Register.
Das Klinikum der Universität München schuldet der Öffentlichkeit Daten zu 29 Studien, die TU München zu 27 und die Medizinische Hochschule Hannover zu 26. Manche dieser Studien sind seit vielen Jahren beendet. Es geht dabei um Depressionen, Krebs, Parkinson und andere schwere Krankheiten.
Die meisten nicht-veröffentlichten Studienergebnisse in Deutschland leistet sich die Berliner Charité. Hier haben die Autoren der Untersuchung 68 Studien entdeckt, deren Ergebnisse auch ein Jahr nach Abschluss nicht in der EU-Datenbank veröffentlicht wurden.
Auf Anfrage verweist die Charité zwar auf das "berechtigte Interesse an einer zeitnahen Veröffentlichung der Resultate". Warum man aber nicht der Verpflichtung nachkomme, beantwortet die Sprecherin nicht konkret. Man strukturiere derzeit "alle Aktivitäten zu klinischen Studien" um, außerdem seien die angemahnten Studien "bereits auf internationalen Kongressen vorgestellt worden", heißt es.
Keine Verpflichtung?
Die Universität Freiburg, die der Untersuchung zufolge die Ergebnisse von 14 Studien nicht veröffentlicht hat, teilt auf Anfrage mit, dass die Veröffentlichung in der EU-Datenbank "sehr aufwändig" sei, weil "die Einzelergebnisse eingegeben werden müssen", außerdem gebe es "keine gesetzliche Verpflichtung" zur Veröffentlichung in der EU-Datenbank.
Das sieht das zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) jedoch anders. Es betont auf Anfrage, dass "alle relevanten ergebnisbezogenen Informationen […] in der EU-Datenbank […] öffentlich zugänglich sein müssen".
Erst im Juni habe das Institut gemeinsam mit den Behörden anderer Länder, der Europäischen Zulassungsbehörde (EMA) und der EU-Kommission die Leiter von klinischen Studien auf die nötige Veröffentlichung in der EU-Datenbank hingewiesen. Bereits im Jahr 2014 hatte die EMA betont, dass es verpflichtend sei, die Ergebnisse von klinischen Studien dort zu veröffentlichen.
Trotzdem reden sich auf Anfrage zahlreiche deutsche Universitäten damit heraus, die Veröffentlichung sei nicht verbindlich. Außerdem verweisen viele Unis darauf, sie würden die Ergebnisse in der deutschen Datenbank pharmnet.bund hochladen. Doch diese nimmt international kaum ein Forscher zur Kenntnis.
"Verzerrtes Wissen"
Jörg Schaaber von der Buko Pharmakampagne weist darauf hin, dass klinische Studien dazu dienen, die bestmöglichen Therapien zu finden. "Umso enttäuschender ist es, dass die meisten deutschen Universitäten es nicht schaffen, ihre Forschungsergebnisse in das EU-Register einzutragen." So werde das Wissen über Medikamente verzerrt.
"Das Ausmaß, in dem deutsche Universitäten ihre Ergebnisse nicht berichten, ist schockierend", meint Till Bruckner von Transparimed. Unveröffentlichte Studien schadeten nicht nur den Patienten, zugleich würden öffentliche Gelder verschwendet und das Vertrauen von Studienteilnehmern missbraucht.
In Großbritannien veröffentlichen die Unis mittlerweile 72 Prozent der Studienergebnisse binnen eines Jahres in der EU-Datenbank. Allerdings, sagt Bruckner, habe sich auch dort ein erheblicher Veröffentlichungswandel erst durchgesetzt, nachdem Medien kritisch berichtet hatten.
Konsequenzen gefordert
Der Chef des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), Jürgen Windeler, kritisierte, es würden nicht nur der Fachwelt Erkenntnisse vorenthalten, sondern auch Patienten. Das habe "unmittelbar eine praktische Relevanz".
Manchmal komme in Studien zum Beispiel heraus, dass ein Medikament nicht so gut wirkt, wie man zuvor gedacht habe, oder es habe mehr Nebenwirkungen, als man angenommen habe. "Alle diese Informationen sind für die Fachwelt von großer Bedeutung."
Arznei-Prüfer Windeler fordert Konsequenzen: Die öffentliche Förderung sollte davon abhängig gemacht werden, ob vorher durchgeführte Projekte in der vorgeschriebenen Weise veröffentlicht worden sind. "Und wenn sie das nicht sind, dann muss eben die Förderung solange ausgesetzt werden, bis die Ergebnisse da stehen, wo sie stehen sollten."
skagerak schrieb:Ich hätte einfach nur gerne mal Meinungen dazu gelesen.Ohne mich jetzt im Detail damit befasst zu haben: die "Entschuldigungen" der betroffenen Universitäten klingen für mich zwar einerseits schon ein wenig nach Ausrede, andererseits sind sie leider typisch für die Probleme, die unser Wissenschaftssystem momentan ganz grundlegend hat. Da müsste man meiner Meinung nach systemisch ansetzen, anstatt hier jetzt anhand einer Stichprobe Vorwürfe zu erheben.
bgeoweh schrieb:Ohne mich jetzt im Detail damit befasst zu haben: die "Entschuldigungen" der betroffenen Universitäten klingen für mich zwar einerseits schon ein wenig nach Ausrede, andererseits sind sie leider typisch für die Probleme, die unser Wissenschaftssystem momentan ganz grundlegend hat. Da müsste man meiner Meinung nach systemisch ansetzen, anstatt hier jetzt anhand einer Stichprobe Vorwürfe zu erheben.Wenn man die Prozentzahlen im Bericht vergleicht, scheint es aber eher ein deutsches Phänomen zu sein. Ich fürchte hier spielt das narrativ, dass man sich sehr gerne als Innovationsweltmeister ansieht und andere nur kopieren, eine große rolle. So eine massive Diskrepanz ist anders nicht zu erklären und es kann nur damit erklärt werden, dass es direktiven aus der Politik und Bürokratie gibt, so handzuhaben.
IngwerteeImke schrieb:Wenn man die Prozentzahlen im Bericht vergleicht, scheint es aber eher ein deutsches Phänomen zu sein. Ich fürchte hier spielt das narrativ, dass man sich sehr gerne als Innovationsweltmeister ansieht und andere nur kopieren, eine große rolle. So eine massive Diskrepanz ist anders nicht zu erklären und es kann nur damit erklärt werden, dass es direktiven aus der Politik und Bürokratie gibt, so handzuhaben.Nein, das ist aus dem deutschen Hochschulwesen heraus schlüssig zu erklären:
bgeoweh schrieb:die "Entschuldigungen" der betroffenen Universitäten klingen für mich zwar einerseits schon ein wenig nach Ausrede, andererseits sind sie leider typisch für die Probleme, die unser Wissenschaftssystem momentan ganz grundlegend hat. Da müsste man meiner Meinung nach systemisch ansetzen, anstatt hier jetzt anhand einer Stichprobe Vorwürfe zu erheben.Ich sehe da auch irgendwie gewissenlose Bequemlichkeit.
skagerak schrieb:Ich sehe da auch irgendwie gewissenlose Bequemlichkeit.Ja, aber bei den Politikern, nicht bei den Wissenschaftlern.
skagerak schrieb:Es gibt bei jeder Arbeit auch unbequeme Tätigkeiten, die aber nun mal gemacht werden müssen, ob nun produktiv oder nicht.Der durchschnittliche Doktorand verrichtet heute schon effektiv mehr Arbeit, als er gesetzlich dürfte, über 100% Arbeitszeit bei 50%-Stelle sind die Regel und werden erwartet. Es geht nicht darum, dass diese Leute die Arbeit nicht machen wollten, sie können es nicht mehr, weil sie eigentlich schon weit über der Belastungsgrenze ausgelastet sind. Sämtliche Organisationen und Vertretungen warnen und alamieren seit Jahren, wenn nicht sogar seit Jahrzehnten.
Und diesem speziellen Fall, ist es gar nicht so irrelevant mMn.
skagerak schrieb:Und im Zweifel muss man es eben so machen wie in anderen Ländern, mit Hilfskräften.Ja, und Hilfskräfte kosten Geld. Geld, nach dem die Universitäten schon lange flehend rufen, das ihnen aber niemand geben will. Überraschung Überraschung, eine Einrichtung die man jahrzehntelang mit Ansage und bewusst kaputtspart braucht ihre Reserven auf und funktioniert irgendwann nicht mehr.
bgeoweh schrieb:Geld, nach dem die Universitäten schon lange flehend rufen, das ihnen aber niemand geben will. Überraschung Überraschung, eine Einrichtung die man jahrzehntelang mit Ansage und bewusst kaputtspart braucht ihre Reserven auf und funktioniert irgendwann nicht mehr.Wenn das so ist, ziehe ich meinen Vorwurf natürlich zurück.
skagerak schrieb:Wenn das so ist, ziehe ich meinen Vorwurf natürlich zurück.Das Problem ist, dass diese Art Notstand mittlerweile schon so lange gärt, dass sie mehr oder weniger "Normalzustand" geworden ist und sie niemanden mehr interessiert. Ich kenne mich da auch nur aus, weil ich in dem speziellen Bereich mal zeitweise tätig war (Controlling in der Programmabwicklung).
Denn ist der Bericht ja nicht grad fair gestaltet.
bgeoweh schrieb:Das Problem ist, dass diese Art Notstand mittlerweile schon so lange gärt, dass sie mehr oder weniger "Normalzustand" geworden ist und sie niemanden mehr interessiert. Ich kenne mich da auch nur aus, weil ich in dem speziellen Bereich mal zeitweise tätig war (Controlling in der Programmabwicklung).Ja, oaky, wie in so vielen Bereichen der Bildung.
In vielen Bereichen stammen die Verwaltungsvorschriften und die Planungsansätze noch aus dem letzten Jahrtausend, und sind entsprechend nicht mehr zeitgemäß. Man hat es im schlechtesten Sinne mit "gewachsenen Strukturen" zu tun.
bgeoweh schrieb:Zusätzlich zu den ganzen gängigen Tätigkeiten (Posteingang/-ausgang, Kalenderführung, Terminverwaltung, Buchung und Stornierung von Reisen, Beschaffung von Büromaterial usw.) muss eine moderne "Lehrstuhlsekretärin" heute aber noch (zusätzlich) folgende Fähigkeiten mitbringen:Typisch, man muss völlig überqualifiziert sein, mit grad mal 20 jahren am besten 40 Jahre Berufserfahrung haben, und volles Engagement am liebsten ehrenamtlich.
bgeoweh schrieb:Die im Text als positives Beispiel genannten UK-Unis haben ganz andere Ausgangssituationen: dort zahlt ja jeder Student mehrere tausend Pfund Studiengebühren im Jahr, damit kann man natürlich auch ganz anders haushalten; bei den Top-Unis kommen noch riesige Stiftungsvermögen (mehrere hundert Millionen sind keine Seltenheit) dazu, die jährlich Erträge abwerfen. In Deutschland wird im Vergleich dazu mit lächerlich geringen Summen gearbeitet.Das ist eben das was man aus diesem Bericht eigentlich herauslesen sollte, diese Mißstände.
...
Tuidamo schrieb:Vllt hilft es ja jemand hier weiter.Danke für den Link. Bin gerade mit der Reportage durch ... und ich stimme dir zu, es ist beängstigend.
Und sollten Publikationen nicht zunächst durch kritische Peer-Review-Verfahren gegangen sein? Würden Gutachter ihre Arbeit machen, also deutlich höhere Ablehnungsquoten durchsetzen, dann verlöre auch das Problem der Replikation an Relevanz.Die zunehmend "positiv falschen" Ergebnisse bei Signifikanzprüfungen betreffen zwar weniger die Bereiche, wo eh hohe Standards und strikte Regularien zur Replizierbarkeit üblich sind, dennoch bringen diese "wertlosen Studien" zunehmend auch die anderen Wissenschaftsbereiche in Verruf.
Im Jahr 2020 entschieden sich 93% der Autorinnen und Autoren deutscher Institutionen, die im hybriden Zeitschriftenportfolio von Wiley publizieren, für Open Access.
Die Anzahl der Artikel, die in vollständig Open-Access-Zeitschriften veröffentlicht wurden, stieg von 2018 bis 2020 um 58%. Zusammen mit Open-Access-Publikationen in hybriden Zeitschriften ergab sich im Jahr 2020 insgesamt mehr als 10.000 Open-Access-Artikel aus Deutschland.
Die Nutzung von Forschungsergebnissen, die im gesamten Wiley-Portfolio veröffentlicht wurden, stieg zwischen 2018 und 2020 deutschlandweit um 45%.
Forscher aus mehr als 100 Institutionen erhielten durch den Deal Zugang zu Subskriptionsforschung.
Angaben von Springer Nature zufolge verzeichnet der Verlag signifikantes Wachstum bei den Artikeldownloads aus den DEALInstitutionen über alle Einrichtungstypen hinweg.Diese Zahlen machen schon mal Hoffnung, und ich denke der Elsevier-Verlag wird diese Entwicklung ebenfalls beobachten und hoffentlich die richtigen Schlüsse daraus ziehen. Derzeit liegen die Verhandlungen mit dem größten Verlag jedoch noch auf Eis.
Stichproben zu 7 Universitäten der sogenannten U15-Kategorie zeigen im zweiten Vertragsjahr 2021 einen Nutzungs-Zuwachs von über 80% im Vergleich zum Vorvertragszeitraum.